Die EU-Kommission will Europas Demokratien besser vor Fake News und gezielter Desinformation schützen und die Macht der Online-Konzerne bändigen. Um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen, arbeitet die EU-Kommission aktuell an zwei Gesetzesvorhaben – ein wirtschaftlich-orientiertes, mit dem Digital Markets Act (DMA – Gesetz über den digitalen Markt) und ein gesellschaftspolitisch-geprägtes, mit dem Digital Services Act (DSA – Gesetz über digitale Dienste). Im Dezember 2020 legte die EU-Kommission die Entwürfe vor, die ab Juni im Europaparlament beraten werden sollen. Beide Projekte, die in einigen Kommentaren aufgrund hochgesteckter Erwartungen euphemistisch schon als neues Grundgesetz für Facebook und andere Online-Dienste bezeichnet werden, gelten als Leuchtturmprojekte von Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Aufgrund des wachsenden Einflusses von Angeboten wie Google, Facebook, Instagram oder Amazon auf die Meinungsbildung, die politische Willensbildung und auf politische Entscheidungen sollen nicht nur die Haftungsregeln für illegale Inhalte neu geregelt oder der Wettbewerb gefördert werden, sondern auch die Entscheidungsalgorithmen der großen Konzerne ins Visier genommen werden.
Das Jahr 2020 haben viele Menschen weltweit größtenteils im Lockdown verbracht. Die sozialen Medien haben dadurch einen starken Aufschwung erhalten, wie aus dem „Digital 2021“- Jahresbericht der Social-Media-Management-Plattform Hootsuite und der Social-Media-Agentur We Are Social hervorgeht. Demnach ist die Zahl der Social-Media-Nutzer im vergangenen Jahr so schnell wie seit drei Jahren nicht mehr gestiegen. Derzeit gibt es weltweit rund 4,2 Milliarden Nutzer sozialer Netzwerke und täglich kommen 1,3 Millionen User dazu. Im Vergleich zum Vorjahr sei ein Wachstum von mehr als 13 Prozent zu verzeichnen. Somit nutze nun mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung (53 Prozent) soziale Medien. Auch in Deutschland ist die Internetnutzung im Vorjahresvergleich in fast allen Altersgruppen gestiegen. Die 14- bis 29-Jährigen verbringen mit rund sechs Stunden täglich die meiste Zeit im Netz. Der Zuwachs zum Vorjahr lag bei 21 Minuten auf 370 Minuten. Diese Veränderungen in der Mediennutzung fordern nun die EU-Kommission heraus.
Vor 20 Jahren hat die Europäische Union mit der E-Commerce-Richtlinie einen umfassenden Rechtsrahmen für digitale Dienste und Online-Plattformen beschlossen. Der Einfluss globaler Plattformbetreiber ist seitdem stark gewachsen. Heute verzeichnet Google ca. 3,5 Milliarden Suchanfragen pro Tag, im Jahr 2000 gerade einmal 14 Milliarden im ganzen Jahr. Mit einem Marktanteil von mittlerweile über 93 Prozent in Europa entscheidet Google maßgeblich über die Meinungsbildung mit. Falschinformationen, Hetze und Propaganda sind heute Bestandteil des Netzes und stellen zunehmend die freie Meinungsbildung infrage.
Damit bedrohen, so die Exekutiv-Vizepräsidentin der Europäischen Kommission für Digitales, Margrethe Vestager, diese digitalen Unternehmen „unsere Freiheiten, unsere Chancen, sogar unsere Demokratie“. Die Kommission bemüht sich schon länger, die großen digitalen Unternehmen bei der Bekämpfung von Fake News in die Pflicht zu nehmen, jedoch ohne großen Erfolg. Das soll sich nun ändern.
In einer Stellungnahme zu den Gesetzesprojekten hat der Bundesrat gefordert, dass die Kompetenzen der Mitgliedstaaten im Bereich der kulturellen Identität gewahrt blieben. Unabhängig davon, ob die Elemente des in Aussicht genommenen DSA als Richtlinie oder Verordnung ausgestaltet werde, dürften sie keinerlei Sperrwirkung für entsprechende nationale Regelungen im Bereich der kulturellen Identität, der Medien und der Vielfaltsicherung entfalten. Dies sei durch entsprechende Bereichsausnahmen, Ausnahmevorschriften, Abweichungsbefugnisse und Umsetzungsspielräume sicherzustellen.
Die E-Commerce-Richtlinie aus dem Jahr 2000 nimmt die digitalen Plattformen nicht für illegale Inhalte in Haftung, solange sie keine Kenntnisse von diesen haben. Außerdem ist es dem Gesetzgeber nicht erlaubt, die Plattformbetreiber aufzufordern, proaktiv nach Rechtsverstößen zu suchen. Diese Handlungsunfähigkeit gegenüber den globalen Informationsanbietern soll jetzt beseitigt werden. Zu den Zielen der Verordnung gehören ein offener digitaler Binnenmarkt für Vermittlungsdienste und einheitliche Regeln zum Schutz der in der Charta verankerten Grundrechte, insbesondere der Meinungsäußerungsfreiheit, der Informationsfreiheit, der unternehmerischen Freiheit sowie dem Recht auf Nichtdiskriminierung. Dabei geht es unter anderem um das unverzügliche Entfernen oder die Zugangssperrung von illegalen Inhalten. Eine allgemeine Überwachungs- oder Ermittlungspflicht soll nicht eingeführt werden. Ein weiterer Schwerpunkt regelt die Sorgfaltspflichten der Anbieter für eine transparente und sichere Onlineumgebung. Zudem bestehen Transparenzpflichten. Dazu müssen alle Gründe, die zu einer Entfernung von Inhalten oder Sperrung der Nutzer führen, in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen festgelegt werden.
Der DSA unterscheidet, gemessen an der Reichweite, zwischen vier verschiedenen Online-Vermittlern: Intermediärdiensten, Hosting-Diensten, Plattformen und sehr großen Plattformen. Letztere erreichen ca. 45 Millionen Europäerinnen und Europäer und stellen dadurch ein besonderes Risiko für die Verbreitung illegaler Inhalte dar.
Bei Hostingdiensten z. B. muss die technische Möglichkeit bestehen, mutmaßlich illegale Inhalte zu melden und Sperrungen oder Löschungen gegenüber den betroffenen Nutzern zu begründen. Die großen Plattformen müssen außerdem Maßnahmen zur Abwehr systematischer Risiken ergreifen. Dazu zählt der Entwurf des DSA die vorsätzliche Manipulation des Dienstes mit einer möglichen negativen Auswirkung auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit, des zivilgesellschaftlichen Diskurses oder bei Wahlen und die öffentliche Sicherheit. Damit werden auch Situationen wie die Sperrung des Accounts des ehemaligen US-Präsidenten durch Twitter erfasst. Der DSA erkennt das Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit der durch die Plattform gesperrten Nutzer einerseits und der freiheitlichen Ordnung und des zivilgesellschaftlichen Diskurses andererseits an.
Die Mitgliedsstaaten müssen sogenannte unabhängige Digital Service Coordinator (Koordinatoren für digitale Dienstleistungen) ernennen, die die Durchsetzung der Verordnung auf nationaler Ebene überwachen sollen. Die Koordinatoren haben das Recht, Daten anzufordern, die zur Überwachung und Bewertung der Durchsetzung notwendig sind. Darüber hinaus soll eine unabhängige Beratergruppe von Koordinatoren namens „European Board for Digital Services“ zur Beaufsichtigung geschaffen werden. Dieses Gremium ist für eine europaweite harmonisierte Anwendung des DSA zuständig und soll die nationalen Koordinatoren und die Kommission beraten sowie diese bei der Aufsicht von großen digitalen Plattformen unterstützen. Diese „Koordinatoren“ wären den deutschen Landesmedienanstalten vergleichbar, die eine zusätzliche Regulierungsebene ablehnen: „Wie auch immer die Aufsichtsstruktur der Zukunft aussieht, sie sollte die bereits funktionierenden Mechanismen nutzen. Vor allem muss der Gedanke eines zentralen europäischen Ansatzes mit dem Pluralismus der Mitgliedsstaaten und dem Erfordernis der Staatsferne in Übereinstimmung gebracht werden“, sagt Tobias Schmid, Europabeauftragter der DLM und Vorsitzender der European Regulators Group for Audiovisual Media (ERGA).
Der Digital Markets Act (DMA) zielt vor allem auf Business-Plattformen. Der Anwendungsbereich des DMA zielt auf Anbieter großer Online-Vermittlungsdienste wie Google, Amazon, Facebook, Apple & Co. Für die Anwendung des DMA muss es sich daher um einen der folgenden Dienste handeln: Vermittlungsdienste (z. B. Flugbuchungen), Handelsplattform (Amazon), Suchmaschinen, soziale Netzwerke, Video-Sharing-Anbieter, Betriebssysteme, Cloud-Computing und Werbedienstleistungen, die über Kernplattformen angeboten werden. Die Anwendung des DMA hängt zudem davon ab, dass der Anbieter ein Torwächter ist. Kernplattformen müssen so einen erheblichen Einfluss auf den Binnenmarkt haben. Es muss ein zentraler Plattformdienst betrieben werden, der ein wichtiger Platz für Geschäftskunden ist, um Endkunden zu erreichen, und der Plattformdienst muss eine gefestigte und dauerhafte Marktposition aufweisen. Für Torwächter und seine als „Gateway“ ermittelten Kernplattformdienste sind zahlreiche Pflichten vorgesehen. So das Verbot der Zusammenführung von personenbezogenen Daten mit anderen Diensten des Torwächters. Zudem sind Bestpreis- und Bestkonditionenklauseln untersagt. Weitere Verbote sollen Koppelungsstrategien gegenüber Endnutzern oder gewerblichen Nutzern der Plattform verhindern. Verstößt eine solche Plattform gegen die Regeln, können Maßnahmen wie Auskunftsersuchen und Durchsuchungen ergriffen werden. Nicht gerechtfertigte Pflichtverletzungen können mit Bußgeld von bis zu 10 Prozent des Umsatzes geahndet und zudem können weitere Zwangsgelder verhängt werden.
Bei der Vorstellung des DSA/DMA-Pakets sagte Margrethe Vestager, dass „wir Regeln machen müssen, um Ordnung in dieses Chaos zu bringen“, und verglich die gegenwärtige Situation mit der Aufstellung der ersten Verkehrsampel in Cleveland vor etwa hundert Jahren.
Diese Ampel ist für die Plattformwelt ein ernst zu nehmender Vorschlag, der Regeln zum Schutz der demokratischen Kommunikation und eines fairen Handels vorsieht. Die Grundprinzipien der Europäischen Union bleiben bestehen und geltende Regelungen, wie die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), sollen ergänzt werden. Aus deutscher Sicht ist der Kommissionsvorschlag ein Erfolg, weil er an nationale Gesetze, wie dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), anknüpft.
Damit der Digital Services Act und der Digital Market Act Gesetz werden, müssen sie durch das Europaparlament und den Rat und anschließend von den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden. Frankreich kündigte einen Tag nach der Veröffentlichung des Pakets an, eine Einigung während der französischen EU-Ratspräsidentschaft – 1. Halbjahr 2022 – anzustreben. Andere Beobachter sehen einen sehr viel späteren Zeitpunkt. Es wird noch ein langer und steiniger Weg sein, was bei solchen strategischen Gesetzesvorhaben nicht unüblich und auch notwendig ist. Die Debatte um den Digital Service Act wird höchstwahrscheinlich die nächsten zwei oder drei Jahre andauern, und es bleibt zu hoffen, dass sie weniger polarisiert geführt wird als z. B. die Urheberrechtsverordnung. Dennoch sind sich die meisten Mitgliedsstaaten grundsätzlich in puncto Bekämpfung illegaler Inhalte im Internet einig. Schwieriger wird es dagegen in der Debatte um den DMA, sieht dieser Gesetzesvorschlag doch Regulierungen zur Einschränkung der Marktmacht großer digitaler Unternehmen vor. In der kommenden Debatte werden sich die geplanten Festlegungen an einigen Stellen noch ändern, Vorschläge der Parlamentarier und aus den Mitgliedsstaaten könnten ebenso einfließen wie die Wünsche der Tech-Lobby. Google, Facebook und Co. haben sich schon in Stellung gebracht, um Schaden von ihren Konzernen abzuwenden. Sie werden ihre Macht nichts kampflos abgeben.