Um 4:30 Uhr aufstehen, 5 Uhr Beschlüsse lesen, 6 Uhr Ankunft ARD-Hauptstadtstudio, 6:30 Uhr Live-Sendung, 7 Uhr Fahrt zu n.tv, 7:30 Uhr Live-Schalte bei n.tv, 8 Uhr Lesezeit für Anträge & Co., 9 Uhr Presselage, 9:30 Uhr Bundesvorstandssitzung – nur vom Lesen dieses frühmorgendlichen (!) Terminplans steigt der eigene unbeteiligte Stresspegel rasant an. Dabei wurden die Begleitumstände noch nicht mal erwähnt: dauerhafter Schlafmangel, permanenter öffentlicher Druck, regelmäßige Verunglimpfungen und manchmal auch Morddrohungen.
Bei dieser Beschreibung handelt es sich nicht um eine journalistische Übertreibung, sondern um die realitätsnahe Beschreibung des Alltags von Spitzenpolitikerinnen und -politikern. Diesen kennt Julia Jorch sehr gut. Die Autorin von „Schlaflos im Shitstorm: Der etwas andere Insiderbericht aus der Welt der Politik“ arbeitete von 2011 bis 2017 in der Pressestelle des Bundesvorstands von Bündnis 90/Die Grünen. Aus dieser Zeit schöpfen sich nicht nur unterhaltsame Anekdoten, sondern auch ungeschönte Wahrheiten über den vielleicht verklärtesten Job der Welt: Berufspolitiker/in.
Mitleid soll nicht erregt, aber ein wenig mehr Verständnis geschaffen werden. Denn klar ist: Wir brauchen Politiker, einfach: „Weil das Land nicht von selbst regiert. Und weil sich Gesetze nicht von alleine schreiben und dumme Gesetze auch nicht von allein wieder verschwinden. Oder willst du spontan mal kurz erklären, wie man die ›Weiterleitung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleiches‹ vorantreiben kann?“.
Für Julia Jorch gibt es zwei Arten von Büchern über Politik: a) ein „superwichtiger“ Bericht aus dem „inner circle“ der Macht und b) Erklärbücher im pfiffigen Ton. Jorch ist aber noch eine dritte Art gelungen: Ein brutal ehrliches, irre komisches und gewinnend emphatisches Buch über den politischen Alltag und die zuweilen unberechenbare Arbeit in einer Pressestelle. Grandios! Bitte mehr davon!
Theresa Brüheim