„The Invented History“: So lautet der doppeldeutige Titel einer Ausstellung, die noch bis Februar 2021 im KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst in Berlin zu sehen ist. Doppeldeutig deshalb, weil Künstlerinnen und Künstler wie Yael Bartana, Ramesch Daha, Anna Dasović, Aslan Ġoisum, Maryam Jafri und Nadia Kaabi-Linke traditionelle Geschichtsschreibungen als Konstruktionen bzw. „Erfindungen“ mit bestimmten, auch politischen Motiven infrage stellen. Das geschieht, indem sie auf vielfältige Art selbst „Geschichte(n) schreiben“ und so der gängigen Historie den Spiegel vorhalten. Kuratiert wurde „The Invented History“ von Kathrin Becker. Die Kunsthistorikerin war bis 2019 Leiterin des Video-Forums im Neuen Berliner Kunstverein und ist seit Februar 2020 neue künstlerische Direktorin des Ausstellungshauses in Berlin-Neukölln. Behrang Samsami spricht mit ihr über die aktuelle Schau, ferner über den auch von politischen Interessen beeinflussten Kulturaustausch zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion bzw. Russland und über das große Interesse an Werken von Künstlerinnen und Künstlern aus Afrika und dem Nahen Osten.
Behrang Samsami: Versteinerte Gewehre und Maschinenpistolen, die wie archäologische Funde in Museumsvitrinen ausgestellt werden; Briefe, Postkarten und offizielle Dokumente, die an einen im KZ Ravensbrück ermordeten Österreicher jüdischen Glaubens erinnern; Stuhlreihen, auf die sich nach und nach ältere Frauen und Männer hinsetzen: Es handelt sich um Tschetschenen, die die Deportation und Vertreibung im Zweiten Weltkrieg aus dem Nordkaukasus nach Zentralasien überlebt haben. In „The Invented History“ befassen sich Künstlerinnen und Künstler mit Geschichte, mit historischen Konstruktionen und Narrativen. Warum ist dieses Thema gerade so aktuell?
Kathrin Becker: Ich denke, dass das Bewusstsein, dass bestimmte Staatsführer versuchen, sich der Geschichte zu ermächtigen und sie umzuschreiben, in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Und dass Künstlerinnen und Künstler sich damit auseinandersetzen, ist kein neues Phänomen. Jetzt hat es aber eine bestimmte gesellschaftliche Dringlichkeit erlangt, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Künstlerinnen und Künstler sind durch ihre „seismografischen“ Fähigkeiten besonders gut in der Lage dazu – aus ihrer Biografie heraus oder als Folge der Beschäftigung mit bestimmten Narrativen. Und ihre Methoden sind gut geeignet, diesen Narrativen etwas entgegenzusetzen. Ein gutes Beispiel dafür ist Aslan Ġoisums Videoarbeit über die Deportation der Tschetschenen unter Stalin nach Zentralasien.
Die Künstlerinnen und Künstler, deren Arbeiten im KINDL zu sehen sind, leben teilweise in Berlin, sind aber größtenteils nichtdeutscher Herkunft. Spielt die Tatsache, dass sie mehrere Kulturen kennen und in sich tragen, in diesem Kontext eine besondere Rolle?
Das halte ich durchaus für eine große Möglichkeit. In der Ausstellung gibt es eine bestimmte Konzentration auf die Region den Nahen Ostens und umliegende Staaten. Dabei geht es um Länder wie den Irak, in denen es große politische und gesellschaftliche Umbrüche gab. Und diese Umbrüche gehen stark mit einer Neuinterpretation von Geschichte einher. Deshalb gibt es hier eine besondere Sensibilität und ein Bewusstsein dafür. Aber natürlich gibt es in Deutschland auch Künstlerinnen und Künstler, die keinen Migrationshintergrund haben und sich mit ähnlichen Themen beschäftigen. In den 1980er Jahren hat sich etwa der aus Kiel stammende Raffael Rheinsberg auf „Spurensuche“ begeben.
Was könnten die Tendenzen der nächsten Jahre sein?
Es ist schwer, solche zu benennen. Der Kunstbetrieb ist ein vielschichtiger Kosmos. Ich nehme aber wahr, dass Künstlerinnen und Künstler anfangen, in kollektiver Autorenschaft zu arbeiten. Das gilt auch für Kuratorinnen und Kuratoren, wenn wir etwa an die Kuratorinnen und Kuratoren der nächsten „documenta“ denken – ruangrupa, ein Kollektiv aus Indonesien.
Auch Ausstellungen als solche sind prozesshafter, ephemerer, flüchtiger geworden, etwa wenn man an die von September bis November 2020 gehende Berlin Biennale denkt. Da gab es ein Hintereinander verschiedener Prozesse, die die Ausstellungen in Gang setzten. So gesehen, entfernen wir uns von der repräsentativen, monumentalen Vorstellung, was eine Ausstellung oder ein Werk ist. Wichtig ist aber zu betonen: Das ist eine Tendenz. Es gibt Entwicklungslinien, an denen man sich orientieren kann. Und sie können vielleicht ein Feedback in der eigenen Arbeit haben oder einen bestimmten Bezugspunkt dazu bilden.
Sie haben in den 1980er und 1990er Jahren in der Sowjetunion respektive in Russland gelebt, gearbeitet und Ausstellungen mit Werken osteuropäischer Künstlerinnen und Künstlern in Deutschland kuratiert. Wie waren die deutsch-sowjetischen bzw. -russischen Beziehungen im Bereich Kulturaustausch und Museumskooperation in der damaligen Zeit?
Ich habe vor vielen Jahren einen Text mit dem Titel „Kulturaustausch als Eigentor“ geschrieben, in dem ich meine Beobachtungen im Kulturaustausch mit der Sowjetunion und Russland thematisiert habe. Mir scheint, dass es das Phänomen „Kulturaußenpolitik“ gibt – mit bestimmten politischen Interessen. Das ging so weit, dass ich damals dachte: Wenn man sich einen Künstler wie den von mir sehr geschätzten Ilja Kabakov anschaut, der uns die Hölle der kommunalen Küche oder der sozialistischen Poliklinik zeigt, könnte man ihn auch so lesen, als würde er – ohne, dass er die Absicht dazu hätte – im Grunde die Ideologie des Westens illustrieren. So gesehen, können Künstlerinnen und Künstler, Kuratorinnen und Kuratoren mitunter unbewusst für ein bestimmtes Kalkül dienen.
Und heute?
Sie werden feststellen, dass kaum eine documenta oder eine andere Ausstellung dieses Formats einem zeitgenössischen russischen Künstler überhaupt noch einen Platz anbieten würde. Dafür gibt es jetzt andere Wellen, den Nahen Osten oder Afrika. Es ist wichtig und notwendig, dass wir unseren auf Europa und den Westen zentrierten Blick lockern. Oft sind diese Entwicklungen aber auch nicht frei von einem übergeordneten, politischen Interesse.
Im Kulturaustausch spiegelt sich auch das politische Verhältnis zwischen Ländern wider?
Die Partner ändern sich. In den 1990er und den frühen 2000er Jahren gab es noch eine andere Vielfalt von Institutionen in Russland, mit denen man zusammenarbeiten konnte. Aber die kulturpolitische Ausrichtung des Landes hat sich geändert zulasten der Kunstfreiheit. Es gibt nicht zuletzt dadurch mehr und mehr Künstlerinnen und Künstler, die nicht mehr Russland als ihren Lebensmittelpunkt haben, sondern nach Berlin oder New York ziehen. Westliche Museumsdirektoren und Kuratoren sind nicht mehr im gleichen Umfang an der Situation interessiert wie Anfang der 1990er Jahre. Daher werden bei uns auch russische Künstlerinnen und Künstler nicht mehr wahrgenommen.
Können Sie uns ein Beispiel geben?
Anfang Oktober 2020 fand bei Sotheby’s eine Online-Auktion statt – unter anderem mit russischer Kunst der 1960er Jahre, also der Nonkonformisten und Avantgarde jener Zeit. Im Vergleich zu den Schätzpreisen wurden ihre Werke für lächerlich niedrige Preise verkauft – Werke auf museal höchstem Niveau.
Es handelt sich hier um ein sehr vielfältiges und schwieriges Konglomerat von Faktoren. Andererseits gibt es auch Repressionen in Russland. Ich weiß nicht, ob ich „The Invented History“ selbst mit den Künstlerinnen und Künstlern, die wir in der Schau haben, dort eins zu eins machen könnte. Denn es gibt jetzt auch Regulationen: Ausstellungen werden eingestuft und die Öffentlichkeit, die die Schau sehen kann, wird eingeschränkt.
Afrika und der Nahe Osten fielen als Stichwort. Wie werden die Werke von Künstlerinnen und Künstlern wahrgenommen, die aus diesen Weltregionen stammen? Haben sie gute Chancen, hierzulande ausgestellt und auch von Sammlerinnen und Sammlern gekauft zu werden?
Es gibt großes Interesse. Das hängt auch von Kuratoren wie dem 2019 verstorbenen Okwui Enwezor ab, von Personen wie Simon Njami oder Bonaventure Ndikung von SAVVY Contemporary, einem sehr engagierten Ausstellungsort, der Türen aufgestoßen und wichtige Projekte unterschiedlichster Größenordnungen unter der Beteiligung von Künstlerinnen und Künstlern aus unterschiedlichsten Ländern Afrikas gemacht hat. Das bedeutet einen Zuwachs an Ausstellungsmöglichkeiten für diese Künstlerinnen und Künstler. Der Markt entdeckt sie – und einige haben einen guten Markt. Manchmal – besonders wenn sich die Welle westlichen Interesses wieder abschwächt – kann es eine bedenkliche Entwicklung geben: Wenn eine bestimmte Region im westlichen Ausstellungsgeschehen dauerhaft nur noch von einem Künstler oder einer Künstlerin repräsentiert wird. Hier spricht man scherzhaft von den „üblichen Verdächtigen“.
Welche Rolle spielen hier aktuelle Diskurse?
Das Interesse an Werken von Künstlerinnen und Künstlern, die aus dem Nahen Osten oder aus Afrika stammen, ist verbunden mit politischen und gesellschaftlichen Debatten. In Deutschland war man im Mainstream lange der Überzeugung, dass es keine Kolonien gegeben oder dass Deutschland im Vergleich zu anderen Mächten nichts dramatisch Schlimmes getan hätte. Jetzt fangen wir aber an, unseren Stadtraum nach dieser Vergangenheit zu durchsuchen und zu dekolonialisieren.
Beispielsweise Straßennamen.
Ja, ich erwähne noch eine andere Entwicklung: Die in Südafrika geborene Künstlerin Lerato Shadi, die im KINDL eine Solopräsentation hat, hat in einem Interview beschrieben, dass es auch passieren kann, dass alles, was sie tut, immer unter dem Aspekt oder der Perspektive des Schwarzseins betrachtet wird. Malt sie eine Blume, malt sie nicht einfach eine Blume, sondern sie tut das als Schwarze. Diese Xenophilie ist oft die Kehrseite einer Xenophobie. Das betrifft auch uns: Während es bei den an Ausstellungen teilnehmenden Künstlerinnen und Künstlern meist sehr international zugeht, sind die Teams in Museen fast nur „biodeutsch“. Daher sollten wir auch über die Strukturen im Kunst- und Ausstellungsbetrieb nachdenken.
Zum KINDL: Was haben Sie sich für Ihre Zeit als künstlerische Direktorin vorgenommen?
‚Ich habe zwei Ziele, die mit der Hinwendung zu gesellschaftlichen Fragestellungen des Hauses zu tun haben. Ich möchte das Haus über die in den Ausstellungen verhandelten Inhalte hinaus in unserem Umfeld in Neukölln stärker verankern. So gibt es bereits ein Vermittlungsprogramm, das das KINDL mit der direkt neben uns gelegenen Boddin-Schule verfolgt, die viele Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund hat. Vom zweiten bis zum sechsten Schuljahr kommen die Schülerinnen und Schüler in regelmäßigen Abständen zu uns, lernen etwas über die jeweiligen Ausstellungen, haben aber auch einen Zeitanteil, in dem sie praktisch arbeiten. So gibt es die „Hellblauen Bücher“, die über die Jahre gestaltet werden.
Und was ist Ihr anderes Ziel?
Ich möchte noch mehr Zielgruppen an das Haus binden. So haben wir mit der größten Berliner Volkshochschule hier in Neukölln Kontakt aufgenommen. Ich kann mir verschiedene Formen der Kooperation vorstellen: Ob das Gesprächskreise für kunstinteressierte Menschen unterschiedlicher Altersgruppen sind oder ob wir ein Ort für jene werden könnten, die Deutsch als Fremdsprache lernen.
Ich weiß natürlich auch, dass sich der Bezirk gentrifiziert. Das ist ein unaufhaltsamer Prozess. Dennoch möchte ich nicht, dass das KINDL ein Ufo ist, sondern es soll ein offenes Haus sein. Unser Biergarten etwa läuft sehr gut im Sommer. Da sitzen dann sehr unterschiedliche Menschen. Vielleicht wird der eine oder die andere neugierig, wirft einen Blick ins Haus und findet so einen Zugang zu uns.
Vielen Dank.
Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.