Klima der Angepasstheit

Gebot der Stunde oder gefähr­lich für die Demokratie?

„Hal­ten Sie Abstand von 1,5 Metern und tra­gen Sie Ihren Mund­schutz“, tönt es in regel­mä­ßi­gen Abstän­den aus dem Laut­spre­cher am Bahn­hof. Auf dem Bild­schirm öffent­lich-recht­li­cher Rund­funk­sen­der blinkt links oben die Text­ein­blen­dung „Blei­ben Sie zu Hause“. Hätte es die Corona-Krise nicht gege­ben, wäre dies der Stoff für einen Sci-Fi-Film gewe­sen. Bis vor Kur­zem wurde China und sein Social-Scoring, indem Bür­ger kon­ti­nu­ier­lich in ihrem Ver­hal­ten über­wacht und belohnt wer­den, wenn sie im Sinne des staat­li­chen Gemein­wohls agie­ren, als ein Schreck­ge­spenst der digi­ta­len Über­wa­chung dargestellt.

Die Vor­stel­lung, es gibt den einen „rich­ti­gen“ Weg zu han­deln, wird zuneh­mend salon­fä­hig in unse­rer Gesell­schaft. Dies führt zu star­ken Pola­ri­sie­run­gen. Auf der einen Seite bei­spiels­weise die­je­ni­gen, die den Mund­schutz als ein­zige Alter­na­tive erach­ten und Gegen­mei­nun­gen mit dem Argu­ment begeg­nen, man nehme die Krank­heit und den Tod Drit­ter bil­li­gend in Kauf, und auf der ande­ren Seite die­je­ni­gen, die dies als Ein­griff in die demo­kra­ti­schen Grund­rechte emp­fin­den oder andere, die gar Ver­schwö­run­gen wittern.

Pola­ri­sie­rung und der Bedarf, sich einem Lager zuzu­ord­nen, wird durch soziale Medien beför­dert. In einer Zeit, wo all unsere Hal­tun­gen trans­pa­rent gewor­den und wir kon­ti­nu­ier­lich der Gefahr eines Shit­s­torms aus­ge­setzt sind, suchen wir Verbündete.

Aber wie soll Demo­kra­tie in einem Klima der Auf­ge­regt­heit, der Pola­ri­sie­rung und der dar­aus resul­tie­ren­den Ange­passt­heit funk­tio­nie­ren? Besteht Demo­kra­tie nicht im Aus­han­deln von Kom­pro­mis­sen? Und ist das Pro­kla­mie­ren des einen „rich­ti­gen“ Wegs im Staat nicht eine Ideo­lo­gie? Brau­chen wir nicht Mei­nungs­viel­falt? Wird der öffent­li­che Rund­funk sei­ner Auf­gabe gerecht, wenn er „staat­li­che“ Hal­tun­gen und Rich­tungs­ent­scheide nicht auch kri­tisch kom­men­tiert? Zugleich jedoch ein­sei­tig Stel­lung bezieht, wenn in den Nach­rich­ten betont wird, dass Teile der bür­ger­li­chen Mitte, die sich gegen die Mas­ken­pflicht wen­den, von Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­kern beein­flusst seien? Statt offen zu las­sen, ob nun eine eigene Mei­nung dahin­ter steht oder nicht? Darf es sein, dass ein Poli­ti­ker, der das Been­den eines Aus­nah­me­zu­stands ins Gespräch bringt, sofort in eine Ecke gedrängt und ver­ur­teilt wird? Was ist mit der krebs­kran­ken älte­ren Pati­en­tin, die lie­ber das Risiko des Todes durch eine Corona-Erkran­kung auf sich neh­men will, als die letz­ten Wochen des Lebens iso­liert ohne Kin­der und Enkel­kin­der ver­brin­gen zu müs­sen? Lebens­schutz ist wich­tig! Lebens­qua­li­tät sollte jedoch auch immer mit bedacht wer­den! Auch das Pro und Con­tra einer Maske und des Kon­takt­ver­bots muss in einer Demo­kra­tie offen und respekt­voll mit­ein­an­der dis­ku­tiert wer­den können!

Ange­passt­heit und blin­der Regel­ein­halt sichern weder den Schutz von Risi­ko­grup­pen noch den der Demo­kra­tie. In einem fast lee­ren Bus bedarf es weni­ger des Tra­gens einer Maske, statt in der vol­len Fuß­gän­ger­zone, wo viel­fach weder Maske noch Abstand gewahrt wird. Die Pan­de­mie­re­geln zur Maske geben das so kon­kret nicht vor, aber der eigene Sach­ver­stand des ver­ant­wor­tungs­vol­len Bür­gers kann im Gegen­satz zur Maschine situa­ti­ons­be­dingt ent­schei­den! Es gilt zu wün­schen, dass Medien und Künste ihre Ver­ant­wor­tung wahr­neh­men und viel­fäl­tige Per­spek­ti­ven jen­seits ver­krus­te­ter Lager auf­zei­gen. Die neue Pan­de­mie-Erfah­rung for­dert eine Gesell­schaft in beson­de­rem Maße zu Fle­xi­bi­li­tät und krea­ti­vem Han­deln her­aus! Es gilt daher, kon­ti­nu­ier­lich neue Lösungs­wege zu ent­wi­ckeln und demo­kra­tisch neue Regeln unter akti­ver Ein­be­zie­hung aller Bür­ger aus­zu­han­deln, die Lebens­schutz, aber auch Lebens­qua­li­tät in den Blick nehmen!

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 07-08/2020.

Von |2020-07-31T10:56:04+02:00Juli 6th, 2020|Grundgesetz, Medien|Kommentare deaktiviert für

Klima der Angepasstheit

Gebot der Stunde oder gefähr­lich für die Demokratie?

Susanne Keuchel ist Präsidentin des Deutschen Kulturrates.