Die Wahr­heit mit­ge­stal­ten, die man erzählt

Daniel Asadi Faezi und Mila Zhluk­tenko über das Doku­men­tar­fil­me­ma­chen in Deutschland

Das Foyer eines Opern­hau­ses in Kiew: Wir sehen älte­ren Damen, Gar­de­ro­bie­ren, zu, wie sie ankom­men, die Besu­cher emp­fan­gen, ihnen die Män­tel abneh­men und Opern­glä­ser anbie­ten. Die Besu­cher machen sich vor dem Spie­gel schick und betre­ten den Saal. Die Kamera im Kurz­film „Opera Glas­ses“, rea­li­siert von der Ukrai­ne­rin Mila Zhluk­tenko, wirkt selbst wie ein Fern­glas. Von dem, was auf­ge­führt wird, bekom­men wir nur wenig mit, dafür umso mehr von den Gescheh­nis­sen im Foyer, die unge­mein unter­hal­ten, weil sie unge­wollt komisch sind oder intime Momente zeigen.

„Where we used to swim“ heißt der neue Kurz­film von Daniel Asadi Faezi, gebo­ren in Schwein­furt. Der Regis­seur, des­sen Vater aus dem Iran stammt, por­trä­tiert den Urmia-See im Nord­wes­ten des Lan­des, der heute auf fünf Pro­zent sei­ner eins­ti­gen Größe geschrumpft ist. In lan­gen Ein­stel­lun­gen, die ein­drucks­vol­len, kar­gen Still­le­ben glei­chen, sehen wir den Salz­see in dem mehr­heit­lich von aser­bai­dscha­ni­schen Tür­ken bewohn­ten Gebiet Irans. Frü­her von vie­len zum Schwim­men genutzt, scheint er heute, seit eine Auto­bahn ihn teilt, fast nicht mehr exis­tent zu sein.

Beide Filme hat­ten ihre Welt­pre­miere im Okto­ber 2019 auf dem Inter­na­tio­na­len Leip­zi­ger Fes­ti­val für Doku­men­tar- und Ani­ma­ti­ons­film. Mit Zhluk­tenko und Asadi Faezi sprach Behrang Samsami wäh­rend des Fes­ti­vals über ihren Zugang zum Film, über die Lage von jun­gen Doku­men­tar- und Kurz­film-Regis­seu­ren in der Bun­des­re­pu­blik und über die Chan­cen, die Medi­en­päd­ago­gik in der Schule bie­tet – auch um hier­zu­lande mehr Zuschauer für Doku­men­tar- und Kurz­filme zu gewin­nen. Am Ende des Leip­zi­ger Fes­ti­vals wurde Mila Zhluk­tenko für „Opera Glas­ses“ mit einer Gol­de­nen Taube im Deut­schen Wett­be­werb kur­zer Doku­men­tar- und Ani­ma­ti­ons­film ausgezeichnet.

Behrang Samsami: Wie sind Sie beide zum Doku­men­tar­film gekommen?
Mila Zhluk­tenko: In mei­ner Schule in Mün­chen gab es eine Film­klasse, in der wir uns aus­pro­bie­ren konn­ten, was mir gro­ßen Spaß gemacht hat. Nach dem Abitur begann ich, deut­sche Lite­ra­tur zu stu­die­ren, brach das aber ab, weil ich merkte, dass es zu eng und zu wenig pra­xis­ori­en­tiert für mich war. Das war zu der Zeit, als in der Ukraine die Mai­dan-Bewe­gung ange­fan­gen hatte. Da begann ich in Mün­chen, mit einer Kamera zu fil­men, weil wir als Dia­spora auch auf die Straße gegan­gen sind. Mit die­sem Mate­rial habe ich mich dann an der Mün­che­ner Hoch­schule für Fern­se­hen und Film für den Doku­men­tar­film­be­reich bewor­ben und wurde angenommen.
Daniel Asadi Faezi: Der Zugang zur Kamera kam durch das Skate­board­fah­ren. Mit 14 oder 15 habe ich ange­fan­gen, Videos vom Fah­ren zu dre­hen. Die Filme waren inhalt­lich nicht stark, hat­ten aber einen doku­men­ta­ri­schen Cha­rak­ter, weil man die Trick­ab­läufe fest­hält. Nach der Schule habe ich mei­nen Zivil­dienst in Indien absol­viert und in einem Slum­pro­jekt gear­bei­tet. Die Kamera hatte ich immer dabei. Für mich war es eine Mög­lich­keit zu reflek­tie­ren, also durch Fil­men die Rea­li­tät, die mich umgab, zu ver­ar­bei­ten. Ich wollte das Gese­hene dann aber auch mit mehr Leu­ten tei­len und eine Öffent­lich­keit dafür bekommen.

Was reizt Sie am Dokumentarfilm?
Asadi Faezi: Ich habe über die Zeit erst ler­nen müs­sen, Frei­hei­ten und Gren­zen im Doku­men­tar­film zu erken­nen. Mein Stu­dium half mir dabei zu erken­nen, dass ich mich durch unter­schied­li­che For­men an ver­schie­dene The­men annä­hern kann. Dabei beschäf­tigt mich eine Frage beson­ders: Was kann ich mit der Wirk­lich­keit bzw. unse­ren Rea­li­tä­ten, die mich umge­ben, tun, um danach einen Film zu erzählen?
Zhluk­tenko: Doku­men­tar­film kann viel mehr sein und tun, als ich zuerst dachte. Ich habe gelernt, dass ich mich an der Film­kunst bedie­nen kann – und dass es sich um einen flie­ßen­den Über­gang zum Spiel­film han­delt. Ein Reiz am Doku­men­tar­film ist, dass ich mich in ein Thema, das mich anregt, der­art ein­ar­bei­ten kann, dass ich zum Exper­ten wer­den und eine Film­form dafür suchen kann. Außer­dem habe ich gelernt, wie wich­tig meine eigene Hal­tung hin­ter dem Film ist. Diese kann bereits durch einen von mir gewähl­ten Bild­aus­schnitt deut­lich wer­den. So fängt es schon am Anfang an, dass man die Wahr­heit mit­ge­stal­tet, die man erzählt.

Wel­chen Ansatz haben Sie – einen objek­ti­ven oder subjektiven?
Asadi Faezi: Das ist nach Thema unter­schied­lich. Bei mir ist es häu­fig so, dass mich eine bestimmte Sache packt. Dann tau­chen aber auch Fra­gen auf: Warum erzähle ich diese Geschichte? Was kann ich mit ein­brin­gen, dass es sich von ande­ren Fil­men abhebt und einen neuen Erkennt­nis­ge­winn für andere hat? Es ist stets ein lan­ger Pro­zess, der viel mit Lesen und Kon­zep­te­schrei­ben zu tun hat.
Zhluk­tenko: Was mich jetzt gerade inter­es­siert, ist ein sub­jek­ti­ver Blick auf die Dinge. Es ist nicht so, dass wir – hier kann ich für uns beide spre­chen – irgendwo hin­ge­hen, die Kamera anschal­ten und schauen, was pas­siert. Unser Ansatz ist: das Fil­mi­sche an einem Thema her­aus­zu­ar­bei­ten. Was kann ich davon rein visu­ell erzäh­len, ohne alles aus dem Off zu kommentieren?

Nach wel­chen Kri­te­rien wäh­len Sie Ihre Sujets aus?
Zhluk­tenko: Teil­weise stol­pere ich über The­men oder jemand erwähnt etwas, was mich nicht mehr los­lässt. Dann fange ich an zu recher­chie­ren. Dann gibt es noch The­men, die ich schon lange mit mir her­um­trage und die auf den rich­ti­gen Moment war­ten, bis sie rea­li­siert wer­den kön­nen. „Opera Glas­ses“ war eher Letz­te­res. 2016 hatte ich die Kie­wer Oper nach lan­ger Zeit wie­der besucht. Sofort kam mir die Idee, dort einen Film zu dre­hen. Der tat­säch­li­che Dreh fand dann aber erst zwei Jahre spä­ter statt.
Asadi Faezi: Mir war es wich­tig, dass ich, wenn ich Filme im Aus­land drehe, nicht den kom­plet­ten Film vor­her in Deutsch­land am Com­pu­ter recher­chiere. Ich wollte mich hin­be­ge­ben, län­gere Zeit dort leben und die Spra­che ler­nen. Als ich ein Aus­lands­jahr in Paki­stan gemacht habe, hatte ich einen ande­ren Zugang, weil ich vor­her schon in Indien gelebt und Hindi gelernt hatte, was auch in Paki­stan gespro­chen wird. Ich hatte viele Kom­mi­li­to­nen, die mit Geschich­ten zu mir gekom­men sind. So kam es dazu, dass ich in mei­nem Aus­lands­jahr vier Film­pro­jekte umset­zen konnte. Etwa meine Abschluss­ar­beit in Paki­stan: das 50-minü­tige Doku­men­tar­film­mär­chen „The Absence of Apri­cots“. Die­sen Film habe ich im Dorf eines guten Freun­des mit ihm zusam­men gedreht.

Ihre Filme haben eng­li­sche Titel: Wol­len Sie ein inter­na­tio­na­les Publi­kum an-sprechen?
Asadi Faezi: Nein, das war
keine Ent­schei­dung für eine inter­na­tio­nale Aus­wer­tung. Die Film­fes­ti­vals wol­len meis­tens einen Ori­gi­nal­ti­tel und einen eng­li­schen. „Opera Glas­ses“ heißt auf Kyril­lisch übri­gens „Бінокль“. Die Filme sind immer in den Spra­chen gedreht, die in den Län­dern gespro­chen wer­den und dann unter­ti­telt. In Deutsch­land haben wir aber auch schon gedreht.

Wie bewer­ten Sie beide das Doku­men­tar­fil­me­ma­chen in Deutschland?
Asadi Faezi: Die Lebens­rea­li­tät von Doku­men­tar­film-Regis­seu­ren ist sehr schwie­rig. Das öffent­lich-recht­li­che Fern­se­hen zieht sich immer mehr aus Doku­men­tar­film­pro­jek­ten zurück. Hinzu kommt, dass kaum noch Expe­ri­mente im Fern­se­hen gewagt wer­den. Es gibt viel For­mat­fern­se­hen – und das, was wir ler­nen und was wir machen wol­len, ist eben dies nicht. Es ist eine kom­plett andere Her­an­ge­hens­weise, ein ande­res Ver­ständ­nis von der Aus­ein­an­der­set­zung und der Zeit, die man einem Film gibt. Dabei sind es nach mei­ner Wahr­neh­mung größ­ten­teils eher junge, unab­hän­gige Fil­me­ma­cher, die ver­su­chen, neue Erzähl­per­spek­ti­ven ein­zu­neh­men und Expe­ri­mente zu wagen.

Inwie­fern wirkt sich eigent­lich die Digi­ta­li­sie­rung auf das Doku­men­tar­fil­me­ma­chen aus?
Zhluk­tenko: Wir sind in einer Epo­che, in der sich voll­kom­men aus­dif­fe­ren­ziert, wer was gern schaut. Natür­lich gibt es noch die Mas­sen­me­dien, die wir aus dem 20. Jahr­hun­dert ken­nen. Aber die Ent­wick­lung geht in die Rich­tung, dass jeder seine eige­nen Platt­for­men prä­fe­riert. Daher ist es recht schwie­rig vor­aus­zu­sa­gen, wo Doku­men­tar­filme in Zukunft lau­fen könn­ten, weil sie im Fern­se­hen wenig Platz bekommen.
In Deutsch­land kann man beob­ach­ten, dass Doku­men­tar­filme im Kino keine große Zuschau­er­schaft haben. Denn hier­zu­lande ist ein Ver­ständ­nis von Doku­men­tar­film als Film­kunst kaum vor­han­den. Doku­men­tar­filme wer­den haupt­säch­lich wahr­ge­nom­men und akzep­tiert zur Wis­sens­ver­mitt­lung bezie­hungs­weise als Werke, die nur Objek­ti­ves erzählen.
Mög­li­cher­weise bringt uns die Aus­dif­fe­ren­zie­rung mehr Frei­hei­ten und mehr Auf­merk­sam­keit von­sei­ten der Zuschauer, etwa dadurch, dass es inzwi­schen viele ver­schie­dene Platt­for­men im Inter­net gibt. Ande­rer­seits kann die Ent­wick­lung auch so ver­lau­fen, dass sich die Men­schen ein­fach mit gar nichts Neuem mehr kon­fron­tie­ren wol­len, son­dern nur noch das schauen, was sie schon kennen.

Was ist gut, was schlecht? Hät­ten Sie Verbesserungsvorschläge?
Zhluk­tenko: Grund­sätz­lich kön­nen wir fest­hal­ten, dass wir im Ver­gleich zu vie­len ande­ren Län­dern ein För­der­sys­tem haben, das uns über­haupt erlaubt, freie Doku­men­tar­filme zu pro­du­zie­ren. Aber es ent­steht das Pro­blem, dass man an sei­nen Pro­jek­ten arbei­tet, sich dane­ben aber ein zwei­tes Stand­bein auf­bauen muss, um sei­nen Lebens­un­ter­halt zu ver­die­nen. So ist es nicht sel­ten, dass man nur alle sechs Jahre einen Film her­aus­brin­gen kann. Gut wäre, wenn sich die Ver­hält­nisse Rich­tung Frank­reich ent­wi­ckeln wür­den, wo mehr fran­zö­sisch­spra­chige Filme im Kino gezeigt werden.
Asadi Faezi: Die Kurz­film­för­de­rung ist eben­falls viel bes­ser. Frank­reich ist das ein­zige Land, das einen rich­tig exis­tie­ren­den, gro­ßen Markt für Kurz­filme hat. Das Kurz­film-Fes­ti­val in Cler­mont-Fer­rand ist das größte und wich­tigste im Land. Bei uns gibt es kein sol­ches Fes­ti­val, weil es nicht den Markt gibt. Will man aber das Doku­men­tar­filme- und Kurz­filme-Machen ernst­haft als Beruf ange­hen, ist das Feh­len einer brei­ten Zuschau­er­schaft für diese Seg­mente ein ernst­haf­tes Problem.

Inter­esse für Doku­men­tar- und Kurz­filme zu wecken, wäre eine Auf­gabe für Schu­len. Es bräuchte hier­für deren Bereit­schaft, stär­ker in Medi­en­päd­ago­gik zu inves­tie­ren, damit sol­che Filme nicht als bloße Unter­hal­tung wahr­ge­nom­men werden.
Zhluk­tenko: Es gibt ein Pro­jekt an der Mün­che­ner Hoch­schule für Fern­se­hen und Film, „HFF macht Schule“. Gemein­sam mit Schü­lern schauen sich Dozen­ten Filme oder Aus­schnitte an und spre­chen über das Gese­hene: Wie arbei­tet die Kamera? Was ist an einem Film­an­fang wich­tig? Ich denke, dass es mehr sol­cher Initia­ti­ven geben sollte. Es würde den Hori­zont der Schü­ler stark erweitern.
Asadi Faezi: Das Pro­blem besteht auch darin, dass das Fern­se­hen seine eige­nen Zuschauer her­an­zieht. Da wird stets mit der Quote argu­men­tiert. Wenn sie im Fall von Doku­men­tar­fil­men schlecht ist, wird gesagt, dass die Zuschauer sol­che Filme nicht sehen woll­ten. Daher wer­den anspruchs­volle Doku­men­tar­filme in die Nachts­lots ver­legt. Das ist wie, wenn man ins Museum geht. Wenn man sich nicht mit dem Aus­ge­stell­ten befas­sen will oder kann, braucht es jeman­den, der einen an die Hand nimmt und sagt: „Die­ses Bild kannst du aus der und der Per­spek­tive sehen und das könnte das und das erzählen.“
Es wird auch immer wich­ti­ger, wie Medien im Unter­richt ein­ge­setzt wer­den. Inso­fern wäre das Fach Medi­en­päd­ago­gik in der Schule eine Chance. Alles andere wäre auch nicht mehr zeit­ge­mäß, denn wenn im „post­fak­ti­schen Zeit­al­ter“ alle über Fake News spre­chen, soll­ten Schu­len es nicht ver­säu­men, Kin­dern und Jugend­li­chen auf­zu­zei­gen, wie Medien arbeiten.

Vie­len Dank.

Die­ser Bei­trag ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2019-01/2020.

Von |2019-12-20T12:48:05+01:00Dezember 20th, 2019|Meinungsfreiheit|Kommentare deaktiviert für

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Daniel Asadi Faezi und Mila Zhluk­tenko über das Doku­men­tar­fil­me­ma­chen in Deutschland

Daniel Asadi Faezi und Mila Zhluktenko sind Dokumentar- und Kurzfilm-Regisseure. Behrang Samsami ist freier Journalist.