Im Jahr des 30. Mauerfalljubiläums erzählen zwei in der DDR aufgewachsene Autoren über die Vor- und Nachwendezeit. Und verschaffen so Einblick in Träume, Hoffnungen und Ängste der Menschen, die diese Zeit erlebt haben.
Lutz Seiler schreibt in „Stern 111“ über eine Familie aus Gera: Die Eltern verlassen unmittelbar nach dem Mauerfall überstürzt und fluchtartig ihre Heimat. Über ihren Lebenstraum lassen sie den Sohn bis kurz vor Ende der Erzählung im Dunkeln. Es bleibt mehr als fraglich, ob die Erfüllung ihres Traums das Glück bedeutet, das sie sich erhofft haben. Der Sohn wiederum hält nicht, wie ihm von den Eltern angetragen wird, in der Wohnung in Gera die Stellung, sondern bricht mit dem Shiguli nach Berlin auf. Als „Shigulimann“ findet er Eingang in die „Szene“: junge Menschen, die leer stehende Häuser besetzen. Eine Mischung aus Kampfbereitschaft, Guerillatum und Aufbruch charakterisiert sie. Wir erleben die Hoffnungen und Zweifel des jungen Mannes, die Gründung des Kellerlokals „Assel“ und das schleichende Ende dieser ersten Nachwende, in der vieles möglich schien und kurzzeitig auch war.
Ingo Schulze erzählt in „Die rechtschaffenen Mörder“ von Norbert Paulini, der sein Leben als junger Mensch dem Lesen widmet. Folgerichtig eröffnet er in Dresden ein Antiquariat, schafft einen Anlaufpunkt für Bücherliebhaber, stößt auf Schätze, veranstaltet Lesungen und ermöglicht Begegnungen. Alles unter dem Radar der Stasi. Paulini ist ein unpolitischer Mensch, wird von der Wende überrascht, ebenso von den Folgen. Wir erleben, wie er, hochgebildet und weltoffen, einen Wandel in eine ausländerfeindliche reaktionäre Richtung vollzieht. Die geschickte Erzähldramaturgie erlaubt es dem Leser, die Figur aus verschiedenen Perspektiven zu sehen und seine Verwandlung, wenn auch nicht zu akzeptieren, doch im Sinne einer Ursachenforschung zu verstehen.
Beide Bücher vermitteln Erkenntnisse über DDR-Biografien und die Seelenlage der Menschen, die plötzlich mit einer radikalen Wende ihres Lebens konfrontiert wurden. Spannend zu lesen sind sie außerdem.
Barbara Haack
Lutz Seiler. Stern 111. Berlin 2020
Ingo Schulze. Die rechtschaffenen Mörder. Frankfurt am Main 2020