Mit gerade einmal 22 Jahren wurde Dalia Grinfeld 2017 zur ersten Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) gewählt, dessen Gründungsmitglied sie ist. Ihre Mutter kommt aus Riga, ehemalige Sowjetunion, ihr Vater ist Argentinier. Sie zogen nach Berlin, wo Dalia aufwuchs und neben jüdischen Schulen auch das jüdische Jugendzentrum besuchte.
Heute ist sie stellvertretende Direktorin für Europäische Angelegenheiten bei der Anti-Defamation League (ADL). Sie studierte Politikwissenschaften und Jüdische Studien an den Universitäten Heidelberg, Buenos Aires und Herzliya. Darüber hinaus engagiert sie sich in diversen NGO’s in den Bereichen Frauen Empowerment, LGBTIQ*-Rechte und innovative Demokratie.
Vielen Dank, Dalia Grinfeld, für deine starke Stimme!
Du sprichst Deutsch, Englisch, Russisch, Spanisch und Hebräisch, bist in Berlin zur Schule gegangen, hast in Heidelberg, Buenos Aires und Herzliya studiert und in New York, Zürich und Brüssel gearbeitet. Was bedeutet „Heimat“ für dich?
Besonders als Jüdin in Deutschland und Mensch mit Migrationshintergrund wurde ich – unberechtigterweise – besonders oft gefragt wo ich “zu Hause” bin. Ich habe mir seit meiner Teenagertage den Kopf darüber zermartert, wo ich nun wirklich zu Hause bin. Mittlerweile sehe ich es nicht mehr so eng. Mit dem Konzept „Heimat“ verbinde ich meine Gefühle zu Menschen, Geschichten, Orten, vielleicht auch zu Erfahrungen, Gerüchen und Gelächter. Ich muss mich nicht in eine Box quetschen, welche nur ein einziges Kreuz für einen Ort der Heimat erlaubt. Im Gegenteil, ich schöpfe Kraft aus dem Gedanken verschiedene Assoziationen zu “Heimat” zu haben.
„Ich schöpfe Kraft aus dem Gedanken verschiedene Assoziationen zu ‚Heimat‘ zu haben.“
Du bist Jury-Mitglied unseres Fotowettbewerbs „Zusammenhalt in Vielfalt – Jüdischer Alltag in Deutschland“. Wieso liegt dir der Fotowettbewerb am Herzen?
Das wertvolle Motto “Jüdischer Alltag” hat es mir angetan. Es stellt einen wichtigen – leider oft vergessenen – Punkt in den Fokus: die realen Lebensrealitäten von Jüdinnen und Juden in all ihrer Komplexität. In Deutschland werden jüdische Gemeinschaften oft nur innerhalb des Koordinatensystems Shoah – Antisemitismus – Nahostkonflikt wahrgenommen. Dabei werden die durchweg existierende Diversität und die gelebten jüdischen Identitäten, zu Lasten des jüdischen Lebens in Deutschland heute, ignoriert. Daher freue ich mich insbesondere, dass das Motto fotografisch Platz schafft für jüdisch-deutsche Alltagserlebnisse, Alltagserfahrungen, Alltagsgedanken usw. Ich bin sehr gespannt auf die Fotos, die uns erwarten und bin mir sicher, dass wir überrascht sein werden.
„Ich freue mich, dass das Motto ‚Jüdischer Alltag‘ fotografisch Platz schafft für jüdisch-deutsche Alltagserlebnisse, Alltagserfahrungen, Alltagsgedanken.“
In diversen NGO’s und in den Sozialen Medien setzt du dich für ein aktives und öffentliches jüdisches Leben in Deutschland ein. Für dieses Engagement erhältst du nicht nur positives Feedback, sondern leider auch oft Hasskommentare. Was muss deiner Meinung nach gegen Antisemitismus getan werden?
Wir müssen auf zwei Ebenen handeln.
1) Schutz: Die Bedürfnisse von Jüdinnen und Juden zum Schutze des eigenen Daseins müssen von Politik und Gesellschaft ernst genommen werden und das nicht nur am Jahrestag von Halle oder des Holocausts. Das bedeutet, diese zu erfragen und die Forderungen durchzusetzen. Die Liste ist verständlicherweise lang. Einer der nächsten bedeutenden Schritte ist die Implementierung der u. a. vom Bundestag verabschiedeten Arbeitsdefinition von Antisemitismus in Justiz, Polizei, Schule. Besonders interessant wird die Umsetzung der Polizei bei der Nachverfolgung von Online-Hasskriminalität sein, die im kommenden Jahr zunehmen wird, da Plattformen wie Facebook nun verpflichtet sind, diese polizeilich zu melden.
2) Prävention: Hier müssen wir gemeinsam in der formellen, aber auch in der informellen Bildung darauf pochen, dass zukünftig jüdisches Leben nicht eindimensional dargestellt wird, sondern jüdisches Leben in Realität verstanden und erlebt wird. Dazu gehört für Jugendliche gerne auch jüdischen Institutionen auf Instagram oder TikTok zu folgen.
Aktuell bist du für Europäische Angelegenheiten bei der Anti-Defamation League (ADL) zuständig. Was macht die Organisation genau?
Die ADL hat mich seit meinem ersten Kontakt über die Jüdische Studierendenunion durch ihre Mission begeistert: Die Diffamierung von Jüdinnen und Juden zu stoppen und die Gerechtigkeit und faire Behandlung für alle sicherzustellen. In Europa unterstützen wir vor allem jüdische Gemeinschaften in ihrer politischen Arbeit, besonders im Kampf gegen Antisemitismus und Extremismus und für religiöse Freiheiten. Zusätzlich bieten wir zusammen mit unseren Partnerinnen und Partnern, wie z. B. der Europäischen Union Jüdischer Studierender (EUJS) Bildungs- und Aktivismusprogramme für jüdische Studierende und Anti-Voreingenommenheiten (anti-bias) Trainings für Unternehmen an. Weltweit arbeiten wir mit über 400 Kolleginnen und Kollegen täglich unter dem Motto “Fighting Hate for Good” (Hass für Gutes bekämpfen).
„Das Konzept Engagement ist nicht nur ein Leitfaden in meinem Leben, sondern in unserer Gesellschaft.“
Die 15 Thesen der Initiative kulturelle Integration tragen den Titel „Zusammenhalt in Vielfalt“. Was bedeutet für dich „Zusammenhalt in Vielfalt“ und welche der 15 Thesen ist deine „Lieblingsthese“?
Das Elternteil soll also das Lieblingskind benennen? Dann nehme ich These 9: „Die parlamentarische Demokratie lebt durch Engagement.“ Das Konzept Engagement ist nicht nur ein Leitfaden in meinem Leben, sondern in unserer Gesellschaft. Kein individuelles und kollektives Engagement würde Stillstand bedeuten. Im Gegenschluss dazu: Je mehr demokratisches Engagement, je mehr aktive Teilhabe, desto stärker ist unsere Demokratie geprägt von ihren Nutzerinnen und Nutzern und desto höher ist die Möglichkeit für mehr Zugehörigkeit für alle. „Zusammenhalt in Vielfalt“ bedeutet, Individuen und auch Kollektiven in all ihrer Komplexität und ihrer lebensechten Intersektionalität Platz zu schaffen und ihr Florieren als solche zu ermöglichen. Dabei soll der Prozess als etwas Wertvolles und Schönes wahrgenommen und kommuniziert werden.