Im Geden­ken wie­der vereint

Gun­ter Dem­nig im Gespräch über seine Stolpersteine 

Seit den 1990er Jah­ren wer­den sie in Deutsch­land, Europa und der Welt immer mehr: die als Stol­per­steine bekann­ten ins Trot­toir ein­ge­las­se­nen Gedenk­ta­feln aus Mes­sing. Der Künst­ler Gun­ter Dem­nig erin­nert mit ihnen an die Opfer der NS-Zeit.

Jeder Stein ist indi­vi­du­el­ler Gedenk­ort, der nament­lich und per­sön­lich wür­digt. Er ist aber auch ein vom Bild­hauer her­ge­stell­tes Kunst­werk. Gemein­sam bil­den alle Steine und invol­vier­ten Men­schen eine soziale Skulp­tur in Anleh­nung an Joseph Beuys. The­resa Brüh­eim spricht mit Gun­ter Dem­nig über die indi­vi­du­ell wür­di­gende Erin­ne­rung eines jeden Stol­per­steins, die Zusam­men­füh­rung aus­ein­an­der geris­se­ner Fami­lien im Geden­ken und eine euro­päi­sche Erinnerungskultur.

The­resa Brüh­eim: Jeden Tag laufe ich an den vier Stol­per­stei­nen der Fami­lie Fran­ken­stein in der Ber­li­ner Kolon­nen­straße vor­bei. Der Vater war Arzt und prak­ti­zierte in der Kolon­nen­straße 12. Gemein­sam mit sei­ner Frau und den zwei Kin­dern hatte die Fami­lie eben­dort auch ihre Woh­nung – bis ihnen 1938 frist­los Woh­nung und Pra­xis­räume gekün­digt wur­den. Die Fami­lie konnte nach Paläs­tina aus­rei­sen – zuerst die Kin­der, dann die Eltern. Das sind vier von über 75.000 Stol­per­stei­nen, die Sie in über 26 euro­päi­schen Län­dern ver­legt haben. Sie berich­ten unter ande­rem vom frü­he­ren jüdi­schen Leben. Wie kamen Sie auf die Idee zu den Stol­per­stei­nen, Herr Demnig?
Gun­ter Dem­nig: Im Mai 1940 wur­den Roma und Sinti zahl­reich depor­tiert. In Erin­ne­rung daran habe ich eine Erin­ne­rungs­spur gestal­tet. Aus­lö­ser dafür war ein Gespräch mit Kurt Holl. Er enga­gierte sich bei der „Köl­ner Roma-Initia­tive“, aus der 1988 der Hilfs­ver­ein Rom e. V. her­vor­ging. Im Mai 1990 sollte an diese Depor­ta­tion gedacht wer­den. Da ich schon zuvor Schrift­spu­ren gestal­tet habe, schlug ich vor, eine Schrift­spur von den Wohn­häu­sern, wo diese Men­schen abge­holt wur­den, bis zur Deut­zer Messe in Köln zu legen. Die Deut­zer Messe war Außen­la­ger des KZ Buchen­wald, direkt gegen­über war der Bahn­hof Köln Deutz tief – ohne die Reichs­bahn hätte keine Depor­ta­tion statt­fin­den können.

Ich habe dann beim Ord­nungs­amt einen Antrag gestellt, eine Krei­de­spur zu machen. Die dach­ten, ich würde mit Schul­ta­fel­kreide immer wie­der den glei­chen Schrift­zug zeich­nen und geneh­mig­ten. Sie wuss­ten nicht, dass ich eine Druck­ma­schine bauen würde, die fort­lau­fend den Text – zehn Zen­ti­me­ter hohe Buch­sta­ben – auf die Straße druckt. An eini­gen Stel­len hat die Spur drei Monate gehal­ten, da ich mit Fas­sa­den­farbe gear­bei­tet habe. Das war der Anfang.

Irgend­wann war die Spur weg­ge­wa­schen. Dann kam die Idee, an mar­kan­ten Stel­len, wie Rat­haus, Gestapo-Haupt­quar­tier, Poli­zei­prä­si­dium, Brü­cken und Wohn­häu­sern, die Spur in Mes­sing nach­zu­ver­fol­gen – nur vier Zen­ti­me­ter hoch, aber dau­er­haft verlegt.

Als ich in der Köl­ner Süd­stadt ver­legte, kam eine ältere Dame, eine Zeit­zeu­gin, dazu, und sagte im Brust­ton der Über­zeu­gung: „Was Sie hier machen, ist eine ganz schöne Sache. Aber bei uns im Vier­tel haben nie­mals ‚Zigeu­ner‘ gelebt.“ Ich habe ihr meine Unter­la­gen gezeigt, der Frau ist die Kinn­lade run­ter­ge­fal­len. Gerade die Sinti waren seit mehr als 400 Jah­ren in West­eu­ropa zu Hause, sie waren total assi­mi­liert – völ­lig nor­male Nach­barn. Das war für mich der Aus­lö­ser, die Namen dort­hin zurück­zu­brin­gen, wo das Grauen ange­fan­gen hat, wo die Men­schen zu Hause waren, wo sie ihre Hei­mat hat­ten. Denn wer kann sich heute Ausch­witz vor­stel­len, wenn er nicht schon mal dort war?

Mit den Stol­per­stei­nen wer­den nicht nur die Namen zurück­ge­bracht, son­dern auch Geburts­tag, Geburts­ort und wei­tere kurze Anga­ben zum Schick­sal. Wie bei der Fami­lie Fran­ken­stein aus der Kolon­nen­straße kann man so über die Per­so­nen recher­chie­ren. Wel­che Rolle spielt diese indi­vi­du­elle, nament­li­che Wür­di­gung in unse­rer Erinnerungskultur?
Es gibt viele Gedenk­stät­ten, die anonym sind. Ein­mal im Jahr wer­den Kränze abge­legt, dann ist es wie­der ver­ges­sen. Für mich war ganz wich­tig, die Namen dort­hin zu brin­gen, wo es ange­fan­gen hat. Ich möchte sie zurück in unsere Städte holen – dahin, wo die Men­schen einst ihren Lebens­mit­tel­punkt hat­ten. Ich will die Leute wirk­lich drü­ber stol­pern las­sen. Im Tal­mud heißt es: „Eine Per­son ist erst dann ver­ges­sen, wenn man sich nicht mehr an ihren Namen erinnert.“

Zuerst wollte ich eine Gedenk­ta­fel an die Häu­ser, in denen die Men­schen gelebt haben, anschrau­ben. Bis mir ein jüdi­scher Redak­teur beim WDR gesagt hat: „Gun­ter, Gedenk­ta­feln an der Wand für die Opfer der Nazis? Ver­giss es. 80 bis 90 Pro­zent der Haus­be­sit­zer sind nicht­jü­di­sche Opfer.“ Dann kam die Idee der Stol­per­steine auf.

Eine Vor­aus­set­zung zur Ver­le­gung der Stol­per­steine Ihrer­seits ist, „dass im Geden­ken die Fami­lien wie­der zusam­men­ge­führt wer­den“. Was mei­nen Sie genau damit, was wol­len Sie erreichen?
In Deutsch­land haben die Juden sehr früh gemerkt, dass es gefähr­lich wird. Sie haben ver­sucht, ihre Kin­der zu ret­ten. Aber wer schickt seine Kin­der frei­wil­lig in die Wüste nach Paläs­tina oder zu den Kindertransporten?

Ich denke, das Bewusst­sein oder die Ahnung war da, dass die Fami­lien sich nicht wie­der­se­hen. Das heißt, sie gehö­ren in der Erin­ne­rung ein­fach zusam­men – das ist mir sehr wichtig.

Prä­gend war für mich eine der ers­ten Stol­per­stein­ver­le­gun­gen in Roten­burg (Wümme): Die Eltern der Fami­lie kamen in Ausch­witz um, aber ihre bei­den Töch­ter waren über einen Kin­der­trans­port geret­tet worden.

Zur Ver­le­gung reis­ten die bei­den Töch­ter quick­le­ben­dig an – eine aus Kolum­bien, eine aus Schott­land. Beide hat­ten sich seit 60 Jah­ren nicht mehr gese­hen. Und sie waren so glück­lich dar­über, im Geden­ken wie­der mit ihren Eltern zusam­men zu sein.

Die Stol­per­steine bil­den das größte dezen­trale Mahn­mal der Welt. In Deutsch­land sind sie all­ge­gen­wär­tig. Wie sind die Reak­tio­nen auf die Stol­per­steine in ande­ren euro­päi­schen Ländern?
Immer posi­ti­ver, sodass wir uns vor Arbeit eigent­lich nicht ret­ten kön­nen. Egal wo, die Ver­le­gung neuer Stol­per­steine und die jewei­li­gen Schick­sale sind immer wie­der eine berüh­rende Sache, das geht nicht vorbei.

Auf­grund der Corona-Pan­de­mie muss­ten Sie Ihre Rei­sen nach Ost­eu­ropa zur Ver­le­gung wei­te­rer Stol­per­steine absa­gen. Was bedeu­tet das?
Das ist eigent­lich kein Pro­blem. Ich muss die Steine nicht unbe­dingt immer per­sön­lich ver­le­gen. Die Steine sind von den Beauf­trag­ten der Stadt ver­legt wor­den. Es wur­den Fotos gemacht, die zu den Ange­hö­ri­gen nach Ame­rika, nach Israel etc. geschickt wurden.

Denn auch die konn­ten nicht kom­men. Wenn wir alle wie­der rei­sen kön­nen, dann kom­men sie zusam­men: Die Steine wer­den geputzt, es wird ein Tuch drauf­ge­legt und es gibt eine Denk­mal­ent­hül­lung. Es geht also wei­ter. Das Pro­jekt ist nicht gebremst. Wir sind in der Her­stel­lung so weit, dass sogar noch ein Hel­fer ein­ge­stellt wurde.

Inwie­weit tra­gen die Stol­per­steine, die in über 26 euro­päi­schen Län­dern ver­legt sind, zu einem gemein­sa­men euro­päi­schen Geden­ken bei?
In der Regel sind wir alle doch sehr viel unter­wegs in Europa. Sieht man dann die Stol­per­steine auch in ande­ren Län­dern, merkt man schnell: „Hier auch.“ Wir sehen deut­lich, wo über­all die deut­sche Wehr­macht, die SS, die Gestapo ihr Unwe­sen getrie­ben haben.

2018 haben Sie auf Mal­lorca zum ers­ten Mal soge­nannte „Remem­brance Stones“ in Erin­ne­rung an die Opfer der Franco-Dik­ta­tur in Spa­nien ver­legt. Wie kam es dazu?
Das fing mit den soge­nann­ten Rots­pa­ni­ern an. Die Uni­ver­si­tät in Bar­ce­lona hatte eine Initia­tive gestar­tet, um die Rots­pa­nier zu wür­di­gen, die gegen Franco gekämpft hat­ten und dann flie­hen muss­ten. Sehr viele sind nach Frank­reich und haben sich der Résis­tance ange­schlos­sen. Aber unge­fähr 6.000 von ihnen sind von der Gestapo fest­ge­nom­men und in Maut­hau­sen ermor­det wor­den. Für diese Rots­pa­nier haben wir farb­lich abge­ho­bene Stol­per­steine aus Edel­stahl gemacht – die „Remem­brance Stones“.

Für mich ist beson­ders das Inter­esse von Schü­lern und Stu­die­ren­den wich­tig. Wenn sie z. B. bei einer Ver­le­gung dabei sind und über Namen auf den Stol­per­stei­nen einen ande­ren Geschichts­un­ter­richt erfah­ren. Wenn junge Men­schen heute ein Buch auf­schla­gen und von sechs Mil­lio­nen Juden lesen, die im Holo­caust ermor­det wur­den, bleibt es eine abs­trakte Größe. Aber sobald eine Aus­ein­an­der­set­zung mit Fami­li­en­schick­sa­len statt­fin­det, fan­gen auch die Schü­ler an zu rech­nen: „Der war ja so alt, wie ich jetzt bin, als der nach Paläs­tina oder zum Kin­der­trans­port geschickt wor­den ist.“

Vie­len Dank.

Die­ses Inter­view ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2020.

Von |2020-10-26T10:08:37+01:00September 7th, 2020|Bürgerschaftliches Engagement, Menschenrechte|Kommentare deaktiviert für

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Gun­ter Dem­nig im Gespräch über seine Stolpersteine 

Gunter Demnig ist Künstler und steht hinter den Stolpersteinen. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.