Dmitrij Kapitelman & Sandra Winzer 1. April 2021 Logo_Initiative_print.png

„Der innere Bruch, den Flücht­linge ver­ar­bei­ten müs­sen, wird oft nicht bedacht“

Dmit­rij Kapi­tel­man über Kon­tin­gent­flücht­linge, Inte­gra­tion und sein neues Buch

In seinem aktuellen Roman „Eine Formalie in Kiew“ erzählt Dmitrij Kapitelman von einer Familie, die in die Fremde zog, um ein neues Leben zu beginnen, und am Ende ohne jede Heimat dasteht. Sandra Winzer spricht mit ihm über das Buch und auch seine eigene Migration nach und Integration in Deutschland.

Sandra Winzer: „Eine Formalie in Kiew“ erzählt von Dima, einem jungen Mann, der aus der ehemaligen Sowjetunion mit seinen Eltern nach Deutschland kam und nun auch amtlich Deutscher werden möchte. Durch das gesamte Buch zieht sich die Zahl 25. Warum ist sie so bedeutend?
Dimitrij Kapitelman: Weil es die Anzahl der Jahre ist, die vergangen sind, seit meine Familie und ich aus der Ukraine nach Deutschland gekommen sind. 25 Jahre sind der Großteil meines Lebens, ich bin heute 34. Umso fassungsloser macht es mich, dass es nach all der Zeit als Mitglied der Gesellschaft so schwierig ist, auch amtlich als Mitglied der deutschen Gesellschaft anerkannt zu werden. 25 Jahre sind ein Vierteljahrhundert, das Intervall einer ganzen Generation.

Ihr Protagonist Dima kämpft mit dem „bürokratischen Ballast“, der mit dem deutschen Pass verbunden ist. Sie schreiben Sätze, wie: „Migration hört eigentlich nie auf.“ – „Auch 25 Jahre später wandere ich immer noch nach Deutschland ein.“ Macht Sie das wütend?
Ja. Von Einwanderern wird wahnsinnig viel verlangt. Wollen Sie als Migrantin oder Migrant gewisse Rechte und Teilhabe haben, wird ihnen das oft schwer gemacht. Einerseits hört man „Bildet keine Parallelgesellschaften“ – andererseits fühlen sich viele Menschen gar nicht willkommen in einer deutschen Reihenhaus-siedlung. Es dringt durch, dass man nicht am Grundgerüst rütteln soll. Bis vor Kurzem stand in meinen Papieren: „Residenzpflicht“. Das bedeutet, dass ich theoretisch als Kontingentflüchtling nur in Sachsen leben dürfte, sofern ich nicht woanders arbeite. Ein Vierteljahrhundert später soll ich also noch immer in dem Bundesland bleiben, dem ich zugeteilt wurde?! Das ist doch irre. Solche Dinge machen mich wütend.

Das „Nicht-willkommen-Sein“ – wie zeigt sich das Ihnen im Alltag?
Z. B. durch Wahlerfolge der AfD, durch rechte Netzwerke in den deutschen Sicherheitsbehörden, aber auch durch Alltagsrassismus. Es kann durch den Mann im Wehrmachts-T-Shirt im ICE nach Hannover sein, der damit offenbar niemanden stört. Oder subtiler: Wenn man den vermeintlich falschen Namen hat, ist es schwieriger, Wohnungen zu bekommen. Auch gibt es viele Menschen, die mit der vermeintlich falschen Hautfarbe viel häufiger in Polizeikontrollen geraten. Dinge, die fast schon langweilen, weil man sie immer wieder hört – sie sind und bleiben aber real.

Realer Alltagsrassismus …
Bei diesem Thema bin ich, als weißer, blonder Mann, zwar nur bedingt ein guter Ansprechpartner, mir legt auch schon mal ein Nazi den Arm um die Schulter in der Kneipe und sagt hässliche Dinge, nur weil ich blond und weiß bin. Mein guter Freund aus Kamerun aber kehrt nach 100 Metern panisch um, wenn er merkt, dass er seinen Reisepass vergessen hat. Er sagt dann zu mir: „Vergiss es, ohne Ausweis gehe ich nicht aus dem Haus.“ Ich selbst war einmal in der Notaufnahme eines großen Leipziger Krankenhauses. Der Arzt fragte mich nach meinem Beruf – ich erzählte von mir als Journalist und Autor. Später sagte der Arzt: „Aha, Jude.“ Im gleichen Atemzug erzählte er, dass das ganze Krankenhaus AfD wählt. Sofort fühlte ich mich in meiner Haut nicht mehr wohl, solche Momente sind beängstigend.

Beängstigend erscheinen auch die Hürden, die auf Dima in Ihrem Buch immer wieder zukommen. Wochenlanges Warten auf Papiere, eine Reise nach Kiew für ein beglaubigtes Dokument … Auch Sie selbst haben das erlebt.
Ja. Dima zählt zu den Kontingentflüchtlingen. Eine der wenigen Migrantengruppen, die quasi „angeworben“ wurden mit der Begründung der historischen Verantwortung. Wenn ich dann, nach einer extrem erfolgreichen Integration, immer noch bürokratisch auf Distanz gehalten werde, macht mich das wütend. Auch Deutschland verliert dadurch Ressourcen. Menschen etwa, die begnadete Ärztinnen und Ärzte sein könnten, geben – hingehalten und frustriert – auf, weil ihnen die Kraft ausgeht. Wäre ich nicht schon so gut verwachsen mit Deutschland, hätte mich dieser Einbürgerungsprozess total zermürbt. Womöglich hätte ich gesagt: „Schluss, zu viel Schikane.“

In Ihrem Roman erzählen Sie auch eine Familiengeschichte. Von der innerlichen Grenzmauer, die Dima zur Mutter aufgebaut hat, die erst durch die gemeinsame Reise zu bröckeln scheint. Auch das Verhältnis zum Vater ändert sich. Haben auch Sie die sich wandelnden Dynamiken innerhalb der Familie durch die Aus- bzw. Einwanderung erlebt?
Ja. Hätte es die vielen persönlichen Emotionen meiner Familiengeschichte nicht gegeben, hätte ich das Buch nicht geschrieben. Niemand braucht einen Roman, der ausschließlich sagt: „Bürokratie nervt“. Ohne echte Liebesfragen ginge das nicht. Staat und Familie lassen sich nicht getrennt betrachten. Die politischen Umstände des Landes, in dem man lebt, prägen die Familie.

Ist dieselbe Familie im jeweils anderen Land eine andere?
Ja. Migration bedeutet nicht nur: Wir sind finanziell solide und schicken die Kinder an die Uni. Bei Migration gibt es einen menschlichen Bruch – innerhalb der Familie. Umfeld, Sprache oder Gesamtgefüge – im neuen Land ist nichts mehr vertraut. Deswegen glaube ich auch, dass von Einwandererinnen und Einwandern viel verlangt wird. Der innere Bruch, den Flüchtlinge verarbeiten müssen, wird oft nicht bedacht. Bei mir haben sich viele Menschen gemeldet, die bestätigen, dass mindestens ein Elternteil auf eine gewisse Art in Deutschland verwelkt ist. Dieser Aspekt ist leider selten Teil der Einwanderungsdebatte. Meist geht es nur um Sprachkenntnisse und Arbeitsquoten.

Was genau meinen Sie mit „verwelkt“?
Warum Einzelne innerhalb eines Umfeldes traurig werden, während andere prosperieren – das ist ganz individuell. Man muss aber beachten: Bei der Einwanderung verschwindet für Migrantinnen und Migranten jegliche Selbstverständlichkeit. Freundeskreis und Status gehen verloren, man startet als Niemand, ist in vielen Situationen unterlegen. Das sind tiefgreifende psychologische Momente, die bei vielen Menschen zu Rückzug führen. Bei meinem Vater etwa hatte ich das Gefühl, dass er unterschätzt hat, wie schwierig es ist, als Jude in Deutschland zu leben. Wir lebten in einer Gegend in Sachsen, in der es viele Neonazis gab. Rechte Propaganda war überall zu sehen in der Nachbarschaft, bis hin zu Neonazi-Partys im eigenen Haus. All das hat es meinem Vater kaum möglich gemacht, Deutschland richtig zu trauen.

Vielleicht wäre das anders gewesen, wären wir etwa nach Düsseldorf gegangen. Trotzdem: Jedes Mal, wenn ich ihm zeigen will: „Deutschland ist unser Freund“, taucht ein NSU-2.0-Skandal auf oder ein AfD-Wahlerfolg. Es ist schwierig, traumatisierten jüdischen Menschen ein sicheres Land zu versprechen, wenn die Gefahr immer wieder durchdringt.

Jüdischsein – der Begriff und das Thema kommen in Ihrem Buch kaum vor. Warum?
Ich wollte kein zweites Buch zum Thema „Jüdisches Leben in Deutschland“ schreiben. Wichtiger im aktuellen Buch ist die Frage: Wie kann es sein, dass die jüdischen Einwanderer in Deutschland so sehr um den deutschen Pass betteln müssen? Wann ist das politisch salonfähig geworden? Dabei geht es um alle Menschen, die längst Teil dieses Landes sind. Sie alle sollten mit den gleichen Rechten den gleichen Zugang bekommen. Ich möchte den Pass nicht als Identität diskutieren. Zu großem Teil steht ein deutscher Pass einfach für Privilegien, für Sicherheit.

Würden Sie soweit gehen zu sagen, „Jüdischsein“ in Deutschland heute emanzipiert sich noch immer – weg vom Holocaust zu einer frischen vielseitigen Identität? Jüdischsein heute kann doch mehr …?
Grundsätzlich stimme ich dem absolut zu. Wir sind müde, immer mit der Shoah verbunden zu werden. Das ist eine Belastung und eine Reduzierung einer tatsächlich vielfältigen, tollen und spannenden, ja, auch witzigen Kultur. Die Religion praktiziere ich zwar nicht selbst, mich interessieren aber die (Modernisierung-)Prozesse, die gerade im Judentum ablaufen. Keiner von uns möchte auf ewig in dieser Opfer-Schablone stecken. Von der Shoah kann sowieso niemand einfach so loskommen, dafür ist dieses Ereignis zu heftig. Der Punkt ist aber: Wer bestimmt heutzutage, wie sehr die Shoah in den Vordergrund gerückt wird? Wer besitzt die Hoheit über die Erinnerung und den Zeitpunkt, wann sie thematisiert wird? Hinter Forderungen, die Vielfalt des Judentums heute deutlicher zu zeigen, steckt auch die Forderung: Lasst uns selbst bestimmen, wann wir den Schmerz thematisieren und wann unsere Vielseitigkeit.

Sie schreiben nicht zwingend über die Staaten, sondern über die Gefühle, die sie in uns auslösen. Machen uns Staaten zu einem bestimmten Menschen, wenn wir in ihnen funktionieren wollen?
Ich weiß nicht, ob es die Staaten sind, die unseren Charakter prägen. Wir selbst schaffen ja auch den Staat. Wer wen beeinflusst, ist eine schwierige Frage. Ich würde es so formulieren: Migration hat neben all der Belastung auch eine sehr schöne Seite: Kultureller Reichtum ist kein Problem oder Defizit, im Gegenteil. Es ist wunderschön, mehrere Sprachen zu sprechen und mehrere Kulturen zu fühlen.

Bei der Frage „Wie sehr definiert der Staat einen Menschen?“ kann ich sagen: Mein Leben mit meinen verstreuten Zugehörigkeiten – deutsch, jüdisch, ukrainisch, russisch – fordert viel Autonomie, um festzustellen: Was gehört zu mir und was lehne ich ab? Aber ich kann finden, was wirklich zu mir selbst gehört. Wie ein Magnet.

Am Ende Ihres Buches wiederholt sich dieser Satz: „Nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten“. Ist das eine der Botschaften, die Sie sich rüberzubringen wünschen? Wir können Landsleute aller Herren Länder sein – wir können mehr als eines sein?
Zwar bin ich kein hoffnungsloser Utopist. Worauf ich aber hoffe, ist eine Weltgemeinschaft, in der Nationalitäten auf gleiche Weise gültig sind. Ohne Aggressivität und Chauvinismus. Ohne überhöhte nationalistische Egoismen, die eine humane Politik unmöglich machen. Um etwa eine Klimapolitik zu betreiben, die uns wirklich rettet. Viele Dinge scheitern letztlich an nationalen Egoismen, die wiederum mit der Wirtschaft verbunden sind.

Herr Kapitelman, wir leben in Pandemie-Zeiten, Ihr Buch ist 2021 erschienen. Hat Corona die Publikation und den Schreibprozess eher ausgebremst oder beschleunigt?
Die Arbeit am Manuskript habe ich im Juli 2020 abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt lebten wir seit ein paar Monaten mit der Pandemie. Ich schmiss das russische Spezialitäten-Geschäft meiner Eltern, damit sie sich nicht anstecken und zu Hause bleiben konnten. Diese Monate haben noch einmal extra emotionalisiert. Menschen kauften sich Masken und Klopapier unter der Nase weg, die EU schloss die Grenzen. Das Gefühl einer großen Bedrohung floss auch in meinen Epilog ein. Auch die Angst davor, dass nationale Egoismen zunehmen anstelle von Solidarität. Die Solidarität aber ist notwendig für Herausforderungen wie Pandemie, Klimawandel oder Wirtschaftskrise.

Das Gefühl, das wir selbst in der Katastrophe eher in unsere politisch-nationalen Einzelteile zerfallen, ist am Ende definitiv eingeflossen. Alles, was aktuell herrscht, ist quasi einfach blöd. Zwar habe ich viele schöne Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern. Die große Distanz derzeit ist aber einfach gemein und man fühlt sich vom Virus betrogen. Darunter leiden wir ja aber alle.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2021.

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