Die DDR – eine Migrationsgesellschaft?

Migra­ti­ons­po­li­tik und -pra­xis in der DDR

Als Migra­ti­ons­ge­sell­schaf­ten las­sen sich jene Gemein­we­sen ver­ste­hen, die ste­tig und inten­siv die Fol­gen räum­li­cher Bewe­gun­gen auf die eigene soziale Ord­nung dis­ku­tie­ren und reflek­tie­ren. Das heißt: Zwar kennt jedes Kol­lek­tiv Wan­de­rungs­be­we­gun­gen, weil Migra­tion ein uni­ver­sa­ler Nor­mal­fall ist. Allein die Mobi­li­tät aber macht Gesell­schaf­ten noch nicht zu Migra­ti­ons­ge­sell­schaf­ten. Ließe sich also die DDR, die in der Rück­schau nicht sel­ten als eine „geschlos­sene Gesell­schaft“ erscheint, als eine so defi­nierte Migra­ti­ons­ge­sell­schaft verstehen?

Eine Ant­wort wäre: Ja. Für viele Men­schen in der DDR bil­dete die Option der Abwan­de­rung in den Wes­ten eine Ver­hei­ßung, deren Chan­cen und Risi­ken es sorg­sam zu beden­ken galt. Daran schloss sich eine alle gesell­schaft­li­chen Berei­che und Ebe­nen prä­gende Aus­ein­an­der­set­zung über die Fol­gen von Abwan­de­rung und Flucht für die Funk­ti­ons­fä­hig­keit der Öko­no­mie oder des Bil­dungs- und Gesund­heits­we­sens, aber auch für die Legi­ti­mi­tät des poli­ti­schen Sys­tems und das Ver­hält­nis zur Bun­des­re­pu­blik an. Um die aus obrig­keit­li­cher Sicht in höchs­tem Maße exis­tenz­ge­fähr­dende Abwan­de­rung min­des­tens zu behin­dern, mög­lichst aber zu ver­hin­dern, rie­gel­ten DDR und UdSSR bereits Anfang der 1950er Jahre die inner­deut­sche Grenze weit­ge­hend ab. Die beson­dere Stel­lung Ber­lins aber schien Grenz­si­che­rungs­maß­nah­men zwi­schen den alli­ier­ten Sek­to­ren der ehe­ma­li­gen Reichs­haupt­stadt lange nicht zuzu­las­sen, wes­halb sich die Abwan­de­rung nur bedingt kon­trol­lie­ren oder gar blo­ckie­ren ließ.

Blu­tet die DDR aus?

Wahr­schein­lich wan­der­ten von der Grün­dung der bei­den deut­schen Staa­ten 1949 bis zum Bau der Ber­li­ner Mauer 1961 über drei Mil­lio­nen Men­schen aus der DDR in die Bun­des­re­pu­blik ein. Nach den Anga­ben des 1950 in West­deutsch­land ein­ge­führ­ten asyl­ähn­li­chen »Not­auf­nah­me­ver­fah­rens«, das den Zuge­wan­der­ten aus der DDR unter bestimm­ten Vor­aus­set­zun­gen einen Flücht­lings­sta­tus mit ent­spre­chen­den Ver­sor­gungs­leis­tun­gen zuwies, pen­del­ten die Zah­len in den 1950er Jah­ren zwi­schen jähr­lich ca. 150.000 und 330.000. Höhe­punkte bil­de­ten das Jahr 1953, auf­grund der plan­mä­ßi­gen Kol­lek­ti­vie­run­gen 1952/53 und der Ereig­nisse im Umfeld des 17. Juni 1953, sowie 1956/57 im Kon­text der Ver­schär­fung der DDR-Pass­richt­li­nien. Nach einem Mini­mum 1959 stie­gen die Zah­len bis zum Mau­er­bau wie­der deut­lich an, nicht zuletzt wegen der erneut ver­schärf­ten Kollektivierungspolitik.

Der Bau der Ber­li­ner Mauer redu­zierte die Bewe­gun­gen aus der DDR in die Bun­des­re­pu­blik mas­siv: In den spä­ten 1960er, den 1970er und frü­hen 1980er Jah­ren schwankte ihr Umfang jähr­lich zwi­schen 13.000 und 20.000. Er wuchs erst in der End­phase der DDR wie­der an, erreichte 1984 – nach einem bun­des­deut­schen Mil­li­ar­den­kre­dit an die DDR und einer Bewil­li­gung von 32.000 Aus­rei­se­an­trä­gen durch die SED-Füh­rung mit dem Ziel, die innen­po­li­ti­sche Situa­tion zu beru­hi­gen – einen Spit­zen­wert von über 40.000, um schließ­lich im Jahr der Öff­nung der Mauer 1989 auf mehr als 340.000 zu steigen.

Vom Bau der Mauer 1961 bis Ende 1988 fan­den ins­ge­samt über 600.000 Men­schen ihren Weg von Deutsch­land-Ost nach Deutsch­land-West. Der weit­aus über­wie­gende Teil konnte auf der Basis von Aus­rei­se­ge­neh­mi­gun­gen die Grenze über­schrei­ten, die vor allem Rent­ne­rin­nen und Rent­nern sowie ande­ren Nicht-Erwerbs­tä­ti­gen erteilt wur­den. Gering blieb dem­ge­gen­über die Zahl der Erwerbs­tä­ti­gen, die die DDR ver­las­sen durf­ten und die Zahl der­je­ni­gen, die unter größ­ter Lebens­ge­fahr die Grenz­sper­ren über­wan­den. Selbst wenn sich der Umfang der Abwan­de­rung nach 1961 als ins­ge­samt recht beschei­den erwies, war das Thema Migra­tion kei­nes­wegs ver­schwun­den, wie zahl­lose Kon­flikte um die Beschrän­kung der Bewe­gungs­frei­heit und die hohe Zahl der Aus­rei­se­an­träge zei­gen. Und auch die mate­ri­el­len und imma­te­ri­el­len Kos­ten für die Auf­recht­erhal­tung der Blo­ckade der Migra­tion – Grenz­si­che­rungs­an­la­gen und Grenz­trup­pen, Über­wa­chungs- und Repres­si­ons­ap­pa­rat im Innern, innen- und außen­po­li­ti­sche Fol­gen der Ein­schät­zung der Maß­nah­men als ille­gi­tim – blie­ben sehr hoch.

Beschwei­gen der Zuwanderung

Eine andere Ant­wort auf die Frage danach, ob die DDR eine Migra­ti­ons­ge­sell­schaft bil­dete, könnte lau­ten: Nein. Trotz der Omni­prä­senz des The­mas Abwan­de­rung blieb es doch zugleich ein Feld des Beschwei­gens, des Her­un­ter­spie­lens, der Sprech­ver­bote, der Geheim­re­geln und des Ille­ga­len. Ver­gleich­ba­res zeigte sich in Hin­sicht auf die Zuwan­de­rung in die DDR. So gab es ein weit­rei­chen­des Beschnei­den von Migra­ti­ons­de­bat­ten im Hin­blick auf die Ankunft von deut­schen Ver­trie­be­nen und Flücht­lin­gen mit und nach Kriegs­ende 1945. In die Sowje­ti­sche Besat­zungs­zone gelang­ten aus den Pro­vin­zen des Deut­schen Rei­ches öst­lich von Oder und Neiße, die mit Kriegs­ende in pol­ni­schen und sowje­ti­schen Besitz über­gin­gen, sowie aus den außer­halb der Vor­kriegs­gren­zen gele­ge­nen Sied­lungs­ge­bie­ten von Deut­schen im öst­li­chen Europa ver­hält­nis­mä­ßig mehr Men­schen als in die west­li­chen Besat­zungs­zo­nen: Die Volks­zäh­lun­gen des Jah­res 1950 in bei­den deut­schen Staa­ten ermit­tel­ten in der DDR 4,1 Mil­lio­nen und in der ungleich grö­ße­ren Bun­des­re­pu­blik 7,9 Mil­lio­nen Flücht­linge und Ver­trie­bene. Zu ihnen zählte in der DDR mehr als ein Vier­tel der Bevölkerung.

In der Bun­des­re­pu­blik setz­ten sich rasch in poli­ti­scher Rede und öffent­li­cher Dis­kus­sion Begriff und Figur des »Hei­mat­ver­trie­be­nen« durch – ver­stan­den als durch Andro­hung und Anwen­dung mas­si­ver Gewalt ohne Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven unschul­dig und unter Zurück­las­sung allen Hab und Guts aus dem Osten – also dort, wo der Feind im „Kal­ten Krieg“ stand – bei zahl­rei­chen Todes­op­fern in den Wes­ten – wo Schutz und Sicher­heit gebo­ten wurde und huma­ni­täre Stan­dards gal­ten – gelangte Men­schen. Sie hät­ten, wie die Ver­wen­dung des Begriffs Hei­mat zei­gen sollte, wei­ter­hin Rechte und Ansprü­che auf Eigen­tum und Zuge­hö­rig­keit jen­seits des „Eiser­nen Vor­hangs“. In der SBZ hin­ge­gen befahl die Besat­zungs­macht bereits im Sep­tem­ber 1945 die Ver­wen­dung des Begriffs „Umsied­ler“. Weder über ihre Her­kunft aus den Gebie­ten öst­lich von Oder und Neiße noch über die Frage, unter wel­chen Umstän­den sie in die SBZ gelangt waren, galt es nach­zu­den­ken. Nur wenig spä­ter hie­ßen sie „ehe­ma­lige Umsied­ler“. Mit der Grün­dung der DDR schließ­lich for­derte die Sprach­po­li­tik die Ver­wen­dung des Begriffs „Neu­bür­ger“. In den 1950er Jah­ren wurde auch die­ses Wort getilgt, die Inte­gra­tion für abge­schlos­sen erklärt, das Reden über Kon­flikte und Pro­bleme war ebenso tabui­siert wie Debat­ten über Iden­ti­tät und Herkunftsbezüge.

Jed­wede Effekte auf die soziale Ord­nung der DDR leug­ne­ten Staats- und Par­tei­füh­rung auch in Hin­sicht auf die Beschäf­ti­gung von Arbeits­kräf­ten aus dem Aus­land, wie sie in den 1970er Jah­ren Regie­rungs­ab­kom­men – Kuba 1978, Mosam­bik 1979, Viet­nam 1980 – ein­lei­te­ten. Ver­brämt wur­den sie meist als Aus­bil­dungs­wan­de­run­gen, die sie aber nur zum Teil tat­säch­lich waren. In den 1980er Jah­ren stieg die Zahl der über­wie­gend jun­gen „aus­län­di­schen Werk­tä­ti­gen“ deut­lich an. Von den 1989 ca. 190.000 aus­län­di­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen in der DDR stell­ten neben Stu­die­ren­den die bei Wei­tem stärkste Gruppe in DDR-Betrie­ben Beschäf­tigte (93.600). Von ihnen kamen 59.000 aus Viet­nam und 15.000 aus Mosam­bik. Der Anteil der Män­ner domi­nierte, nur durch­schnitt­lich 15 Pro­zent waren Frauen.

Die Arbeits­kräfte aus „sozia­lis­ti­schen Bru­der­län­dern“ arbei­te­ten in der DDR meist in den von Ein­hei­mi­schen am wenigs­ten geschätz­ten Beschäf­ti­gungs­fel­dern in der Pro­duk­tion, z. B. zu drei Vier­teln im Schicht­dienst. Wegen eines Rota­ti­ons­sys­tems mit stren­ger Befris­tung der Arbeits­ver­träge, des Ver­bots der Fami­li­en­mi­gra­tion, einer in der Regel aus­ge­präg­ten Segre­ga­tion durch Unter­brin­gung in Wohn­hei­men sowie einer auto­ri­tä­ren Betreu­ung und staat­lich ver­ord­ne­ten Mar­gi­na­li­sie­rung blieb die Distanz zwi­schen Zuge­wan­der­ten und DDR-Bevöl­ke­rung groß. Die Hand­lungs­mög­lich­kei­ten der Migran­tin­nen und Migran­ten waren nicht nur auf­grund einer engen Bin­dung an die Betriebe, eines stark beschnit­te­nen Kün­di­gungs­rechts und einer feh­len­den Lobby beschränkt. Außer­dem wurde ein Teil des Lohns direkt an die Regie­rung der Her­kunfts­län­der oder erst nach der Rück­kehr aus­ge­zahlt. Öffent­li­che Dis­kus­sio­nen über ihre Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen waren ebenso wenig zuge­las­sen wie Inter­es­sen­ver­tre­tun­gen oder poli­ti­sche Partizipation.

Im Blick auf die Aus­gangs­frage ließe sich folg­lich davon spre­chen, dass die DDR eine Migra­ti­ons­ge­sell­schaft war, in der zen­trale Orga­ni­sa­tio­nen – SED, Regie­rung, Sicher­heits­ap­pa­rat – zwar dau­ernd die Fol­gen von Migra­tion für die soziale Ord­nung reflek­tier­ten. Weil ihnen aber räum­li­che Bewe­gun­gen in vie­ler­lei Hin­sicht als Bedro­hung gal­ten, soll­ten nicht nur diese, son­dern auch gesell­schaft­li­che Debat­ten dar­über ein­ge­dämmt wer­den. Es ließe sich mit­hin von einer repres­siv for­mier­ten Migra­ti­ons­ge­sell­schaft spre­chen, die zahl­lose Ambi­va­len­zen und Wider­sprü­che pro­du­zierte. Über sie und ihre lang­fris­ti­gen Fol­gen ist gar nicht so viel bekannt, wie man ange­sichts der inten­si­ven Beschäf­ti­gung mit der Geschichte der DDR und den Effek­ten der Ver­ei­ni­gung der bei­den deut­schen Staa­ten mei­nen sollte.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 06/2021.
Von |2021-06-21T14:00:17+02:00Juni 4th, 2021|Einwanderungsgesellschaft, Heimat|Kommentare deaktiviert für

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Migra­ti­ons­po­li­tik und -pra­xis in der DDR

Jochen Oltmer ist Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück.