Medi­en­diät

Schluss mit Dau­er­kon­sum und Dauererregung 

Ein Para­dox unse­rer Zeit lau­tet: Mit dem Medi­en­kon­sum nimmt auch die Medi­en­kri­tik zu. Anders gesagt: Je mehr die eigene Welt­sicht durch unmä­ßige Medi­en­nut­zung bestimmt ist, umso eher ist man geneigt, „die Medien“ für alle Übel der Gegen­wart ver­ant­wort­lich zu machen. Das ist ein Lei­den der Corona-Zeit: Es gibt zu wenig reale Kon­takte, echte Gesprä­che mit ande­ren Men­schen aus Fleisch und Blut, direkte Ein­sich­ten in andere Lebens­wel­ten und Begeg­nun­gen mit frem­den Welt­sich­ten. Statt­des­sen sitzt man vor Bild­schir­men, liest und hört, guckt und skippt, klickt und wischt – und denkt sich: „Ach, diese schreck­li­chen Medien!“

Ich könnte es auch mit Rilke sagen: „Mein Blick ist vom Vor­über­ge­hen der Bil­der / so müd gewor­den, daß ihn nichts mehr hält. / Ihm ist, als ob es tau­send Medien gäbe / und hin­ter tau­send Medien keine Welt. // Nur manch­mal schiebt der Vor­hang der Pupille / sich laut­los auf—. Dann geht ein Bild hin­ein, / geht durch der Glie­der ange­spannte Stille— / und hört im Her­zen auf zu sein.“

Auch hier hat die Pan­de­mie einer eigent­lich bekann­ten Grund­tat­sa­che des moder­nen Lebens eine unge­heure Dyna­mik ver­lie­hen: Wir leben nicht nur in die­ser Welt, son­dern vor allem in all den Medien, die über diese Welt berich­ten. Das hat unse­ren Hori­zont unend­lich erwei­tert, kann aber auch zu Blick­ver­en­gun­gen füh­ren. Denn Medien sind mäch­tige Akteure, die eige­nen Logi­ken fol­gen. Sie wol­len schnell sein, um aktu­ell zu berich­ten. Sie brau­chen Auf­merk­sam­keit, die sich am ehes­ten durch Laut­stärke und den Appell an eher nie­dere Instinkte errei­chen lässt: Empö­rungs­be­reit­schaft bei­spiels­weise oder Amü­sier­be­dürf­tig­keit. Eigent­lich weiß man nur zu gut, dass alle wich­ti­gen The­men im Leben nicht so ein­fach sind, son­dern kom­plex und mehr­deu­tig. Auch sind sie zumeist gar nicht so auf­re­gend, son­dern eher anstren­gend. Man bräuchte Zeit und Geduld, um sie zu ver­ste­hen und eine Hal­tung zu ihnen zu ent­wi­ckeln. Aber wann brächte man das schon auf? So wen­det man sich lie­ber wie­der den Medien zu, um gleich wie­der von ihnen ent­täuscht zu werden.

Über­haupt, wer sind über­haupt „die“ Medien, über die sich alle zu erre­gen schei­nen. Nun gut, man kennt sie aus Zei­tun­gen, Funk, Fern­se­hen und die­sem Inter­net. Aber sie sind doch sehr unter­schied­lich. Es gibt gute und schlechte, bil­lige und ernst­hafte, sach­li­che und ten­den­ziöse, nie­der­träch­tige und freund­li­che. Es gibt
z. B. „Poli­tik & Kul­tur“, wo man Infor­ma­tio­nen erhält, die man andern­orts nicht fin­det, und dies gut recher­chiert und ohne bil­lige Effekte. Lei­der gibt es auch die ande­ren. Um mit ihnen bes­ser fer­tig zu wer­den, habe ich in der Corona-Zeit für mich ein Drei-Schritte-Pro­gramm ent­wi­ckelt, das mir hilft, aus dem Dau­er­kon­sum von Medien und der Dau­er­er­re­gung über Medien aus­zu­stei­gen. Hier also meine Regeln für eine heil­same Mediendiät.

Als Ers­tes sollte man sich ange­wöh­nen, Texte in dem Tempo zu lesen, in dem sie ver­mut­lich ver­fasst wor­den sind. Es reicht also, die aller­meis­ten Mel­dun­gen oder Kurz­kom­men­tare zu über­flie­gen und nach spä­tes­tens einer hal­ben Stunde inner­lich zu löschen. Das Tolle bei Twit­ter-Nach­rich­ten ist, dass man sie sogar schon wäh­rend des Lesens ver­ges­sen kann.

Als Zwei­tes sollte man sich ange­wöh­nen, Bil­dern zu miss­trauen. Sie sprin­gen einen immer so an und hal­ten doch zumeist nicht, was sie ver­spre­chen. Einen unmit­tel­ba­ren Wirk­lich­keits­ein­druck ver­mit­teln sie eben nicht, son­dern nur ein viel­fach gefil­ter­tes und ver­zerr­tes Image. Und da man schon beim Miss­trauen ist, sollte man sogleich auch den eige­nen Gefüh­len mit grö­ße­rer Skep­sis begeg­nen, die durch bestimmte Nach­rich­ten­bil­der aus­ge­löst werden.

Als Drit­tes sollte man ver­su­chen, bestimmte Medien ein­fach gar nicht mehr zu kon­su­mie­ren. Das sagt sich so ein­fach und ist es auch. Ich habe es selbst erfolg­reich ver­sucht. Von heute auf mor­gen habe ich auf­ge­hört, einige sehr erfolg­rei­che Nach­rich­ten-Web­sites zu besu­chen. Auch Talk­shows schaue ich nicht mehr, keine ein­zige. Seit­her geht es mir viel besser.

Zum Schluss noch eine wich­tige Unter­schei­dung: Diät ist etwas ande­res als Askese. Sie besteht nicht in einem unmensch­li­chen Ver­zicht, son­dern in der Ein­übung eines mensch­li­chen Maßes. Ziel ist ein Weni­ger, das mehr wert ist, weil es Zeit und Raum schafft für Wich­ti­ge­res, bei­spiels­weise für stil­lere Gedan­ken und lang­sa­mere Gefühle wie Geduld, Gelas­sen­heit, Erge­bung, Ernst, Zunei­gung, Heiterkeit.

Das nun wäre der Segen, der auf dem Ende der Pan­de­mie-Bestim­mun­gen lie­gen könnte: End­lich geht es wie­der raus, ins Freie, zu eige­nen Erfah­run­gen und direk­ten Gesprä­chen mit ech­ten Men­schen, weg vom nur medial Vermittelten.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 07-08/2021.

Von |2021-07-01T11:52:07+02:00Juli 1st, 2021|Medien|Kommentare deaktiviert für

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Schluss mit Dau­er­kon­sum und Dauererregung 

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.