Ein Duft, der 1913 zum 300-jährigen Jubiläum der Romanow-Dynastie kreiert wurde, ist Ausgangspunkt zweier heute noch berühmter Parfüms: Chanel N°5 und Rotes Moskau. Beide Düfte basieren auf einer Komposition von französischen Parfümeuren im Zarenreich: Ernest Beaux ging nach der Revolution nach Frankreich und traf dort auf Gabrielle (Coco) Chanel, Auguste Michel blieb in Russland und baute die sowjetische Parfümindustrie wieder mit auf. In dem Buch „Der Duft der Imperien“ geht der Historiker Karl Schlögel dem Bouquet auf die Spur, welches mit unterschiedlichen Nuancen zwei Imperien in die Moderne begleitete.
Von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zutiefst erschüttert, deutete in Europa alles auf einen großen Umbruch hin. Alte Verhaltensmuster wurden durchbrochen und der Weg freigemacht für Neues. So auch in der Welt der Parfüms: Synthetische Duftstoffe, geradlinige Flakons – zum einen aus Überdruss, zum anderen aus der schlichten Not heraus. Die beiden Parfüms standen nicht nur für eine Revolution der Duftwelt, sondern auch für gesellschaftspolitische Veränderungen.
Das Buch gibt nicht nur Einblick in die Lebensläufe der Parfümeure, sondern auch in die jeweilige Unternehmensart und Führung – das private Modehaus Chanel und die staatlich sowjetische Firma Nowaja Sarja – sowie in die Köpfe der beiden Häuser: die berühmte Coco Chanel und Polina Shemtschushina, Ehefrau des damaligen sowjetischen Außenministers Molotow. Letztere engagierte sich stark politisch, legte im Zuge der Revolution einen sozialen Aufstieg hin und wurde u. a. einzige Volkskommissarin der UdSSR.
Schlögel will keinen „olfaktorischen Turn“ hervorrufen, aber mittels der Welt der Düfte ein Verständnis für das 20. Jahrhundert schaffen. Jede Zeit hat ihren eigenen Duft. Das Jahrhundert der Extreme hat gleich eine ganze Geruchslandschaft hervorgebracht, die Schlögel hervorragend entschlüsselt.
Kristin Braband
Karl Schlögel. Der Duft der Imperien. München 2020. 2. Auflage