Vom Schwei­gen

Mehr Ruhe täte der Gesell­schaft gut

Wer kennt das nicht: Man steigt in die Bahn oder den Bus, hat einen anstren­gen­den Tag vor oder hin­ter sich und möchte abschal­ten, sei­nen Gedan­ken nach­hän­gen, lesen. Aber dann setzt oder stellt sich jemand neben einen, die oder der laut­hals tele­fo­niert. Man ver­sucht nicht hin­zu­hö­ren, aber es gelingt nicht. Unge­wollt bekommt man das halbe Gespräch mit. Über ernste Dinge oder Nich­tig­kei­ten, über den Streit mit einer Freun­din, Lie­bes­kum­mer, Pro­bleme in der Arbeit, daheim, das Ziel der Fahrt, Neu­erwer­bun­gen. Ein­mal musste ich mit­er­le­ben, wie ein Wich­tig­tuer in mei­nem Zug­ab­teil einen Mit­ar­bei­ter am Tele­fon feu­erte. Ich habe ihm gesagt, dass er ihm das bitte schön ins Gesicht sagen solle und dass mich sein Impo­nier­ge­habe nicht inter­es­siere. Dann war Ruhe.

Kürz­lich fuhr ich von Ber­lin nach Ham­burg zurück. Hin­ter mir saß ein Mann, der die ganze Zeit laut in sein Handy sprach. Ich kam von einer Tagung der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion, an der der Deut­sche Kul­tur­rat füh­rend betei­ligt ist, über die Frage, wie in Zukunft der Shoah gedacht wer­den kann, wenn die letz­ten Über­le­ben­den gestor­ben sind. Mark Dai­now, Vize­prä­si­dent des Zen­tral­ra­tes der Juden in Deutsch­land, hatte dort ein Gruß­wort gehal­ten. Mit lei­ser, sto­cken­der Stimme berich­tete er, dass er erst vor nicht lan­ger Zeit bei einem Besuch in Yad Vas­hem erfah­ren habe, dass allein von der Seite sei­nes Vaters 58 Fami­li­en­an­ge­hö­rige ermor­det wur­den. 58. In ganz Europa, nicht nur in Ausch­witz. Was soll, was kann man da noch sagen? Nichts.

Zum 75. Jah­res­tag der Befrei­ung der weni­gen Über­le­ben­den in der größ­ten Mord­fa­brik der Nazis durch die Rote Armee sind wie­der viele Reden gehal­ten wor­den. Von unse­rem Bun­des­prä­si­den­ten, von ande­ren. Wich­tige, bedeu­tende, nach­denk­li­che Worte. Aber auch über­flüs­sige. Was kann zu die­sem größ­ten aller Ver­bre­chen, dem Völ­ker­mord an den Juden Euro­pas und an ihrer, unse­rer Kul­tur noch gesagt wer­den, was nicht schon Zehn­tau­sende Male gesagt wor­den ist? Den­noch ist das ritu­elle Geden­ken not­wen­dig, damit das, was damals im Namen von Groß­deutsch­land Deut­sche ange­rich­tet haben, nie­mals ver­ges­sen wird. Das sind wir den Opfern und uns schul­dig. Der Ver­gan­gen­heit, der Gegen­wart, der Zukunft.

Aber eigent­lich konnte ich nach den weni­gen Wor­ten von Mark Dai­now auf der Tagung schon nicht mehr rich­tig zuhö­ren. Mein Vater war als Wehr­machts­of­fi­zier 1944 in Polen, zu der Zeit, als der War­schauer Auf­stand nie­der­ge­schla­gen wurde und Tau­sende star­ben. Ob er daran betei­ligt war, weiß ich nicht. Er hat nie über seine Kriegs­zeit gespro­chen. Er hat dar­über bis zuletzt geschwie­gen, wie die meis­ten sei­ner Täter- und Mit­tä­ter­ge­nera­tion. Wie auch viele Über­le­bende. Ich führe manch­mal ein inne­res Zwie­ge­spräch mit ihm. Aber ich bekomme keine Antworten.
Reden, wenn es nichts oder nichts mehr zu sagen gibt; schwei­gen, wenn es so viel zu sagen gäbe: Das ist der Zwie­spalt. Unser Leben besteht heute, so habe ich bis­wei­len den Ein­druck, nur noch aus bis­wei­len lee­rer Kom­mu­ni­ka­tion. Wir spre­chen und schrei­ben von früh bis spät. Schon vor dem Früh­stück auf Face­book oder Twit­ter. Live, am Tele­fon, am Com­pu­ter. Unter­wegs auf Whats­App, per SMS oder E-Mail. Bei der Arbeit. In der Frei­zeit. Mit der Part­ne­rin, dem Part­ner, Freun­den, Kol­le­gen, Frem­den. Nur sel­ten mit uns selbst. Man­che manch­mal auch mit Gott. Oder, die Kehr­seite: mit niemandem.

Das gesell­schaft­li­che Gespräch jedoch kommt vor lau­ter Gerede und Geplap­per zum Erlie­gen. Weil dazu vor allem auch Zuhö­ren gehört. Und bis­wei­len Schwei­gen. Nach­den­ken kann man am bes­ten, wenn Stille ein­kehrt. Wirk­li­che Ver­stän­di­gung ist nur mög­lich, wenn man dem Gesag­ten Raum und Zeit gibt nach­zu­hal­len, zu wir­ken, sich zu ent­fal­ten. Statt­des­sen bespre­chen wir alles so lange, bis der Sinn der Worte ver­lo­ren geht. Die erste Wahl eines Minis­ter­prä­si­den­ten in Deutsch­land seit 1945 mit­hilfe der Par­tei eines Faschis­ten, nur wenige Tage nach dem Geden­ken an Ausch­witz und die Shoah, ein his­to­ri­scher Tabu­bruch: Es blieb kaum Zeit zum Erschre­cken, zum Inne­hal­ten, zum Besin­nen. Was hat das zu bedeu­ten, wel­che Fol­gen kann das haben? Ist das rück­gän­gig zu machen, wie die Kanz­le­rin sagt? Kann, wird es sich wie­der­ho­len? Aber es musste ja alles gleich ana­ly­siert und kom­men­tiert wer­den, mög­lichst scharf oder mög­lichst rela­ti­vie­rend, je nach­dem. Worte, nichts als Worte.

Man kann nicht nicht kom­mu­ni­zie­ren, hat Paul Watz­la­wick gesagt. Auch Schwei­gen ist eine Form der Mit­tei­lung. Aber eben eine andere als lau­tes Reden und Zutex­ten. Es kann Anteil­nahme aus­drü­cken, Empa­thie, Mit­ge­fühl, Nach­denk­lich­keit, Ver­bun­den­heit, Rat­lo­sig­keit. Vie­les, was Worte nicht ver­mö­gen. Reden ist viel. Nicht­re­den manch­mal mehr.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 03/2020.

Von |2020-03-10T14:18:32+01:00März 10th, 2020|Meinungsfreiheit, Sprache|Kommentare deaktiviert für

Vom Schwei­gen

Mehr Ruhe täte der Gesell­schaft gut

Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor. Von ihm stammt das Buch "Die Skandal-Republik. Eine Gesellschaft in Dauererregung" (2015).