Mehr Distanz­be­wusst­sein, weni­ger Identifikation

Pro­ble­ma­ti­sche Tra­di­tion des Gedenkens

Also, um das ein­mal klar­zu­stel­len: Ich bin nicht Sophie Scholl. Diet­rich Bon­hoef­fer bin ich übri­gens eben­falls nicht, auch nicht Hel­muth James Graf von Moltke oder gar Claus Schenk Graf von Stauf­fen­berg. Warum musste das ein­mal gesagt werden?

Es gibt in Deutsch­land eine lange und pro­ble­ma­ti­sche Tra­di­tion, unse­rer weni­gen Wider­stands­kämp­fer gegen die NS-Dik­ta­tur und der christ­li­chen Mär­ty­rer aus die­ser Zeit in einer ver­ein­nah­men­den Weise zu geden­ken. Man hebt sie auf ein Podest, glät­tet ihre Gesichts­züge, ver­wan­delt ihre zer­ris­se­nen Bio­gra­fien in erbau­li­che Legen­den, ver­ehrt sie andäch­tig und macht sie sich dabei selbst zunutze, gebraucht sie, um unter Beru­fung auf ihre hei­li­gen Namen eigene Anlie­gen zu beför­dern. So weit, so bekannt.

Der ein­hun­dertste Geburts­tag von Sophie Scholl gibt Anlass, dar­über neu nach­zu­den­ken. Um junge Men­schen für ihre Geschichte zu inter­es­sie­ren, star­te­ten der Süd­west­deut­sche und der Baye­ri­sche Rund­funk den Insta­gram-Kanal „@ichbinsophiescholl“. Ins­ge­samt zehn Monate lang soll er täg­lich neue Erin­ne­rungs- und Ver­ge­gen­wär­ti­gungs­ge­schich­ten lie­fern. Die beliebte Schau­spie­le­rin Luna Wend­ler, wie soll man sagen, spielt dabei die Rolle einer in der Gegen­wart leben­den Sophie, ver­bin­det so die Erin­ne­rung an deren letzte, ent­schei­dende Monate mit Asso­zia­tio­nen zu heu­ti­gen Erfah­run­gen und Fra­gen. In der Tat, das Kon­zept geht auf, wenn man die Zah­len der Fol­lower betrach­tet. Die Sen­der sind vol­ler Stolz und Freude: Die­ses „digi­tale Leucht­turm-Pro­jekt unter­mau­ert den Anspruch, dass öffent­lich-recht­li­ches Pro­gramm jen­seits von linea­ren Abspiel­we­gen funk­tio­niert und sich behaup­ten wird“. Warum nur beschleicht mich dabei ein Unwohlsein?

Ich muss zuge­ben, dass ich die Inhalte die­ses Kanals nur ober­fläch­lich wahr­ge­nom­men habe. Jün­gere Fami­li­en­mit­glie­der haben mir aus­drück­lich ver­bo­ten, mich bei Insta­gram anzu­mel­den – „zu alt“ –. Aber ich habe Anfang die­ses Jah­res die beein­dru­ckende Scholl-Bio­gra­fie „Es reut mich nichts“ mei­nes Kol­le­gen Robert Zoske gele­sen und in mei­nem Pod­cast „Drau­ßen mit Claus­sen“ mit ihm über ange­mes­sene und pro­ble­ma­ti­sche For­men des Geden­kens gespro­chen. Bei der Lek­türe ist mir vor allem auf­ge­gan­gen, wie weit Sophie Scholl von jun­gen Men­schen heute ent­fernt ist. An einem Detail wird dies beson­ders deut­lich: ihrem höchst skru­pu­lö­sen, von reli­giö­sen und sozia­len Hem­mun­gen bestimm­ten Ver­hält­nis zur eige­nen Sexua­li­tät. Des­halb schreibt Zoske gegen eine lange Tra­di­tion der Glät­tung und Ver­ein­nah­mung an und ent­wirft so das „Por­trät einer Wider­stän­di­gen“, einer sen­si­blen, klu­gen, wider­sprüch­li­chen, from­men, anstren­gen­den, muti­gen jun­gen Frau, die einen lan­gen Weg zurück­le­gen musste, bis sie sich ent­schie­den hatte: Ich schweige nicht! Wer ihrer geden­ken will, sollte sich des Abstands bewusst sein, der zwi­schen ihr und uns liegt. Das ist schlicht ein Zei­chen des Respekts ihr gegen­über und einer von Demut gepräg­ten Selbsteinschätzung.

Zudem ist es doch sehr die Frage, ob der guten Sache damit gedient ist, wenn man Sophie Scholl heute viele „Fol­lower“ ver­schafft. Eine mora­li­sche Per­son wird man nicht, wenn man fer­nen Hel­din­nen digi­tal nach­läuft. Man sollte ler­nen, das eigene Gewis­sen zu bil­den, Unrecht in der eige­nen Umge­bung wahr­zu­neh­men und sich dann sei­nes Mutes bedie­nen, um sich dage­gen zu engagieren.

Warum ich dar­auf so insis­tiere? Der gut gemeinte Insta­gram-Kanal „@ichbinsophiescholl“ ist nicht allein. Par­al­lel zu ihm sind poli­tisch anders gerich­tete, aber struk­tu­rell ähn­li­che Ansätze zu beob­ach­ten, Sophie Scholl und andere Mär­ty­rer zu ver­ein­nah­men. Noch ist der Auf­tritt einer ver­wirr­ten jun­gen Frau bei einer Quer­den­ker-Demons­tra­tion nicht ver­ges­sen. Zudem sind die Neuen Rech­ten hier sehr aktiv. Einige beru­fen sich seit Jah­ren auf Claus Schenk Graf von Stauf­fen­berg, um so den Ein­druck zu erwe­cken, der eigene Radi­kal­na­tio­na­lis­mus habe mit der NS-Dik­ta­tur nichts zu tun. Vor weni­gen Jah­ren began­nen US-ame­ri­ka­ni­sche Trum­pis­ten damit, Diet­rich Bon­hoef­fer für sich zu rekla­mie­ren. Kürz­lich hat ein neu-rech­ter Ideen-Poli­ti­ker sogar einen digi­ta­len Jochen Klep­per-Abend veranstaltet.

Doch will ich mich dar­über nicht nur empö­ren, son­dern frage mich, ob mein libe­ral­pro­tes­tan­ti­sches Milieu nicht eine gewisse Mit­schuld an sol­chen Ver­ein­nah­mun­gen trägt. Denn das nor­mal-evan­ge­li­sche Geden­ken an Stauf­fen­berg, Bon­hoef­fer, Klep­per oder auch Sophie Scholl war in der Ver­gan­gen­heit nicht sel­ten eben­falls ver­ein­nah­mend: Die Erin­ne­rung wurde von Wider­sprü­chen gerei­nigt und eige­nen Inter­es­sen dienst­bar gemacht. Des­halb emp­fehle ich aus einem Gefühl der Ach­tung her­aus mehr Distanz­be­wusst­sein, weni­ger Iden­ti­fi­ka­tion und nicht zuletzt Vor­sicht beim Gebrauch des Wor­tes „Wider­stand“.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 06/2021.
Von |2021-06-21T12:22:32+02:00Juni 4th, 2021|Allgemein, Medien, Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

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Pro­ble­ma­ti­sche Tra­di­tion des Gedenkens

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.