„Der innere Bruch, den Flücht­linge ver­ar­bei­ten müs­sen, wird oft nicht bedacht“

Dmit­rij Kapi­tel­man über Kon­tin­gent­flücht­linge, Inte­gra­tion und sein neues Buch

In sei­nem aktu­el­len Roman „Eine For­ma­lie in Kiew“ erzählt Dmit­rij Kapi­tel­man von einer Fami­lie, die in die Fremde zog, um ein neues Leben zu begin­nen, und am Ende ohne jede Hei­mat dasteht. San­dra Win­zer spricht mit ihm über das Buch und auch seine eigene Migra­tion nach und Inte­gra­tion in Deutschland.

San­dra Win­zer: „Eine For­ma­lie in Kiew“ erzählt von Dima, einem jun­gen Mann, der aus der ehe­ma­li­gen Sowjet­union mit sei­nen Eltern nach Deutsch­land kam und nun auch amt­lich Deut­scher wer­den möchte. Durch das gesamte Buch zieht sich die Zahl 25. Warum ist sie so bedeutend?
Dimit­rij Kapi­tel­man: Weil es die Anzahl der Jahre ist, die ver­gan­gen sind, seit meine Fami­lie und ich aus der Ukraine nach Deutsch­land gekom­men sind. 25 Jahre sind der Groß­teil mei­nes Lebens, ich bin heute 34. Umso fas­sungs­lo­ser macht es mich, dass es nach all der Zeit als Mit­glied der Gesell­schaft so schwie­rig ist, auch amt­lich als Mit­glied der deut­schen Gesell­schaft aner­kannt zu wer­den. 25 Jahre sind ein Vier­tel­jahr­hun­dert, das Inter­vall einer gan­zen Generation.

Ihr Prot­ago­nist Dima kämpft mit dem „büro­kra­ti­schen Bal­last“, der mit dem deut­schen Pass ver­bun­den ist. Sie schrei­ben Sätze, wie: „Migra­tion hört eigent­lich nie auf.“ – „Auch 25 Jahre spä­ter wan­dere ich immer noch nach Deutsch­land ein.“ Macht Sie das wütend?
Ja. Von Ein­wan­de­rern wird wahn­sin­nig viel ver­langt. Wol­len Sie als Migran­tin oder Migrant gewisse Rechte und Teil­habe haben, wird ihnen das oft schwer gemacht. Einer­seits hört man „Bil­det keine Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten“ – ande­rer­seits füh­len sich viele Men­schen gar nicht will­kom­men in einer deut­schen Rei­hen­haus-sied­lung. Es dringt durch, dass man nicht am Grund­ge­rüst rüt­teln soll. Bis vor Kur­zem stand in mei­nen Papie­ren: „Resi­denz­pflicht“. Das bedeu­tet, dass ich theo­re­tisch als Kon­tin­gent­flücht­ling nur in Sach­sen leben dürfte, sofern ich nicht woan­ders arbeite. Ein Vier­tel­jahr­hun­dert spä­ter soll ich also noch immer in dem Bun­des­land blei­ben, dem ich zuge­teilt wurde?! Das ist doch irre. Sol­che Dinge machen mich wütend.

Das „Nicht-will­kom­men-Sein“ – wie zeigt sich das Ihnen im Alltag?
Z. B. durch Wahl­er­folge der AfD, durch rechte Netz­werke in den deut­schen Sicher­heits­be­hör­den, aber auch durch All­tags­ras­sis­mus. Es kann durch den Mann im Wehr­machts-T-Shirt im ICE nach Han­no­ver sein, der damit offen­bar nie­man­den stört. Oder sub­ti­ler: Wenn man den ver­meint­lich fal­schen Namen hat, ist es schwie­ri­ger, Woh­nun­gen zu bekom­men. Auch gibt es viele Men­schen, die mit der ver­meint­lich fal­schen Haut­farbe viel häu­fi­ger in Poli­zei­kon­trol­len gera­ten. Dinge, die fast schon lang­wei­len, weil man sie immer wie­der hört – sie sind und blei­ben aber real.

Rea­ler Alltagsrassismus …
Bei die­sem Thema bin ich, als wei­ßer, blon­der Mann, zwar nur bedingt ein guter Ansprech­part­ner, mir legt auch schon mal ein Nazi den Arm um die Schul­ter in der Kneipe und sagt häss­li­che Dinge, nur weil ich blond und weiß bin. Mein guter Freund aus Kame­run aber kehrt nach 100 Metern panisch um, wenn er merkt, dass er sei­nen Rei­se­pass ver­ges­sen hat. Er sagt dann zu mir: „Ver­giss es, ohne Aus­weis gehe ich nicht aus dem Haus.“ Ich selbst war ein­mal in der Not­auf­nahme eines gro­ßen Leip­zi­ger Kran­ken­hau­ses. Der Arzt fragte mich nach mei­nem Beruf – ich erzählte von mir als Jour­na­list und Autor. Spä­ter sagte der Arzt: „Aha, Jude.“ Im glei­chen Atem­zug erzählte er, dass das ganze Kran­ken­haus AfD wählt. Sofort fühlte ich mich in mei­ner Haut nicht mehr wohl, sol­che Momente sind beängstigend.

Beängs­ti­gend erschei­nen auch die Hür­den, die auf Dima in Ihrem Buch immer wie­der zukom­men. Wochen­lan­ges War­ten auf Papiere, eine Reise nach Kiew für ein beglau­big­tes Doku­ment … Auch Sie selbst haben das erlebt.
Ja. Dima zählt zu den Kon­tin­gent­flücht­lin­gen. Eine der weni­gen Migran­ten­grup­pen, die quasi „ange­wor­ben“ wur­den mit der Begrün­dung der his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung. Wenn ich dann, nach einer extrem erfolg­rei­chen Inte­gra­tion, immer noch büro­kra­tisch auf Distanz gehal­ten werde, macht mich das wütend. Auch Deutsch­land ver­liert dadurch Res­sour­cen. Men­schen etwa, die begna­dete Ärz­tin­nen und Ärzte sein könn­ten, geben – hin­ge­hal­ten und frus­triert – auf, weil ihnen die Kraft aus­geht. Wäre ich nicht schon so gut ver­wach­sen mit Deutsch­land, hätte mich die­ser Ein­bür­ge­rungs­pro­zess total zer­mürbt. Womög­lich hätte ich gesagt: „Schluss, zu viel Schikane.“

In Ihrem Roman erzäh­len Sie auch eine Fami­li­en­ge­schichte. Von der inner­li­chen Grenz­mauer, die Dima zur Mut­ter auf­ge­baut hat, die erst durch die gemein­same Reise zu brö­ckeln scheint. Auch das Ver­hält­nis zum Vater ändert sich. Haben auch Sie die sich wan­deln­den Dyna­mi­ken inner­halb der Fami­lie durch die Aus- bzw. Ein­wan­de­rung erlebt?
Ja. Hätte es die vie­len per­sön­li­chen Emo­tio­nen mei­ner Fami­li­en­ge­schichte nicht gege­ben, hätte ich das Buch nicht geschrie­ben. Nie­mand braucht einen Roman, der aus­schließ­lich sagt: „Büro­kra­tie nervt“. Ohne echte Lie­bes­fra­gen ginge das nicht. Staat und Fami­lie las­sen sich nicht getrennt betrach­ten. Die poli­ti­schen Umstände des Lan­des, in dem man lebt, prä­gen die Familie.

Ist die­selbe Fami­lie im jeweils ande­ren Land eine andere?
Ja. Migra­tion bedeu­tet nicht nur: Wir sind finan­zi­ell solide und schi­cken die Kin­der an die Uni. Bei Migra­tion gibt es einen mensch­li­chen Bruch – inner­halb der Fami­lie. Umfeld, Spra­che oder Gesamt­ge­füge – im neuen Land ist nichts mehr ver­traut. Des­we­gen glaube ich auch, dass von Ein­wan­de­re­rin­nen und Ein­wan­dern viel ver­langt wird. Der innere Bruch, den Flücht­linge ver­ar­bei­ten müs­sen, wird oft nicht bedacht. Bei mir haben sich viele Men­schen gemel­det, die bestä­ti­gen, dass min­des­tens ein Eltern­teil auf eine gewisse Art in Deutsch­land ver­welkt ist. Die­ser Aspekt ist lei­der sel­ten Teil der Ein­wan­de­rungs­de­batte. Meist geht es nur um Sprach­kennt­nisse und Arbeitsquoten.

Was genau mei­nen Sie mit „ver­welkt“?
Warum Ein­zelne inner­halb eines Umfel­des trau­rig wer­den, wäh­rend andere pro­spe­rie­ren – das ist ganz indi­vi­du­ell. Man muss aber beach­ten: Bei der Ein­wan­de­rung ver­schwin­det für Migran­tin­nen und Migran­ten jeg­li­che Selbst­ver­ständ­lich­keit. Freun­des­kreis und Sta­tus gehen ver­lo­ren, man star­tet als Nie­mand, ist in vie­len Situa­tio­nen unter­le­gen. Das sind tief­grei­fende psy­cho­lo­gi­sche Momente, die bei vie­len Men­schen zu Rück­zug füh­ren. Bei mei­nem Vater etwa hatte ich das Gefühl, dass er unter­schätzt hat, wie schwie­rig es ist, als Jude in Deutsch­land zu leben. Wir leb­ten in einer Gegend in Sach­sen, in der es viele Neo­na­zis gab. Rechte Pro­pa­ganda war über­all zu sehen in der Nach­bar­schaft, bis hin zu Neo­nazi-Par­tys im eige­nen Haus. All das hat es mei­nem Vater kaum mög­lich gemacht, Deutsch­land rich­tig zu trauen.

Viel­leicht wäre das anders gewe­sen, wären wir etwa nach Düs­sel­dorf gegan­gen. Trotz­dem: Jedes Mal, wenn ich ihm zei­gen will: „Deutsch­land ist unser Freund“, taucht ein NSU-2.0-Skandal auf oder ein AfD-Wahl­er­folg. Es ist schwie­rig, trau­ma­ti­sier­ten jüdi­schen Men­schen ein siche­res Land zu ver­spre­chen, wenn die Gefahr immer wie­der durchdringt.

Jüdisch­sein – der Begriff und das Thema kom­men in Ihrem Buch kaum vor. Warum?
Ich wollte kein zwei­tes Buch zum Thema „Jüdi­sches Leben in Deutsch­land“ schrei­ben. Wich­ti­ger im aktu­el­len Buch ist die Frage: Wie kann es sein, dass die jüdi­schen Ein­wan­de­rer in Deutsch­land so sehr um den deut­schen Pass bet­teln müs­sen? Wann ist das poli­tisch salon­fä­hig gewor­den? Dabei geht es um alle Men­schen, die längst Teil die­ses Lan­des sind. Sie alle soll­ten mit den glei­chen Rech­ten den glei­chen Zugang bekom­men. Ich möchte den Pass nicht als Iden­ti­tät dis­ku­tie­ren. Zu gro­ßem Teil steht ein deut­scher Pass ein­fach für Pri­vi­le­gien, für Sicherheit.

Wür­den Sie soweit gehen zu sagen, „Jüdisch­sein“ in Deutsch­land heute eman­zi­piert sich noch immer – weg vom Holo­caust zu einer fri­schen viel­sei­ti­gen Iden­ti­tät? Jüdisch­sein heute kann doch mehr …?
Grund­sätz­lich stimme ich dem abso­lut zu. Wir sind müde, immer mit der Shoah ver­bun­den zu wer­den. Das ist eine Belas­tung und eine Redu­zie­rung einer tat­säch­lich viel­fäl­ti­gen, tol­len und span­nen­den, ja, auch wit­zi­gen Kul­tur. Die Reli­gion prak­ti­ziere ich zwar nicht selbst, mich inter­es­sie­ren aber die (Modernisierung-)Prozesse, die gerade im Juden­tum ablau­fen. Kei­ner von uns möchte auf ewig in die­ser Opfer-Scha­blone ste­cken. Von der Shoah kann sowieso nie­mand ein­fach so los­kom­men, dafür ist die­ses Ereig­nis zu hef­tig. Der Punkt ist aber: Wer bestimmt heut­zu­tage, wie sehr die Shoah in den Vor­der­grund gerückt wird? Wer besitzt die Hoheit über die Erin­ne­rung und den Zeit­punkt, wann sie the­ma­ti­siert wird? Hin­ter For­de­run­gen, die Viel­falt des Juden­tums heute deut­li­cher zu zei­gen, steckt auch die For­de­rung: Lasst uns selbst bestim­men, wann wir den Schmerz the­ma­ti­sie­ren und wann unsere Vielseitigkeit.

Sie schrei­ben nicht zwin­gend über die Staa­ten, son­dern über die Gefühle, die sie in uns aus­lö­sen. Machen uns Staa­ten zu einem bestimm­ten Men­schen, wenn wir in ihnen funk­tio­nie­ren wollen?
Ich weiß nicht, ob es die Staa­ten sind, die unse­ren Cha­rak­ter prä­gen. Wir selbst schaf­fen ja auch den Staat. Wer wen beein­flusst, ist eine schwie­rige Frage. Ich würde es so for­mu­lie­ren: Migra­tion hat neben all der Belas­tung auch eine sehr schöne Seite: Kul­tu­rel­ler Reich­tum ist kein Pro­blem oder Defi­zit, im Gegen­teil. Es ist wun­der­schön, meh­rere Spra­chen zu spre­chen und meh­rere Kul­tu­ren zu fühlen.

Bei der Frage „Wie sehr defi­niert der Staat einen Men­schen?“ kann ich sagen: Mein Leben mit mei­nen ver­streu­ten Zuge­hö­rig­kei­ten – deutsch, jüdisch, ukrai­nisch, rus­sisch – for­dert viel Auto­no­mie, um fest­zu­stel­len: Was gehört zu mir und was lehne ich ab? Aber ich kann fin­den, was wirk­lich zu mir selbst gehört. Wie ein Magnet.

Am Ende Ihres Buches wie­der­holt sich die­ser Satz: „Nichts ist so gleich­gül­tig wie Natio­na­li­tä­ten“. Ist das eine der Bot­schaf­ten, die Sie sich rüber­zu­brin­gen wün­schen? Wir kön­nen Lands­leute aller Her­ren Län­der sein – wir kön­nen mehr als eines sein?
Zwar bin ich kein hoff­nungs­lo­ser Uto­pist. Wor­auf ich aber hoffe, ist eine Welt­ge­mein­schaft, in der Natio­na­li­tä­ten auf glei­che Weise gül­tig sind. Ohne Aggres­si­vi­tät und Chau­vi­nis­mus. Ohne über­höhte natio­na­lis­ti­sche Ego­is­men, die eine humane Poli­tik unmög­lich machen. Um etwa eine Kli­ma­po­li­tik zu betrei­ben, die uns wirk­lich ret­tet. Viele Dinge schei­tern letzt­lich an natio­na­len Ego­is­men, die wie­derum mit der Wirt­schaft ver­bun­den sind.

Herr Kapi­tel­man, wir leben in Pan­de­mie-Zei­ten, Ihr Buch ist 2021 erschie­nen. Hat Corona die Publi­ka­tion und den Schreib­pro­zess eher aus­ge­bremst oder beschleunigt?
Die Arbeit am Manu­skript habe ich im Juli 2020 abge­schlos­sen. Zu die­sem Zeit­punkt leb­ten wir seit ein paar Mona­ten mit der Pan­de­mie. Ich schmiss das rus­si­sche Spe­zia­li­tä­ten-Geschäft mei­ner Eltern, damit sie sich nicht anste­cken und zu Hause blei­ben konn­ten. Diese Monate haben noch ein­mal extra emo­tio­na­li­siert. Men­schen kauf­ten sich Mas­ken und Klo­pa­pier unter der Nase weg, die EU schloss die Gren­zen. Das Gefühl einer gro­ßen Bedro­hung floss auch in mei­nen Epi­log ein. Auch die Angst davor, dass natio­nale Ego­is­men zuneh­men anstelle von Soli­da­ri­tät. Die Soli­da­ri­tät aber ist not­wen­dig für Her­aus­for­de­run­gen wie Pan­de­mie, Kli­ma­wan­del oder Wirtschaftskrise.

Das Gefühl, das wir selbst in der Kata­stro­phe eher in unsere poli­tisch-natio­na­len Ein­zel­teile zer­fal­len, ist am Ende defi­ni­tiv ein­ge­flos­sen. Alles, was aktu­ell herrscht, ist quasi ein­fach blöd. Zwar habe ich viele schöne Rück­mel­dun­gen von Lese­rin­nen und Lesern. Die große Distanz der­zeit ist aber ein­fach gemein und man fühlt sich vom Virus betro­gen. Dar­un­ter lei­den wir ja aber alle.

Vie­len Dank.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 04/2021.

Von |2021-04-01T11:57:44+02:00April 1st, 2021|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

„Der innere Bruch, den Flücht­linge ver­ar­bei­ten müs­sen, wird oft nicht bedacht“

Dmit­rij Kapi­tel­man über Kon­tin­gent­flücht­linge, Inte­gra­tion und sein neues Buch

Dmitrij Kapitelman ist Journalist und Autor von „Eine Formalie in Kiew“ (Hanser Berlin, 2021). Sandra Winzer ist ARD-Journalistin beim Hessischen Rundfunk.