Die Zukunft der Musik­schule ist inklusiv

Öffent­li­che Musik­schu­len und das Manage­ment der Vielfalt

Das Jahr 2021: Auf der Home­page des Sta­tis­ti­schen Bun­des­amts steht geschrie­ben: 10 Mil­lio­nen Men­schen mit Behin­de­rung, 20 Mil­lio­nen Men­schen mit per­sön­li­cher Flucht­er­fah­rung, 1,6 Mil­lio­nen Men­schen mit Hoch­be­ga­bung, 17,5 Mil­lio­nen Men­schen, die älter als 65 Jahre sind, und 15,3 Mil­lio­nen Men­schen, die von Armut oder sozia­ler Aus­gren­zung bedroht sind, leben in Deutsch­land. Eine reprä­sen­ta­tive Umfrage des Start-ups Dalia aus dem Jahre 2017 zeigt, dass sich 7,4 Pro­zent der Deut­schen zu der LGBTQ-Com­mu­nity zäh­len. Die Auf­lis­tung von Diver­si­täts­aspek­ten ließe sich leicht fort­set­zen. Die Zah­len zei­gen: In Deutsch­land müs­sen sich kul­tur­bil­dende Ein­rich­tun­gen diver­si­täts­sen­si­bel und teil­ha­be­ori­en­tiert aufstellen.

Unsere Gesell­schaft ist divers – unser Gemein­we­sen folgt auf völ­ker­recht­lich ver­bind­li­cher Grund­lage den Ziel­set­zun­gen zu einer inklu­si­ven Gesell­schaft. Auch die öffent­li­chen Musik­schu­len müs­sen daher Diver­si­täts­ma­nage­ment und Inklu­sion als Grund­hal­tung auf­wei­sen und ent­spre­chend aus­ge­stal­ten, um jeder Per­son nicht nur Teil­habe und Teil­gabe an musi­ka­li­scher Bil­dung zu ermög­li­chen, son­dern das selbst­ver­ständ­li­che Teil-Sein jedes Men­schen zu rea­li­sie­ren. Viel­falt muss in den Musik­schu­len sicht­bar sein, unter den Schü­le­rin­nen und Schü­lern ebenso wie unter den Lehr- und Lei­tungs­kräf­ten. Jeder ein­zel­nen Musik­schule stellt sich die Auf­gabe zu prü­fen, ob sie alle Men­schen, die aktiv musi­zie­ren wol­len, nach Kräf­ten erreicht. Auf die­sen inklu­si­ven Weg haben sich die öffent­li­chen Musik­schu­len in Deutsch­land und ihr Fach­ver­band Ver­band deut­scher Musik­schu­len (VdM) seit meh­re­ren Jah­ren begeben.

Vor rund 40 Jah­ren begann die inklu­sive Arbeit des Ver­ban­des. Der sei­ner­zei­tige stell­ver­tre­tende Bun­des­vor­sit­zende des VdM, Wer­ner Probst, ehe­ma­li­ger Schul­lei­ter der Musik­schule Bochum und spä­te­rer Inha­ber des Lehr­stuhls Musik in der Son­der­päd­ago­gik an der Uni­ver­si­tät Dort­mund, eta­blierte den Berufs­be­glei­ten­den Lehr­gang „Instru­men­tal­spiel mit Men­schen mit Behin­de­rung an Musik­schu­len“. Im Jahr der letz­ten sta­tis­ti­schen VdM-Aus­wer­tung 2019 arbei­te­ten an 650 Musik­schu­len dies­be­züg­lich qua­li­fi­ziert aus­ge­bil­dete Lehr­kräfte mit 12.258 Schü­le­rin­nen und Schü­lern mit Ein­schrän­kun­gen bzw. beson­de­rem Förderbedarf.

Doch Inklu­sion bedeu­tet mehr als die Arbeit mit Men­schen mit Behin­de­rung. Bereits 2014 ver­ab­schie­dete der VdM die Pots­da­mer Erklä­rung als Mani­fest der inklu­si­ven Hal­tung an öffent­li­chen Musik­schu­len. Darin ver­tritt der Ver­band die Leit­idee einer inklu­si­ven Gesell­schaft, wie sie seit der Rati­fi­zie­rung der UN-Kon­ven­tion über die Rechte von Men­schen mit Behin­de­rung von 2009 umzu­set­zen ist.

Für die öffent­li­chen Musik­schu­len bedeu­tet dies kon­kret den Ein­stieg in einen inklu­si­ven Pro­zess, der eine Teil­habe aller Men­schen an musi­ka­li­schen Bil­dungs­mög­lich­kei­ten durch dis­kri­mi­nie­rungs­freie Ange­bote und ange­mes­sene Vor­keh­run­gen ermög­licht. Das Posi­ti­ons­pa­pier sieht vor, dass die weit­ge­hende Selbst­be­stim­mung jedes und jeder Ein­zel­nen als Ziel ange­strebt, die Indi­vi­dua­li­tät aller geach­tet und Viel­falt und Hete­ro­ge­ni­tät als Chance erkannt und genutzt wer­den. Dafür müs­sen die ver­schie­de­nen Bar­rie­re­frei­heits­be­darfe – bau­lich, struk­tu­rell, orga­ni­sa­to­risch, päd­ago­gisch, kul­tu­rell etc. – sub­stan­zi­ell mit­be­dacht werden.

Um die genann­ten Ziele in den Musik­schu­len zu errei­chen, rea­li­siert der VdM zur Unter­stüt­zung sei­ner Mit­glie­der Fort­bil­dun­gen und Fach­ta­gun­gen auf Bun­des­ebene zu ver­schie­de­nen The­men der Inklu­sion. Als bera­ten­des Gre­mium steht dem VdM der von ihm beru­fene Bun­des­fach­aus­schuss Inklu­sion zur Seite, der sich aus Exper­tin­nen und Exper­ten der ver­schie­de­nen Hand­lungs­fel­der einer inklu­si­ven Musik­schul­ent­wick­lung zusammensetzt.

Die Lan­des­ver­bände der Musik­schu­len in Bay­ern, Baden-Würt­tem­berg und Nord­rhein-West­fa­len haben mitt­ler­weile ein Netz­werk Inklu­sion auf­ge­baut. Jede Musik­schule des jewei­li­gen Bun­des­lan­des wurde gebe­ten, eine Ansprech­per­son für den Bereich Inklu­sion zu benen­nen. Diese wie­derum kön­nen sich bei regel­mä­ßig statt­fin­den­den Netz­werktref­fen aus­tau­schen und bera­ten. Mit­tel­fris­tig sol­len sich ähn­li­che Struk­tu­ren in allen Län­dern entwickeln.

Die Lan­des­ver­bände haben außer­dem mit unter­schied­li­chen Pro­jek­ten auf die ört­lich gepräg­ten Bar­rie­re­frei­heits­be­darfe reagiert. In Bay­ern, Schles­wig-Hol­stein und Baden-Würt­tem­berg wird in Zusam­men­ar­beit mit der Fach­hoch­schule Müns­ter der Hoch­schul­zer­ti­fi­kats­kurs Musik­ge­r­ago­gik ange­bo­ten. Nord­rhein-West­fa­len setzt seit vie­len Jah­ren den Fokus auf Diver­si­tät und Inter­kul­tur. Seit Okto­ber 2016 wer­den im Rah­men des Pro­jek­tes „Heimat:Musik“ Pro­jekte und Ange­bote mit Geflüch­te­ten unter­schied­li­cher Art wie Eltern-Kind-Kurse, Unter­stüt­zung beim Sprach­er­werb durch Chor- und Gesangs­an­ge­bote, Erst­un­ter­richt in Klein­grup­pen etc. durch­ge­führt – ähn­li­che Ange­bote gibt es an wei­te­ren Stel­len, etwa in Ham­burg. Der Lan­des­ver­band in Bran­den­burg rea­li­siert das För­der­pro­gramm des Lan­des Bran­den­burg „Musi­sche Bil­dung für alle“. Die­ses kon­zen­triert sich auf den mög­lichst frü­hen, dis­kri­mi­nie­rungs­freien und brei­ten Zugang zu musi­schen Bil­dungs­an­ge­bo­ten sowie die Eröff­nung von Bil­dungs- und Ent­wick­lungs­chan­cen für musisch Begabte. Durch das För­der­pro­gramm soll vor allem sozial benach­tei­lig­ten Kin­dern und Jugend­li­chen sowie Men­schen mit Behin­de­rung der Zugang zu musi­ka­li­scher und künst­le­risch-ästhe­ti­scher Bil­dung erleich­tert wer­den. Dies sind nur wenige der vie­len bun­des­wei­ten Bei­spiele aus den Landesverbänden.

Zukünf­tig wird der VdM also wei­ter auf Ver­net­zung im Bereich der Inklu­sion set­zen. Um die Musik­schu­len beim Pro­zess der inklu­si­ven Ent­wick­lung zu beglei­ten, soll mit Bera­tungs- und Wei­ter­bil­dungs­an­ge­bo­ten aus dem Feld des Diver­sity Manage­ments reagiert wer­den. Außer­dem ist Moni­to­ring ein Thema, um all­ge­mein den Sta­tus quo der inklu­si­ven Aus­rich­tung einer Musik­schule vali­dier­bar und ver­gleich­bar zu machen.

Inklu­sion bedeu­tet im Bereich von Musik­schu­len auch der mög­lichst bar­rie­re­freie Zugang zu Musik­schul­an­ge­bo­ten für Men­schen in sozial pre­kä­ren Lebens­si­tua­tio­nen. Die öffent­li­chen Musik­schu­len im VdM sind seit jeher durch die Mit­glied­schafts­be­din­gun­gen an Sozi­al­er­mä­ßi­gun­gen gebun­den: Der Leit­ge­danke, dass kein Kind, keine Jugend­li­che bzw. kein Jugend­li­cher von der Teil­ha­be­mög­lich­keit an musi­ka­li­scher Bil­dung auf­grund finan­zi­el­ler Bar­rie­ren aus­ge­schlos­sen sein darf, ist in den Gebüh­ren- und Ent­gelt­ord­nun­gen aller Mit­glieds­schu­len ver­an­kert. Trotz­dem muss die­ses Thema im Sinne auf­su­chen­der Kul­tur­ar­beit immer wie­der unter ver­än­der­ten Per­spek­ti­ven neu behan­delt werden.

Natür­lich müs­sen die Her­aus­for­de­run­gen der Pan­de­mie berück­sich­tigt wer­den: Viele Schu­len kämp­fen seit Früh­jahr 2020 mit den recht­li­chen Auf­la­gen, um über­haupt die Musik­schule in Betrieb zu hal­ten. Doch auch hier ist die Grund­hal­tung zur Inklu­sion – auch im Bereich offe­ner digi­ta­ler Ange­bote – ein wich­ti­ger Aspekt der Öff­nung von Musik­schu­len, denn die pan­de­mi­sche Ent­wick­lung hat noch mehr Men­schen in eine schwie­rige Lebens­lage gebracht und sozu­sa­gen wei­ter an den Rand der Gesell­schaft gedrückt.

Der VdM als Bun­des­ver­band wünscht für die Zukunft, dass es gelingt, die Viel­falt der Bevöl­ke­rung Deutsch­lands in den öffent­li­chen Musik­schu­len noch sicht­ba­rer und selbst­ver­ständ­li­cher zu machen. Um dies zu errei­chen, bedarf es poli­ti­scher Beschlüsse und Unter­stüt­zung, auf deren Basis die Musik­schu­len als kul­tur­bil­dende Instan­zen inklu­sive Struk­tu­ren wei­ter­ent­wi­ckeln und Vor­ha­ben dann gemein­sam umset­zen können.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2021.

Von |2021-09-02T17:03:20+02:00September 2nd, 2021|lnklusion|Kommentare deaktiviert für

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Öffent­li­che Musik­schu­len und das Manage­ment der Vielfalt

Matthias Pannes ist Bundesgeschäftsführer des Verbands deutscher Musikschulen. Britta Renes ist Mitarbeiterin für die Bereiche Fortbildungen, Tagungen, Inklusion und Musiktherapie im Verband deutscher Musikschulen.