Dalia Grinfeld 1. April 2021 Logo_Initiative_print.png

Lebens­rea­li­tä­ten und Trends

Zwi­schen Anti­se­mi­tis­mus und bestär­ken­der jüdi­scher Identität

Junge Jüdinnen und Juden leben zwischen steigendem Antisemitismus und der Stärkung ihrer jüdischen Identität durch Empowerment und Selbstorganisation. Diese Ambivalenz spiegelt sich in ihren Lebensrealitäten wider.

Junge Jüdinnen und Juden sind keine homogene Gruppe. Ihre Lebensrealitäten umfassen neben unterschiedlicher Herkunft, religiöse Denomination, sozioökonomischen Status und vielem mehr auch unterschiedliche Sozialisierungen in Bezug auf ihre jüdische Identität. Beispiele hierfür sind das Besuchen und vergleichsweise das Nicht-Besuchen von jüdischen Schuleinrichtungen, Religionsunterricht, Jugendzentren und Ferienlagern. Besonders Letztere haben einen starken und meist positiven Einfluss auf die jüdische Identitätsbildung, wie Sabina Ermak in „Fallrekonstruktion zu jüdischen Sozialisationen in Deutschland“ beleuchtet. Die Möglichkeit für junge jüdische Menschen, ihre Identität positiv zu erlernen und zu erleben, ist eine Renaissance, denn die Wege der vorangegangenen Generationen waren durchweg von Vertreibung, Flucht und Migration geprägt.

Gleichzeitig zeigt die Studie „Antisemitismus im Kontext Schule“, dass eine Präsenz und Regelmäßigkeit antisemitischer Sprache und Situationen in der Schule vorherrscht, welche signifikanten Einfluss auf jüdische Schülerinnen und Schüler in ihrem Alltag und darüber hinaus manifestiert. Auch die Fallzahl antisemitischer Vorfälle zeigt die reale Bedrohung durch Antisemitismus. So wurden 2019 in Berlin 881 antisemitische Vorfälle – durchschnittlich 2,4 pro Tag – gemeldet, welche sich besonders in Stadtteilen, in denen jüdisches Leben besonders sichtbar ist, ereigneten. Zuvor meldete der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) einen Anstieg von 155 Prozent der gewalttätigen antisemitischen Angriffe von 2017 auf 2018. „Judenhass ist im Zuge der Corona-Pandemie weiter angestiegen“, analysierte der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, zusätzlich. Mehr als die Hälfte der Jüdinnen und Juden in Deutschland machten bereits antisemitische Erfahrungen, wobei auch die alleinige Antizipation des Hasses einen deutlichen Effekt ausübt.

Inmitten des kontinuierlichen Antisemitismus leuchtet das Licht der Selbstorganisation junger Jüdinnen und Juden. Maßgeblich in den letzten fünf Jahren wurden von ihnen zahlreiche Initiativen und Organisationen zum Selbst-Empowerment gegründet. So wurde mit der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) eine für 25.000 repräsentative junge jüdische politische Stimme ins Leben gerufen. Daneben machten auch regionale jüdische Studierendenverbände wie der VJSNord und JSUWürttemberg sowie die Jüdischen Hochschulgruppen in Bielefeld und Düsseldorf ihr Debüt und bereichern insbesondere das Hochschulleben. Eine Aktive berichtet, sie habe durch die jüdische Studierendenarbeit „endlich die Möglichkeit, (ihre) jüdischen und politischen Interessen zu verbinden und aktivistisch für das Gemeinwohl zu handeln“. Auch kennzeichnen Interessenvertretungen wie der LGBTIQ*-jüdische Verein Keshet Deutschland e.V., hebräisch für Regenbogen, und Plattformen wie der Jewish Women Empowerment Summit (JWES) den klaren Trend hin zu dem Bedarf an Identitäts- und Interessenverknüpfung und eigener Agendasetzung.

Besonders die Selbst-und Peer-Bildungsangebote auf der Social-Media-Plattform Instagram demonstrieren die Tendenzen der Wünsche und Interessen junger Jüdinnen und Juden. „Juedisch.und.deutsch“ bietet neben Porträts „echter“ junger jüdischer Menschen auch Bildungsinhalte über jüdische Feiertage, Traditionen und Probleme. Gründerin Fanny Huth sagt, sie war es „leid, sich immer über den Umgang mit dem Judentum in Deutschland aufzuregen“ und möchte durch Aufklärung Antisemitismus bekämpfen. Auch „jewish.resistance.alliance“ klärt als diasporische zionistische Gruppe von Jüdinnen, Juden und Verbündeten über verschiedene Formen des Antisemitismus auf. Der Kanal „insta.jews“ sammelt und verbreitet erstmalig jüdische Eventangebote über alle Denominationen hinweg. Intersektionalität findet Einklang bei „jewish Intersectional“, welches eine Initiative für kritische Bildungsarbeit ist. Frisch in dem digitalen Mix dazugekommen sind das „jquizz“ mit Quizfragen zu jüdischen Themen und „Yalla Challah Berlin“, dessen Account-Inhaberin jeden Freitag zur „Einstimmung auf den Shabbes“ das traditionelle Hefezopfbrot backt und ihre Gedanken teilt. Zu ihrem Projekt erzählt sie: „Jüdische Freund:innen von mir fühlten sich inspiriert und fingen an, selbst zu backen. Nichtjüdische Freund:innen von mir wollten mehr über meine ashkenasische Tradition wissen. Das brachte uns nicht nur näher zusammen, sondern gab mir auch ein Gefühl der Verbundenheit in diesen Zeiten der Isolation zurück.“ Exemplarisch zeigt die Eröffnung und somit Lückenfüllung dieser Kanäle, dass junges jüdisches Leben eine Symbiose ist aus Bedürfnissen erstens des Zusammenkommens der Community, zweitens primär externe, aber auch interne Bildung zu realem jungen jüdischen Leben und drittens der Notwendigkeit der Beleuchtung und Aufklärung über antisemitische Erfahrungen.

Währenddessen erscheinen über 3.000 Zeitungsartikel jährlich über Antisemitismus in Deutschland und dabei lediglich vereinzelt Inhalte über jüdisches Leben und Identität in ihrer Vielfalt und Normalität. Gleichzeitig ist es Letzteres, welches besonders die junge jüdische Generation sich wünscht. So äußerte sich die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD): „Jüdisches Leben darf nicht mehr nur im Koordinatensystem von Shoa/Holocaust, Antisemitismus und Israel-Palästina-Konflikt wahrgenommen werden.“ Es braucht dringend Bildung über jüdisches Leben, Traditionen, Kultur, Geschichte und leckeren Rezepten. Aber auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, äußerte in seiner Festrede zu 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland: „Antisemitische Vorurteile (…) halten sich umso besser, je weniger man über Juden weiß.“ Zum Wissen über jüdisches Leben gehört zwangsläufig ein Verständnis für die beschriebenen ambivalenten Lebensrealitäten junger Jüdinnen und Juden. Ihre Forderungen nach tatsächlicher Repräsentation ihrer Lebensrealitäten in Politik, Bildung, Zivilgesellschaft, Medien und Kultur bleiben bestehen, während sie mitunter durch Selbstorganisation jüdische Identitäten bestärken.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2021.

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