Lebens­rea­li­tä­ten und Trends

Zwi­schen Anti­se­mi­tis­mus und bestär­ken­der jüdi­scher Identität

Junge Jüdin­nen und Juden leben zwi­schen stei­gen­dem Anti­se­mi­tis­mus und der Stär­kung ihrer jüdi­schen Iden­ti­tät durch Empower­ment und Selbst­or­ga­ni­sa­tion. Diese Ambi­va­lenz spie­gelt sich in ihren Lebens­rea­li­tä­ten wider.

Junge Jüdin­nen und Juden sind keine homo­gene Gruppe. Ihre Lebens­rea­li­tä­ten umfas­sen neben unter­schied­li­cher Her­kunft, reli­giöse Deno­mi­na­tion, sozio­öko­no­mi­schen Sta­tus und vie­lem mehr auch unter­schied­li­che Sozia­li­sie­run­gen in Bezug auf ihre jüdi­sche Iden­ti­tät. Bei­spiele hier­für sind das Besu­chen und ver­gleichs­weise das Nicht-Besu­chen von jüdi­schen Schul­ein­rich­tun­gen, Reli­gi­ons­un­ter­richt, Jugend­zen­tren und Feri­en­la­gern. Beson­ders Letz­tere haben einen star­ken und meist posi­ti­ven Ein­fluss auf die jüdi­sche Iden­ti­täts­bil­dung, wie Sabina Ermak in „Fall­re­kon­struk­tion zu jüdi­schen Sozia­li­sa­tio­nen in Deutsch­land“ beleuch­tet. Die Mög­lich­keit für junge jüdi­sche Men­schen, ihre Iden­ti­tät posi­tiv zu erler­nen und zu erle­ben, ist eine Renais­sance, denn die Wege der vor­an­ge­gan­ge­nen Gene­ra­tio­nen waren durch­weg von Ver­trei­bung, Flucht und Migra­tion geprägt.

Gleich­zei­tig zeigt die Stu­die „Anti­se­mi­tis­mus im Kon­text Schule“, dass eine Prä­senz und Regel­mä­ßig­keit anti­se­mi­ti­scher Spra­che und Situa­tio­nen in der Schule vor­herrscht, wel­che signi­fi­kan­ten Ein­fluss auf jüdi­sche Schü­le­rin­nen und Schü­ler in ihrem All­tag und dar­über hin­aus mani­fes­tiert. Auch die Fall­zahl anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle zeigt die reale Bedro­hung durch Anti­se­mi­tis­mus. So wur­den 2019 in Ber­lin 881 anti­se­mi­ti­sche Vorfälle – durch­schnitt­lich 2,4 pro Tag – gemel­det, wel­che sich beson­ders in Stadt­tei­len, in denen jüdisches Leben beson­ders sicht­bar ist, ereig­ne­ten. Zuvor mel­dete der Bun­des­ver­band der Recher­che- und Infor­ma­ti­ons­stel­len Anti­se­mi­tis­mus (RIAS) einen Anstieg von 155 Pro­zent der gewalt­tä­ti­gen anti­se­mi­ti­schen Angriffe von 2017 auf 2018. „Juden­hass ist im Zuge der Corona-Pan­de­mie wei­ter ange­stie­gen“, ana­ly­sierte der Beauf­tragte der Bun­des­re­gie­rung für jüdi­sches Leben in Deutsch­land und den Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus, Felix Klein, zusätz­lich. Mehr als die Hälfte der Jüdin­nen und Juden in Deutsch­land mach­ten bereits anti­se­mi­ti­sche Erfah­run­gen, wobei auch die allei­nige Anti­zi­pa­tion des Has­ses einen deut­li­chen Effekt ausübt.

Inmit­ten des kon­ti­nu­ier­li­chen Anti­se­mi­tis­mus leuch­tet das Licht der Selbst­or­ga­ni­sa­tion jun­ger Jüdin­nen und Juden. Maß­geb­lich in den letz­ten fünf Jah­ren wur­den von ihnen zahl­rei­che Initia­ti­ven und Orga­ni­sa­tio­nen zum Selbst-Empower­ment gegrün­det. So wurde mit der Jüdi­schen Stu­die­ren­den­union Deutsch­land (JSUD) eine für 25.000 reprä­sen­ta­tive junge jüdi­sche poli­ti­sche Stimme ins Leben geru­fen. Dane­ben mach­ten auch regio­nale jüdi­sche Stu­die­ren­den­ver­bände wie der VJS­Nord und JSU­Würt­tem­berg sowie die Jüdi­schen Hoch­schul­grup­pen in Bie­le­feld und Düs­sel­dorf ihr Debüt und berei­chern ins­be­son­dere das Hoch­schul­le­ben. Eine Aktive berich­tet, sie habe durch die jüdi­sche Stu­die­ren­den­ar­beit „end­lich die Mög­lich­keit, (ihre) jüdi­schen und poli­ti­schen Inter­es­sen zu ver­bin­den und akti­vis­tisch für das Gemein­wohl zu han­deln“. Auch kenn­zeich­nen Inter­es­sen­ver­tre­tun­gen wie der LGBTIQ*-jüdische Ver­ein Kes­het Deutsch­land e.V., hebrä­isch für Regen­bo­gen, und Platt­for­men wie der Jewish Women Empower­ment Sum­mit (JWES) den kla­ren Trend hin zu dem Bedarf an Iden­ti­täts- und Inter­es­sen­ver­knüp­fung und eige­ner Agendasetzung.

Beson­ders die Selbst-und Peer-Bil­dungs­an­ge­bote auf der Social-Media-Platt­form Insta­gram demons­trie­ren die Ten­den­zen der Wün­sche und Inter­es­sen jun­ger Jüdin­nen und Juden. „Juedisch.und.deutsch“ bie­tet neben Por­träts „ech­ter“ jun­ger jüdi­scher Men­schen auch Bil­dungs­in­halte über jüdi­sche Fei­er­tage, Tra­di­tio­nen und Pro­bleme. Grün­de­rin Fanny Huth sagt, sie war es „leid, sich immer über den Umgang mit dem Juden­tum in Deutsch­land auf­zu­re­gen“ und möchte durch Auf­klä­rung Anti­se­mi­tis­mus bekämp­fen. Auch „jewish.resistance.alliance“ klärt als dia­spo­ri­sche zio­nis­ti­sche Gruppe von Jüdin­nen, Juden und Ver­bün­de­ten über ver­schie­dene For­men des Anti­se­mi­tis­mus auf. Der Kanal „insta.jews“ sam­melt und ver­brei­tet erst­ma­lig jüdi­sche Even­t­an­ge­bote über alle Deno­mi­na­tio­nen hin­weg. Inter­sek­tio­na­li­tät fin­det Ein­klang bei „jewish Inter­sec­tional“, wel­ches eine Initia­tive für kri­ti­sche Bil­dungs­ar­beit ist. Frisch in dem digi­ta­len Mix dazu­ge­kom­men sind das „jquizz“ mit Quiz­fra­gen zu jüdi­schen The­men und „Yalla Chal­lah Ber­lin“, des­sen Account-Inha­be­rin jeden Frei­tag zur „Ein­stim­mung auf den Shab­bes“ das tra­di­tio­nelle Hefe­zopf­brot backt und ihre Gedan­ken teilt. Zu ihrem Pro­jekt erzählt sie: „Jüdi­sche Freund:innen von mir fühl­ten sich inspi­riert und fin­gen an, selbst zu backen. Nicht­jü­di­sche Freund:innen von mir woll­ten mehr über meine ash­ke­na­si­sche Tra­di­tion wis­sen. Das brachte uns nicht nur näher zusam­men, son­dern gab mir auch ein Gefühl der Ver­bun­den­heit in die­sen Zei­ten der Iso­la­tion zurück.“ Exem­pla­risch zeigt die Eröff­nung und somit Lücken­fül­lung die­ser Kanäle, dass jun­ges jüdi­sches Leben eine Sym­biose ist aus Bedürf­nis­sen ers­tens des Zusam­men­kom­mens der Com­mu­nity, zwei­tens pri­mär externe, aber auch interne Bil­dung zu rea­lem jun­gen jüdi­schen Leben und drit­tens der Not­wen­dig­keit der Beleuch­tung und Auf­klä­rung über anti­se­mi­ti­sche Erfahrungen.

Wäh­rend­des­sen erschei­nen über 3.000 Zei­tungs­ar­ti­kel jähr­lich über Anti­se­mi­tis­mus in Deutsch­land und dabei ledig­lich ver­ein­zelt Inhalte über jüdi­sches Leben und Iden­ti­tät in ihrer Viel­falt und Nor­ma­li­tät. Gleich­zei­tig ist es Letz­te­res, wel­ches beson­ders die junge jüdi­sche Gene­ra­tion sich wünscht. So äußerte sich die Jüdi­sche Stu­die­ren­den­union Deutsch­land (JSUD): „Jüdi­sches Leben darf nicht mehr nur im Koor­di­na­ten­sys­tem von Shoa/Holocaust, Anti­se­mi­tis­mus und Israel-Paläs­tina-Kon­flikt wahr­ge­nom­men wer­den.“ Es braucht drin­gend Bil­dung über jüdi­sches Leben, Tra­di­tio­nen, Kul­tur, Geschichte und lecke­ren Rezep­ten. Aber auch der Prä­si­dent des Zen­tral­rats der Juden in Deutsch­land, Josef Schus­ter, äußerte in sei­ner Fest­rede zu 1.700 Jahre jüdi­sches Leben in Deutsch­land: „Anti­se­mi­ti­sche Vor­ur­teile (…) hal­ten sich umso bes­ser, je weni­ger man über Juden weiß.“ Zum Wis­sen über jüdi­sches Leben gehört zwangs­läu­fig ein Ver­ständ­nis für die beschrie­be­nen ambi­va­len­ten Lebens­rea­li­tä­ten jun­ger Jüdin­nen und Juden. Ihre For­de­run­gen nach tat­säch­li­cher Reprä­sen­ta­tion ihrer Lebens­rea­li­tä­ten in Poli­tik, Bil­dung, Zivil­ge­sell­schaft, Medien und Kul­tur blei­ben bestehen, wäh­rend sie mit­un­ter durch Selbst­or­ga­ni­sa­tion jüdi­sche Iden­ti­tä­ten bestärken.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 04/2021.

Von |2021-04-01T11:50:16+02:00April 1st, 2021|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

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Zwi­schen Anti­se­mi­tis­mus und bestär­ken­der jüdi­scher Identität

Dalia Grinfeld ist Stellvertretende Direktorin für Europäische Angelegenheiten bei der Anti-Defemation League (ADL), Co-Vorsitzende und Gründungsmitglied des LGBTIQ*-jüdischen Vereins Keshet Deutschland e.V. und ehemalige Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD).