Hien Mai und Tim Ellrich

Man­che Men­schen leben in einer Gesell­schaft, ohne von die­ser wirk­lich wahr­ge­nom­men zu wer­den. Ein Leben zwi­schen zwei Län­dern, zwi­schen zwei Hei­ma­ten – genau diese The­ma­tik greift der Film MEIN VIETNAM von Hien Mai und Tim Ell­rich auf. Der Film han­delt von Hiens Eltern, die vor 30 Jah­ren als Boat-Peo­ple nach Deutsch­land gekom­men sind.

Hien Mai arbei­tet der­zeit für ein inter­kul­tu­rel­les Pilot­pro­jekt am Deut­schen Film­in­sti­tut und Film­mu­seum in Frank­furt und enga­giert sich bei dem Ver­ein „Über den Tel­ler­rand“. Sie arbei­tete u. a. als Kunst­be­treue­rin für den poli­tisch akti­ven Künst­ler Ai Wei­wei, nach­dem sie Kunst­ge­schichte u. Kunst­päd­ago­gik studierte.

Tim Ell­rich ist Film­re­gis­seur, Dreh­buch­au­tor und Pro­du­zent. Seine Filme wur­den auf über 350 inter­na­tio­na­len Film­fes­ti­vals aus­ge­strahlt und fei­er­ten große Erfolge. MEIN VIETNAM ist sein Debüt im Bereich des Doku­men­tar­films. Aktu­ell arbei­tet er an einem vom „ZDF Das Kleine Fern­seh­spiel“ geför­der­tem sze­ni­schen Projekt.

Vie­len Dank, Hien und Tim, für eure viel­sei­tige Arbeit und die­sen ein­drucks­vol­len Film!

Auf dem 42. Film­fes­ti­val Max Ophüls Preis fei­ert euer Film MEIN VIETNAM im Januar Deutsch­land­pre­miere. Wie kam es zu die­sem Film und eurer Zusam­men­ar­beit? Und worum geht es?
Hien: Stän­dig zwi­schen zwei Kul­tu­ren gleich­zei­tig zu sein, mit die­sem Spa­gat musste ich als Toch­ter von Geflüch­te­ten schon früh umge­hen. So beschäf­tigt mich das Thema seit­dem ich auf der Welt bin und ich habe auch län­ger schon damit künst­le­risch gear­bei­tet, aber diese bi-kul­tu­rel­len Erfah­run­gen in einem Doku­men­tar­film fest­zu­hal­ten, darin bestärkte mich Tim. Er ist Regie-Stu­dent an der Film­aka­de­mie Baden-Würt­tem­berg und wir sind ein Paar. Als er meine Eltern ken­nen­lernte hat es gleich gegen­sei­tig klick gemacht. Es ist nicht selbst­ver­ständ­lich, dass sie sich einer Per­son außer­halb der viet­na­me­si­schen Com­mu­nity so öff­nen und anders­herum ebenso wenig.

„Der Film stell die Frage, ob Hei­mat ein Ort oder viel­mehr ein Gemüts­zu­stand ist.“

Tim: Bei MEIN VIETNAM geht es um ein viet­na­me­si­sches Ehe­paar (Bay und Tam), das seit 30 Jah­ren in Mün­chen lebt und sich mit der Frage kon­fron­tie­ren muss, ob sie jemals in Deutsch­land ange­kom­men sind. Abseits der deut­schen Gesell­schaft arbei­ten sie gemein­sam als Rei­ni­gungs­kräfte in lee­ren Büro­räu­men und in ihrer Frei­zeit haben sie in ihrer Woh­nung ihr eige­nes vir­tu­el­les Viet­nam erschaf­fen, indem sie durch Skype und Online-Chat­rooms Kon­takt zu ihrer Fami­lie in der Ferne hal­ten. Der Film stell die Frage, ob Hei­mat ein Ort oder viel­mehr ein Gemüts­zu­stand ist. Es ist ein Film über die Schwie­rig­keit, an zwei Orten gleich­zei­tig zu leben, und die Frage, wel­che Aus­wir­kun­gen diese Dua­li­tät auf eine Ehe, Fami­lie und das Gefühl von Zuge­hö­rig­keit hat.

Der Film greift unter ande­rem die Frage der „Hei­mat“ auf. Was bedeu­tet „Hei­mat“ für euch?
Hien: Für mich ist Hei­mat oft das, was viele als Her­kunft anse­hen. So bedeu­tet Hei­mat für mich im Kern nicht viel, dage­gen spielt das „Zuhause“ eine wich­tige Rolle. Und das kann man sich (fast) über­all schaf­fen. Ich bin ab und an noch als Flug­be­glei­te­rin tätig, da habe ich an man­chen Orten die­ser Welt auch ein Gefühl von Zuhause. So ist es weni­ger bedeut­sam, wo die Hei­mat liegt, son­dern eher das Zuhause. Die Her­kunft ist natür­lich trotz­dem wich­tig. Ich möchte nur nicht auf die ursprüng­li­che Hei­mat redu­ziert werden.

Tim: Hei­mat ist auch für mich eine kom­pli­zierte Sache. Ich komme gebür­tig aus Osna­brück, aber lebe dort seit mehr als 10 Jah­ren nicht mehr. Wenn ich dort­hin zurück­komme, fühle ich mich wie ein Frem­der. Die Mut­ter­spra­che macht viel mei­nes Hei­mat­ge­fühls aus, doch gleich­zei­tig wird mein Leben immer mehr inter­na­tio­nal. Am Ende glaube ich dem etwas kit­schi­gen Satz, dass Hei­mat dort ist, wo die Men­schen sind, die du liebst.

Habt ihr für euch selbst aus dem Film und aus der Zusam­men­ar­beit daran etwas mitgenommen?
Hien: Auf jeden Fall! Für mich ist aus dem Toch­ter-Eltern-Ver­hält­nis eine enge Freund­schaft ent­stan­den. Und am meis­ten freut mich, dass meine Eltern nun auch rich­tig gut mit Tim befreun­det sind. Der Film hat es geschafft, dass sie sich gese­hen fühlen.

Tim: Ich habe zwei groß­ar­tige Men­schen ken­nen­ler­nen dür­fen und erlebt, wie das Kino und Fil­me­ma­chen Sprach­bar­rie­ren spren­gen kann. Allein gemein­sam die Ereig­nisse des Films mit­er­lebt zu haben und in Zei­ten der Freude, Ver­zweif­lung und Trauer dort zu sein, hat uns sehr zusam­men­ge­schweißt. Ich glaube auch dass diese Liebe, die beim Machen ent­stan­den ist, sich auch im Film wiederfindet.

Hien, aktu­ell arbei­test du am Deut­schen Film­in­sti­tut und Film­mu­seum in Frank­furt an einem inter­kul­tu­rel­len Pilot­pro­jekt. Wie bist du dazu gekom­men? Und woran arbei­tet ihr genau?
Das Pilot­pro­jekt „Unser DFF“ (Unser Deut­sches Film­in­sti­tut und Film­mu­seum) hat sich zur Auf­gabe gemacht, kul­tu­relle Teil­habe für alle zugäng­li­cher zu machen. Allein im Titel lässt sich her­aus­le­sen, dass wir ver­su­chen, Museen offe­ner zu gestal­ten. Ich habe schon in ver­schie­de­nen kul­tu­rel­len Ein­rich­tun­gen gear­bei­tet, hatte aber oft das Gefühl nicht wirk­lich etwas für die Zivil­ge­sell­schaft schaf­fen zu kön­nen. Ich liebe aktu­elle Film- und Kunst­kon­texte und des­halb zieht es mich immer wie­der in sol­che Projekte.

In die­sem inter­kul­tu­rel­len Pro­jekt arbei­ten wir daran, dass das DFF aus dem Stadt­zen­trum geht und Work­shops vor Ort mit sei­nen ver­schie­de­nen Koope­ra­ti­ons­part­ne­rin­nen und -part­nern an den Stadt­rän­dern umsetzt. Es ist eine rezi­proke Bewe­gung: Als Pro­jekt­team stel­len wir uns erst­mal bei den diver­sen Koope­ra­ti­ons­part­ne­rin­nen und -part­nern vor und dann geht’s ins Museum. Wir arbei­ten zusam­men daran, wie ein idea­les Film­mu­seum aus­se­hen kann und wie sich deut­sches Film-Erbe neu definiert.

Tim, wie hast du dein Inter­esse für Doku­men­tar­filme ent­deckt und woran arbei­test du momentan?
Ich würde gar nicht zwi­schen Doku­men­tar- und Spiel­film unter­schei­den. Im bes­ten Fall soll­ten näm­lich beide For­men sich um das authen­ti­sche Dar­stel­len der mensch­li­chen Ver­stri­ckun­gen bemü­hen. Bei MEIN VIETNAM war mir schnell klar, dass die­ses Thema nur davon pro­fi­tiert, wenn man es nicht fik­tio­na­li­siert, son­dern in der Rea­li­tät doku­men­ta­risch fest­hält. Momen­tan arbeite ich an mei­nem ers­ten sze­ni­schen Kino­spiel­film, der wahr­schein­lich 2022 ver­öf­fent­licht wird. Dies­mal wende ich mich mei­ner eige­nen Fami­lie zu und mache das Gegen­teil von MEIN VIETNAM. Ich nehme die Situa­tion in mei­ner Fami­lie und mache dar­aus nun eine fik­tio­nale Dra­ma­ti­sie­rung. Es geht um mei­nen schi­zo­phre­nen Onkel, der seit 30 Jah­ren bei mei­nen Groß­el­tern lebt und durch das Altern der pfle­gen­den Eltern, zu einem erneu­ten Pro­blem für die gesun­den Geschwis­ter wird. Die Haupt­fi­gur basiert dabei fast eins zu eins auf mei­ner eige­nen Mutter.

Die 15 The­sen der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion tra­gen den Titel „Zusam­men­halt in Viel­falt“. Was bedeu­tet für euch „Zusam­men­halt in Viel­falt“ und wel­che der 15 The­sen ist eure „Lieb­lings­these“?
Zusam­men­halt in Viel­falt bedeu­tet für uns Zusam­men­halt durch Mensch­lich­keit. In Viel­falt steckt eine Unter­schied­lich­keit, die eine große kul­tu­relle Berei­che­rung sein kann, aber nicht ohne Mei­nungs­ver­schie­den­heit ein­her­geht. Aber genau in die­sem Span­nungs­feld ler­nen wir, wie über­haupt zusam­men gelebt wer­den kann. Und Dinge rich­tig zu machen, aber auch feh­ler­haft zu sein, das ist menschlich.

„Zusam­men­halt in Viel­falt bedeu­tet für uns Zusam­men­halt durch Menschlichkeit.“

Unser „Lieb­ling“ ist somit These 7: „Ein­wan­de­rung und Inte­gra­tion gehö­ren zu unse­rer Geschichte“. Mit MEIN VIETNAM zei­gen wir näm­lich auch, dass „Deutsch­sein“ viele Facet­ten hat und sich kul­tu­relle Iden­ti­tät auch durch Zuwan­de­rung formt. Diese Geschich­ten sind für viele Men­schen unsicht­bar und genau des­halb braucht es sol­che Filme, die diese Teile der Gesell­schaft zei­gen und auf sie auf­merk­sam machen.

Vie­len Dank!

Von |2021-02-12T14:35:37+01:00Januar 1st, 2021|Menschen|Kommentare deaktiviert für Hien Mai und Tim Ellrich