Im Vorfeld einer Podiumsdiskussion las ich jüngst folgende interne Moderatorenanweisung: „(…) versuche, die Moderation so zu gestalten, dass dominantes Redeverhalten im Publikum vor allem von weißen Cis-Männern Einschränkungen erfährt“. Sofort stellte sich mir die Frage: Was ist ein Cis-Mann? Meine Recherche ergab, dass als Cis-Gender diejenigen bezeichnet werden, deren aktuelle Geschlechtsidentität dem Geschlecht entspricht, das ihm/ihr bei der Geburt zugewiesen wurde. Diese Erkenntnis aktivierte frühere Tagungserlebnisse zum Thema Diversität, beispielsweise der oft gehörte Einwurf: „Wer nicht selbst diskriminierende Erfahrungen aufgrund der eigenen ethnischen Herkunft erfahren hat, sollte sich zu diesem Thema nicht äußern.“ Oder die Einleitung eines Professors zu seinem Vortrag mit den Worten: „Ich weiß, ich darf mich als privilegierter weißer Biodeutscher zum Thema Diversität eigentlich nicht äußern, mit Blick auf meine Ehefrau, die einen Migrationshintergrund hat, erlaube ich mir, doch ein paar Perspektiven einzubringen!“
Der Begriff „Cis-Gender“ dient ebenso, wie der des „Biodeutschen“ dazu, Missverhältnisse in Machtfragen zu reflektieren. Mit der Labelung der Mehrheitsgesellschaft in eine „Schubladen-Kategorie“, wie z. B. Cis-Gender, erfährt die Mehrheit das Gefühl, wie es ist, selbst in eine Schublade einsortiert zu werden. Dies erinnert ansatzweise an George Orwells lehrreiches Buch „Animal Farm“. Die Tiere rebellieren hier gegen die Unterdrückung des Menschen, setzen diese ab; infolge übernehmen jedoch schleichend die Schweine den Machthabitus des Menschen.
Wenn Diskriminierungspraxis als „normal“ von einer Mehrheitsgesellschaft empfunden wird, ist es wichtig, dass dies „hörbar“ aufgedeckt wird. Ein Beispiel hierfür ist die Frauenbewegung. Feministische Texte aus dem Umfeld der 1968er-Bewegung lesen sich für heutige Generationen in Teilen befremdlich, waren aber damals wichtige Befreiungsschläge.
Es ist jedoch eine Sache, diskriminierende Machtverhältnisse aufzudecken, eine andere, diversitätsbewusst zu handeln und Gesellschaft zu gestalten. Eben genannte Beispiele sind Spiegelungen von Diskriminierung und damit letztlich ebenfalls Diskriminierung! Es wäre eine spannende ethische Frage, ob erlebte Diskriminierung die Diskriminierung anderer rechtfertigt!
Menschen provozierend als „privilegiert“ zu bezeichnen, kann Machtverhältnisse aufdecken, kann aber aus verschiedenen Gründen auch kritisch bewertet werden: Denn mit der Differenzierung in Privilegierte und Nicht-Privilegierte erfolgt auch eine einseitige Festlegung von erstrebenswerten Lebensumständen, beispielsweise Erfolg an Geld oder Karriere und nicht an Freundeskreis oder Gesundheit zu binden. Auch führt dieses Schubladendenken auf der anderen Seite dazu, biografische Zusammenhänge komplett auszublenden. Möglicherweise hat der privilegierte männliche Biodeutsche eine schwere Krankheit, sein Kind verloren oder andere negative Lebenserfahrungen gemacht.
Bei der Aufdeckung spezifischer Machtverhältnisse sollte zudem immer der Blick offen sein für andere, bisher noch wenig thematisierte Diskriminierungspraktiken, beispielsweise Diskriminierung bezogen auf Ost-/Westdeutschland, ländliche Bevölkerung oder auch Menschen mit spezifischem Körpergewicht.
Das Aufdecken von Machtverhältnissen, aber auch der Weg zu einer diversitätsbewussten Gesellschaft ist letztlich ein nie endender Prozess, da Menschen bei Machtfragen immer wieder dazu neigen werden, neue Allianzen zu bilden – frei nach George Orwell: „All animals are equal, but some animals are more equal than others.“
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.