„Behin­derte Men­schen wer­den in Deutsch­land ignoriert“

Raul Kraut­hau­sen im Gespräch

Als Autor, Mode­ra­tor und Akti­vist ist Raul Kraut­hau­sen im Ein­satz für eine bar­rie­re­freie und inklu­sive Gesell­schaft durch Akzep­tanz und Inno­va­tion. Unse­rer Gesell­schaft stellt er dabei ein wenig rühm­li­ches Zeug­nis aus. Lesen, zuhö­ren, anpa­cken – es gibt noch viel zu tun.

Hans Jes­sen: Herr Kraut­hau­sen, vor drei Jah­ren haben wir ein Inter­view für Poli­tik & Kul­tur geführt. Da sag­ten Sie, dass Ihnen der Begriff „Inte­gra­tion“ in Bezug auf behin­derte Men­schen eigent­lich nicht gefällt – weil das so klinge, als biete die Mehr­heits­ge­sell­schaft einer Min­der­heit etwas an – obwohl das deren selbst­ver­ständ­li­ches Recht sei. Gilt das immer noch?
Raul Kraut­hau­sen: Ich werde häu­fi­ger gefragt: „Wie weit sind wir denn gekom­men, hat sich etwas ver­än­dert?“ Als jemand, der täg­lich auf Bar­rie­ren und Hin­der­nisse stößt, klingt die Wie­der­ho­lung der Frage nach drei Jah­ren fast ver­mes­sen. Das ist jetzt keine Kri­tik an Ihnen, aber manch­mal sehe ich hin­ter sol­chen Fra­gen bei Nicht­be­hin­der­ten den Wunsch: „Es muss jetzt doch auch mal fer­tig sein, wir müss­ten doch schon längst wei­ter sein, was beschwert ihr euch, denn immer noch … „

Zu glau­ben, dass behin­derte Men­schen jetzt gehört wer­den, deu­tet eher auf nicht aus­rei­chende Beschäf­ti­gung mit dem Thema „Behin­de­rung“ hin. Behin­derte Men­schen wer­den in Deutsch­land igno­riert, das Thema „Inklu­sion“ wird fast aus­schließ­lich von nicht­be­hin­der­ten Men­schen domi­niert und dis­ku­tiert. Zu glau­ben, nach drei Jah­ren wären maß­geb­li­che Fort­schritte erreicht, ist naiv. Auf die Frage: Wie weit sind wir denn mit der Inklu­sion? gibt es genauso wenig eine Ant­wort wie auf die Frage: Wie weit sind wir denn mit den Frauenrechten?

Inklu­sion wie auch Inte­gra­tion sehe ich als dau­er­hafte „Bau­stel­len“, ohne defi­nier­bare End­punkte. Eben des­we­gen inter­es­siert mich, ob es in Ihrer Wahr­neh­mung in den ver­gan­ge­nen Jah­ren rele­vante Ver­än­de­run­gen gab.
Außer super vie­len Lip­pen­be­kennt­nis­sen hat sich wenig ver­än­dert. Wenn wir von der Kul­tur- oder Medi­en­bran­che reden: Da gab es ver­ein­zelt Situa­tio­nen, in denen behin­derte Men­schen auf­tau­chen oder auch mal die Füh­rung eines Pro­jekts haben – aber das sind so wenige, dass es nicht als sys­tem­ver­än­dernd gel­ten kann. Der angel­säch­si­sche Raum ist, auch im Sinne des Selbst­be­wusst­seins behin­der­ter Men­schen, wesent­lich wei­ter. Wenn man sich anschaut, wie viele Serien Net­flix raus­haut, in denen behin­derte Men­schen die Haupt­rol­len spie­len, in denen das Thema „Behin­de­rung“ nicht in den Kate­go­rien von Super­held oder Sor­gen­kind, son­dern als nor­ma­les Ele­ment bei­läu­fig behan­delt wird – davon kann sich die Bran­che in Deutsch­land eine Scheibe abschneiden.

Im Ver­lauf der Tagung „Kul­tur braucht Inklu­sion – Inklu­sion braucht Kul­tur“, die vom Deut­schen Kul­tur­rat mit­or­ga­ni­siert wurde, wurde auch über Ihre Kri­tik an der Gleich­set­zung von „Par­ti­zi­pa­tion“ mit „Teil­habe“ gespro­chen. Dem müsse eine „Teil­gabe“ gegen­über­ge­stellt wer­den, sagen Sie. Was bedeu­tet das?
Es ist ver­gleich­bar mit den Begrif­fen „Inklu­sion“ und „Inte­gra­tion“. „Inte­gra­tion“ meint im Prin­zip nur, dass die Mehr­heits­ge­sell­schaft ein biss­chen Platz macht für die Min­der­heit – damit exis­tiert aber auch ein per­ma­nen­tes Macht­ge­fälle, die Min­der­heit muss per­ma­nent dank­bar sein für die Hilfe, die die Mehr­heits­ge­sell­schaft ihr bie­tet. Wie viel Platz gemacht wird, defi­niert die Mehr­heits­ge­sell­schaft. „Inklu­sion“ dage­gen bedeu­tet, es gibt weder Mehr­hei­ten noch Min­der­hei­ten – wir sind ein­fach unter­schied­lich. Das zu akzep­tie­ren würde eine Gesell­schaft bedeu­ten, in der jeder seine Poten­ziale ent­fal­ten kann. „Par­ti­zi­pa­tion“ wäre dann nicht Teil­habe, weil ich als behin­der­ter Mensch im Publi­kum sitze und klat­sche und man hält das für Inklu­sion. Par­ti­zi­pa­tion und Inklu­sion muss auch bedeu­ten, dass ich als Mensch mit Behin­de­rung die Mög­lich­keit habe, auf der Bühne zu ste­hen und auf der Lein­wand zu erschei­nen. Das setzt vor­aus, dass man auch Zugang zum Aus­bil­dungs­be­trieb in Kunst und Kul­tur bekommt.

Sie haben – als Inklu­si­ons­ak­ti­vist – erklärt, die Coro­na­pan­de­mie und ihre Aus­wir­kun­gen, die den Kul­tur­sek­tor ja mit beson­de­rer Härte tref­fen, seien ein tem­po­rä­res Pro­blem. In den ver­gan­ge­nen andert­halb Jah­ren wur­den zur Pan­de­mie­fol­gen­be­kämp­fung Mil­li­ar­den­sum­men in einem Umfang gene­riert, die zuvor für völ­lig unmög­lich gehal­ten wur­den. Ist davon etwas in spe­zi­fi­scher Weise Men­schen mit Behin­de­rung zugutegekommen?
Das könnte ich nicht bezif­fern. Mir macht etwas ande­res Sorge: Ich befürchte, dass die Digi­ta­li­sie­rung, die wir durch die Pan­de­mie erfah­ren haben, weit­ge­hend wie­der zurück­ge­schraubt wer­den wird. Wenn Uni­ver­si­tä­ten oder Arbeit­ge­ber wie­der die Wahl haben, wer­den sie wohl wie­der in die Prä­senz zurück­ge­hen und online abschaf­fen. Das wird viele Men­schen erneut aus­schlie­ßen. Oder dass online zwar erhal­ten bleibt – aber nur für die Men­schen mit Behin­de­rung, als „digi­ta­ler Kat­zen­tisch“, an dem sie Platz neh­men dür­fen. Sie hät­ten dann wie­der nicht die Wahl, ob sie in Prä­senz oder online teil­neh­men, son­dern man sagt ihnen: „Ah, du bist behin­dert? Na, dann mach doch digi­tal mit.“

Diese Par­ti­zi­pa­tion ist aber eine andere, als wenn ich vor Ort prä­sent bin. So kön­nen sich Ver­ant­wort­li­che auch wie­der davor drü­cken, einen Auf­zug zu bauen, um behin­der­ten Men­schen die phy­si­sche Teil­nahme zu ermöglichen.

Digi­ta­li­sie­rung sollte also auch nach der Pan­de­mie erhal­ten blei­ben, sie ergänzt sich mit mate­ri­el­ler Bar­rie­re­frei­heit. Gleich­wohl kann Digi­ta­li­sie­rung auch neue Aus­schlüsse pro­du­zie­ren: Wenn wir alle uns nur noch in Video­kon­fe­ren­zen tref­fen, wer­den Gehör­lose aus­ge­schlos­sen, wo es keine Gebär­den­dol­met­scher gibt. Oder wenn Sie auf dem Land leben, wo das Inter­net schwach ist.

Tech­no­lo­gie kann groß­ar­tige Zugänge eröff­nen, sie kann aber auch Zugänge verschließen.

Wel­che posi­ti­ven Mög­lich­kei­ten für Men­schen mit Behin­de­rung sehen Sie über die genann­ten Bei­spiele hinaus?
Da ent­ste­hen auch neue Märkte. Z. B. wenn Unter­ti­tel pro­du­ziert wer­den müs­sen oder wenn Audio-Tran­skrip­tio­nen von Videos gemacht wer­den. Das ist Arbeit, die zu leis­ten ist. Es wäre gut, wenn bei Men­schen, die auf diese Nach­fra­gen reagie­ren, ein Bewusst­sein für sol­che neuen Märkte ent­steht. In den USA ist zu beob­ach­ten, dass durch die ver­mehr­ten Video­kon­fe­ren­zen mehr Gebär­den­dol­met­sche­rin­nen und -dol­met­scher benö­tigt wer­den, die müs­sen aus­ge­bil­det wer­den. Die­sen Markt gibt es in Deutsch­land bis­lang kaum.

In der schon ange­spro­che­nen Kon­fe­renz berich­tete die Prä­si­den­tin der Klas­sik Stif­tung Wei­mar, Ulrike Lorenz, dass bei der kon­zep­tio­nel­len Neu­auf­stel­lung der Stif­tungs­an­ge­bote inklu­sive Gestal­tung von Anfang an als Kri­te­rium eine Rolle spiele und nicht erst nach­träg­lich drauf­ge­setzt werde. Wie bewer­ten Sie diese Herangehensweise?
Ich würde sie an ihren Taten mes­sen wol­len, ehe ich anfange zu loben. So etwas sagen ja erst mal viele. Es sind oft Lip­pen­be­kennt­nisse, die schnell schei­tern, wenn es um Geld oder um Denk­mal­schutz geht. Oder um Brand­schutz, wenn am Ende wie­der nicht­be­hin­derte Men­schen ent­schei­den: „Ja, dann las­sen wir das halt.“ Wer beglei­tet sol­che Pla­nungs­pro­zesse? Sind es – wie so häu­fig – zu hun­dert Pro­zent Men­schen ohne Behin­de­rung, die dann wie­der nur an die Rampe den­ken, aber nicht daran, wie es gehör­lo­sen Men­schen geht? Es gibt eine Art „Ver­ges­sen­heit im Alltag“.

Ich habe ein­fach schon zu viele Lip­pen­be­kennt­nisse gehört und zu viel gese­hen, als dass ich bei Ankün­di­gun­gen gleich Lob ver­tei­len kann. Und – das ist über­haupt keine Kri­tik an Frau Lorenz – man muss natür­lich auch die Frage stel­len: Warum erst jetzt? Wir leben im 21. Jahr­hun­dert, es war und ist unglaub­lich viel Geld im Sys­tem – was habt ihr in den ver­gan­ge­nen 100 Jah­ren gemacht?

Viel­leicht gab es in den ver­gan­ge­nen 100 Jah­ren zu wenig Mög­lich­kei­ten für Akti­vis­ten wie Sie, auch mit moder­nen Medien Öffent­lich­keit her­zu­stel­len. Sie machen einen eige­nen Pod­cast, geben ein Maga­zin her­aus, ver­lin­ken unter „Die Neue Norm“ aktu­elle Infor­ma­tio­nen zum Thema Inklu­sion und Behin­de­rung. Wen errei­chen Sie damit? Hat das zuneh­mende Wir­kung über einen enge­ren Kreis von Inter­es­sen­tin­nen und Inter­es­sen­ten hinaus?
Akti­vis­ten wie mich gab es schon immer – aber man konnte sie offen­bar auch immer ignorieren.

Wir ver­su­chen, mit unse­ren Infor­ma­tio­nen Brü­cken zu schla­gen zu ande­ren, reich­wei­ten­star­ken Medi­en­part­nern. Das ist nicht leicht, weil das Thema „Inklu­sion“ vie­len nach wie vor fremd ist, viele mei­nen auch, keine eige­nen Berüh­rungs­punkte dazu haben zu müssen.

Oft tra­gen wir Eulen nach Athen – wir infor­mie­ren sehr stark unsere eigene Com­mu­nity und ein paar neu hin­zu­kom­mende Inter­es­sierte. Unsere Arbeit ist auch der Ver­such, Wis­sen zu tei­len. Wis­sen aus ande­ren Län­dern, aus ande­ren Com­mu­ni­ties, um Men­schen auf neue Ideen kom­men zu lassen.

Ich merke schon, dass die Bei­träge auch gele­sen wer­den von Ver­ant­wort­li­chen in Unter­neh­men und in der Poli­tik, die erst durch sol­che Infor­ma­tio­nen auf die Idee kom­men, sich mit dem Thema „Inklu­sion“ inten­si­ver auseinanderzusetzen.

Ein Pro­blem der deut­schen Mehr­heits­ge­sell­schaft ist, dass sie behin­derte Men­schen immer noch haupt­säch­lich in Ein­rich­tun­gen ver­mu­tet: Behin­der­ten­werk­stät­ten, Behin­der­ten­wohn­hei­men, behin­derte Rei­se­gruppe, Tanz­gruppe, Musikgruppe.

Sie wer­den so gut wie nie erlebt als Indi­vi­duen: als Men­schen, die in eige­nen vier Wän­den woh­nen, als Men­schen, die einen Beruf aus­üben, die Hob­bys oder Lei­den­schaf­ten nach­ge­hen. Die Wahr­neh­mung als Grup­pen­an­ge­hö­rige führt dazu, dass behin­derte Men­schen als Indi­vi­duen ver­ges­sen wer­den. Auch von Poli­ti­kern, die Ent­schei­dun­gen zu tref­fen haben.

Ihr zen­tra­les Plä­doyer scheint zu sein, dass über­all dort, wo es um Ent­schei­dun­gen geht, die mit Inklu­sion zu tun haben, Behin­derte von Anfang an mit am Tisch sit­zen und Ent­schei­dungs­rechte haben müs­sen, weil sie über die wirk­li­che Exper­tise verfügen.
Abso­lut. Ebenso, wie auch Frauen in alle Ent­schei­dungs­pro­zesse ein­be­zo­gen wer­den müs­sen, wenn wir eine gemein­same Gesell­schaft gestal­ten wol­len. Und so wie Frauen nicht nur bei spe­zi­fi­schen „Frau­en­the­men“ ein­zu­be­zie­hen sind, son­dern bei der gesam­ten Band­breite der Ent­schei­dun­gen, gilt das für behin­derte Men­schen glei­cher­ma­ßen. Dabei kön­nen doch neue, groß­ar­tige Ideen her­aus­kom­men. Men­schen mit Behin­de­rung haben nicht nur etwas zu „Behin­der­ten­fra­gen“ zu sagen. Sie haben eine ganz eigene Per­spek­tive auf Gesell­schaft, deren Kennt­nis für die ganze Gesell­schaft wich­tig und nütz­lich ist.

Das Min­deste, wenn es um Bar­rie­re­frei­heit und Inklu­sion geht, sollte sein, dass dazu vor­ran­gig oder sogar aus­schließ­lich Men­schen mit Behin­de­rung gefragt wer­den, und nicht, wie es jetzt meis­tens der Fall ist, aus­schließ­lich Men­schen ohne Behinderung.

Pla­ka­tiv gefragt: Wel­che zwei oder drei Maß­nah­men sehen Sie als vor­dring­lich, um die Situa­tion behin­der­ter Men­schen im Kul­tur­be­reich zu verbessern?
Quo­ten könn­ten hilf­reich sein. So wie Frau­en­quo­ten die Prä­senz von Frauen ver­bes­sern, kön­nen das auch Quo­ten für Men­schen mit Behin­de­rung. Bei­spiels­weise, wenn Kon­fe­ren­zen oder Fes­ti­vals ver­an­stal­tet wer­den. Min­dest­quo­ten von behin­der­ten Men­schen bei den Akteu­ren wür­den für Sicht­bar­keit sorgen.

Hilf­reich wäre auch, wenn Cas­ting- und Boo­king-Agen­tu­ren, all die, die Daten­ban­ken für Künst­le­rin­nen und Künst­ler betrei­ben, viel mehr auf Viel­falt in ihrem Port­fo­lio ach­ten, sodass sie bei Anfra­gen von Pro­duk­ti­ons­fir­men auch gezielt Vor­schläge machen kön­nen und Men­schen mit Behin­de­rung empfehlen.

Es sind kleine Stell­schrau­ben, die Gro­ßes bewir­ken können.

Wenn die Sicht­bar­keit steigt, ent­steht viel­leicht auch ein Markt für die Aus­bil­dung behin­der­ter Schau­spie­ler, den es der­zeit nicht gibt.

Ein Punkt, der mir noch wich­tig ist: Oft höre ich von Ver­ant­wort­li­chen den Satz, man dürfe das Publi­kum nicht über­for­dern. Sie wür­den es nicht ver­ste­hen, wenn behin­derte Men­schen hier­für oder dafür ein­ge­setzt wür­den. Den Satz halte ich für falsch. Man ver­kauft das Publi­kum für bor­niert und ver­steckt sich dahinter.

Sol­che Vor­ur­teile sind die älteste Form von Behin­de­rung. Ich denke, dass in der Rea­li­tät das Publi­kum sehr viel wei­ter und auch bereit ist, sich auf Ange­bote einzulassen.

Wenn ich in ein Thea­ter gehe und mir ein Stück angu­cken will, dann bin ich doch auch bereit für Neues. Zu behaup­ten, der Ein­satz von behin­der­ten Men­schen über­for­dere das Publi­kum, ist ein­fach nur arrogant.

Vie­len Dank.

Die­ses Inter­view ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2021.

Von |2021-09-02T17:07:20+02:00September 2nd, 2021|lnklusion|Kommentare deaktiviert für

„Behin­derte Men­schen wer­den in Deutsch­land ignoriert“

Raul Kraut­hau­sen im Gespräch

Raul Krauthausen ist Autor, Moderator und Inklusionsaktivist. Hans Jessen ist freier Publizist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.