Zwischenräume und noch nicht niedergeschriebene Geschichten: Es sind sehr unterschiedliche Themen, Aspekte, Objekte, die Ilit Azoulay neugierig machen, recherchieren lassen und letztlich überzeugen, ein Projekt zu beginnen. Die Arbeiten der im israelischen Jaffa geborenen Künstlerin marokkanischer Herkunft entstehen durch Collagierung verschiedener Materialien, aus denen sie meist großflächige Panoramen schafft. Zentral ist der Einsatz der Fotografie, mit der Azoulay Objekte geradezu scannt. Dies ist eine eigenständige Methode, welche die Künstlerin nach ihrem Master an der Bezalel Academy of Arts and Design in Tel Aviv ausgearbeitet hat. Ihre Projekte, von denen als Beispiele „Regarding Silences“, „No Thing Dies“ und „Implicit Manifestation“ genannt seien, wurden vielfach ausgestellt, etwa im New Yorker Museum of Modern Art, im Israel Museum in Jerusalem und im Dessauer Bauhaus Museum. Andere Arbeiten sind Teil von Sammlungen wie im Guggenheim Museum New York, im Centre Pompidou Paris und in der Daimler Art Collection Berlin. Behrang Samsami spricht mit Ilit Azoulay über ihren Weg zur Kunst, ihre spezifische Arbeitsweise, ihr Leben in Berlin und die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf ihr Schaffen.
Behrang Samsami: Frau Azoulay, wie sind Sie Künstlerin geworden?
Ilit Azoulay: Ich war ein sehr fantasievolles Kind, das gerne seine eigenen Welten erschuf und diese auch in die Realität umsetzte. Was ich heute in meinem Studio mache, ist sehr ähnlich. Ich wollte einfach nicht, dass der Traum, das zu tun, was ich will, aufhört.
Gab es ein bestimmtes Ereignis, eine Art Initialzündung?
Vielleicht war es ein Moment auf dem Gymnasium, das ich mit einem tänzerischen Profil absolvierte. In meiner Abschlusschoreografie überraschte ich meine Lehrerin, weil ich eine eigenständige Sprache gefunden hatte. Diese Erfahrung beeinflusste vielleicht meine künstlerische Vorgehensweise: Zuerst arbeite ich in einem Team, vervollständige das Werk im letzten Abschnitt eines jeden Projekts dann aber allein im Atelier. Da passiert etwas, das mich an diese Choreografie erinnert: Es entsteht eine Sprache, die aus der Menge des gesammelten Materials geboren wird.
Wie finden Sie die Themen für Ihre Arbeiten?
Sie basieren auf Recherchen. Mal ist es ein Gebäude, eine Sammlung oder ein kleiner Gegenstand, bei dem ich das Gefühl habe, dass da ein verborgener Teil von etwas Geschichtlichem drinsteckt. Es kann sich um Dinge handeln, die von einem Konflikt erzählen, weshalb sie quasi unter der Erde liegen, und ich denke, dass sie deshalb ausgegraben werden sollten. Über die Jahre habe ich eine Arbeitsweise entwickelt, die ich bei jedem Projekt anwende. Den Anfang bildet jeweils die Recherche in Zusammenarbeit mit meinem Studioteam oder mit externen Experten. Sie kann Geschichten, Charaktere und Ereignisse aus früheren Zeiten enthüllen, deren Gegenwärtigkeit aber nicht wahrgenommen wird. All das ist Teil einer Geschichte, die noch nie erzählt worden ist, oder wie ich gerne sage: Es sind „Nicht-Ereignisse“, die nicht mehr fotografisch festgehalten werden können. Hier beginnt der zweite Teil des Arbeitsprozesses. Ich suche nach Spuren, etwa nach Zeugen, Objekten, offiziellen Dokumenten und führe Gespräche z. B. mit Historikern, Linguisten und Architekten. All das wird in einem Archiv gesammelt, das das Projekt begleitet. Im letzten Abschnitt stelle ich gewissermaßen den Kontext wieder her. Das ist ein Prozess wie beim Puzzle, der neue Erkenntnisse über ein Thema enthüllt.
Können Sie uns ein Beispiel geben?
In der Stadt Zichron Ja’akov im Norden Israels gibt es ein Gebäude, das 1968 vom Architekten Yaakov Rechter im Stil des Brutalismus gestaltet wurde. Es wurde einige Jahre als Sanatorium genutzt und stand danach viele Jahre leer, bis eine Philantropin das Gebäude kaufte, um es in ein Kunstzentrum und Luxushotel umzuwandeln. 2006 wurde ich gefragt, ob ich das Gebäude vor, während und nach der Renovierung fotografieren könnte. Das tat ich und reiste jeden Monat dorthin, um Aufnahmen zu machen. So begann das Projekt, aus dem letztlich das Werk „Regarding Silences“ entstand. Zeitweise träumte ich sogar von dem Gebäude, über das zuerst keine Informationen zu finden waren. Mein Team und ich recherchierten, bis wir herausfanden, dass die Einrichtung 1974 geschlossen wurde. Die israelische Armee nutzte sie nach dem Jom-Kippur-Krieg, um 300 israelische Soldaten, die als Gefangene aus Syrien und Ägypten zurückgekehrt waren, über ihre Erlebnisse zu verhören. Darüber, was während der Verhöre geschehen ist, wurde geschwiegen. Es war tabu.
Was passierte dann?
Später brachen die Soldaten, die dort verhört worden waren, ihr Schweigen, das ihnen von den Behörden auferlegt worden war. So etwas als ehemaliger Soldat in Israel zu machen, ist schon eine bedeutende Sache. 1998 traten die früheren Kriegsgefangenen mit einer Webseite an die Öffentlichkeit, auf der sie von ihren Erlebnissen berichteten. Mein Team und ich interviewten 43 von ihnen mehrmals. Danach stellte ich die einzelnen Teile von „Regarding Silences“ fertig: Den Auftakt der Ausstellung bildete ein großer, weißer Raum. Man konnte sich dort mit dem Rücken zum Eingang auf fünf Sitzgelegenheiten setzen und Interviews einiger früherer Gefangener in mehreren Sprachen lesen. Das Werk besteht darüber hinaus aus Fotografien, die das ehemalige Sanatorium zeigen, und aus Puzzlestücken der Maueroberflächen, die allesamt quasi die Gegend dokumentieren.
Sie schaffen meist großflächige Panoramen, die auf mich teilweise wie Schwärme wirken und unterschiedliche Objekte, Materialien und Personen zeigen. Wie würden Sie – mit Blick auch auf diese Panoramen – selbst Ihre künstlerische Arbeit beschreiben?
Die Technik, die ich anwende, erlaubt mir, verschiedene Blickwinkel in einem einzigen, digital komponierten Bild zu zeigen. Indem ich diese Technik anwende, ist das fertige Werk frei von der Notwendigkeit, den einen „ausschlaggebenden Moment“ – „Decisive Moment“ nach Henri Cartier-Bresson – zu definieren und entlässt quasi die Perspektive des Fotografen aus der Verantwortung: So entsteht ein nicht hierarchischer Blick, der uns zu einem anderen Verständnis führen kann.
Aktuell leben und arbeiten Sie in Berlin.
2012 kam ich für ein halbes Jahr als Artist in Residence bei Kunst-Werke nach Berlin. An einem Ort zu wohnen, der einen „Sinn für das Morgen“ hat, war beflügelnd. Das Alltagsleben in Israel ist stressig und nicht ohne Ärger und Gefahren. Berlin ist nach meiner Erfahrung das Gegenteil. Hier hat man Ruhe zu recherchieren, zu arbeiten und einfach zu leben – ohne die Unwägbarkeiten und Probleme, die ich aus Jaffa kenne.Berlin ist als Stadt noch nicht rund und fertig wie Paris oder London. Man sieht im Gegenteil dessen Wunden, die langsam heilen. Hier sehe ich Ähnlichkeiten zu Israel. Das Land trauert noch immer wegen der Einschnitte, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat. Berlin und Tel Aviv haben Risse in den Wänden. Die Geschichte ist noch stark spürbar.
Hat die geografische Distanz zu Israel Ihren Blick auf das Land verändert?
Aus der Entfernung sehe ich vieles klarer. Ich bin nicht mehr Teil des Tornados, sondern kann von außerhalb darauf schauen. In Israel ist es meines Erachtens nicht möglich, die Situation zu reflektieren, solange diese anhält. Es gibt kein Post-Trauma, sondern ein permanent andauerndes. Man hat, wie ich schon sagte, keine Ruhe zum Nachdenken, sondern das Alltagsleben fordert einen ganz und gar. Es ist ein Gefühl konstanter Hyperventilation. Dazu kommen die Hitze und die Gefahr, dass das Land keinen Frieden findet, sondern im ständigen Ausnahme- bzw. Kriegszustand bleiben wird. Die Mauer, die größtenteils auf dem Gebiet der Westbank gebaut wurde, brachte zwar eine Art künstliche Stille, andererseits aber auch viel Spannung, Kummer und Unwissenheit, weil man nicht mehr weiß, was auf der anderen Seite passiert. Deswegen sage ich immer, dass ich nicht nach Berlin gezogen bin, sondern dass ich Israel verlassen habe. Und es hat dann wieder einige Jahre gedauert, bis ich erkannt habe, dass ich nicht mehr nach Israel zurückkehren kann und eine Art Emigrantin geworden bin, die ihre Heimat verloren hat. Das hat mich sehr traurig gemacht. Denn zuerst wollte ich erst zwei oder drei Jahre außerhalb Israels etwas tun. Mein Studio blieb in Jaffa. Erst vor Kurzem holte ich es hierher.
Mittlerweile gibt es auch in Berlin eine große israelische Community. Hat diese auch Einfluss auf Ihre Arbeit?
Bis jetzt noch nicht, aber ich möchte nicht ausschließen, dass ich in Zukunft auf ein von Berlin ausgehendes Projekt im Zusammenhang mit den hier lebenden Israelis stoßen könnte.
Hatte die Corona-Pandemie Auswirkungen auf Ihre Arbeit?
Die Herausforderungen, die damit gekommen sind, haben meine Arbeit enorm beeinflusst. Ein Projekt, das ich im Frühling auf Initiative des Islam-Museums in Jerusalem beginnen sollte, wurde bis auf Weiteres eingefroren.
Zudem war ich durch die Einschränkungen auf mein Kernteam beschränkt. Oft arbeite ich mit diversen Partnern zusammen, aber nun übernahmen ausschließlich meine Studio-Managerinnen Moranne Mintz und Christina Pethick die Recherchearbeit und für die formale Umsetzung der Arbeiten kollaborierte ich mit dem Künstler Jonathan Touitou, mit dem ich schon oft zusammengearbeitet habe.
„Feldarbeit“, also Reisen, Fotografieren und Interviewen, war nicht mehr möglich für uns und so bin ich aus dem Studio in Quarantäne gegangen. Meine Welt ist auf den Computerbildschirm geschrumpft. Ich saß eines Tages davor, gab das Wort „Hysterie“ ein, las die Ergebnisse und besuchte eine Datenbank, die Fotos für verschiedene Wirtschaftsbranchen anbietet. Hier entdeckte ich Tausende Fotos von Frauen, die meist einen Zustand von Angst, Unbehagen oder eben „Hysterie“ zeigten, und fragte mich, warum die Werbung solche Fotos verwendet. Die Recherchen ergaben, dass vor allem Pharmazie- und Versicherungsunternehmen solche Fotos als Teaser für neue Produkte nutzen. Der Unterschied zu Fotos mit männlichen Protagonisten war übrigens sehr groß. Ich hätte nie gedacht, dass eine Bilddatenbank je einmal die Basis eines neuen Projekts von mir werden könnte, aber die Arbeit damit brachte faszinierende Ergebnisse.
Wie sahen diese Ergebnisse aus?
Ich sah mir an, wie Fotos von „hysterischen“ Frauen aus dem Salpêtrière-Spital in Paris, der bekanntesten Einrichtung der Welt im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit „Hysterie“ als Krankheitsbild, komponiert worden waren. Jean-Martin Charcot, einer der federführenden Ärzte dort und Lehrer Sigmund Freuds, spielte in dem Kontext eine wichtige Rolle: 1882 richtete er eine neurologische Abteilung ein und installierte zu Forschungszwecken ein Fotolabor – das erste in einem Spital überhaupt. Charcot nahm Experimente an Frauen vor, denen „Hysterie“ attestiert worden war, und entwickelte Theorien, die ihre Grundlage auf diesen Fotografien hatten. Das Salpêtrière trug wesentlich dazu bei, dass das soziale Konstrukt „Hysterie“ als weibliche Krankheit gekennzeichnet wurde. Mir wurde bewusst, wie stark dieser männliche, patriarchalische Blick unser Leben bis heute beeinflusst, – und das machte mich wütend. Es ist im Übrigen ein ausschließlich westlicher Blick. Auch wenn das Projekt noch nicht abgeschlossen ist – die Pandemie war in diesem Fall sehr fruchtbar.
Vielen Dank.
Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2020-01/2021.