Daniel Asadi Faezi, Mila Zhluktenko & Behrang Samsami 20. Dezember 2019 Logo_Initiative_print.png

Die Wahr­heit mit­ge­stal­ten, die man erzählt

Daniel Asadi Faezi und Mila Zhluk­tenko über das Doku­men­tar­fil­me­ma­chen in Deutschland

Das Foyer eines Opernhauses in Kiew: Wir sehen älteren Damen, Garderobieren, zu, wie sie ankommen, die Besucher empfangen, ihnen die Mäntel abnehmen und Operngläser anbieten. Die Besucher machen sich vor dem Spiegel schick und betreten den Saal. Die Kamera im Kurzfilm „Opera Glasses“, realisiert von der Ukrainerin Mila Zhluktenko, wirkt selbst wie ein Fernglas. Von dem, was aufgeführt wird, bekommen wir nur wenig mit, dafür umso mehr von den Geschehnissen im Foyer, die ungemein unterhalten, weil sie ungewollt komisch sind oder intime Momente zeigen.

„Where we used to swim“ heißt der neue Kurzfilm von Daniel Asadi Faezi, geboren in Schweinfurt. Der Regisseur, dessen Vater aus dem Iran stammt, porträtiert den Urmia-See im Nordwesten des Landes, der heute auf fünf Prozent seiner einstigen Größe geschrumpft ist. In langen Einstellungen, die eindrucksvollen, kargen Stillleben gleichen, sehen wir den Salzsee in dem mehrheitlich von aserbaidschanischen Türken bewohnten Gebiet Irans. Früher von vielen zum Schwimmen genutzt, scheint er heute, seit eine Autobahn ihn teilt, fast nicht mehr existent zu sein.

Beide Filme hatten ihre Weltpremiere im Oktober 2019 auf dem Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm. Mit Zhluktenko und Asadi Faezi sprach Behrang Samsami während des Festivals über ihren Zugang zum Film, über die Lage von jungen Dokumentar- und Kurzfilm-Regisseuren in der Bundesrepublik und über die Chancen, die Medienpädagogik in der Schule bietet – auch um hierzulande mehr Zuschauer für Dokumentar- und Kurzfilme zu gewinnen. Am Ende des Leipziger Festivals wurde Mila Zhluktenko für „Opera Glasses“ mit einer Goldenen Taube im Deutschen Wettbewerb kurzer Dokumentar- und Animationsfilm ausgezeichnet.

Behrang Samsami: Wie sind Sie beide zum Dokumentarfilm gekommen?
Mila Zhluktenko: In meiner Schule in München gab es eine Filmklasse, in der wir uns ausprobieren konnten, was mir großen Spaß gemacht hat. Nach dem Abitur begann ich, deutsche Literatur zu studieren, brach das aber ab, weil ich merkte, dass es zu eng und zu wenig praxisorientiert für mich war. Das war zu der Zeit, als in der Ukraine die Maidan-Bewegung angefangen hatte. Da begann ich in München, mit einer Kamera zu filmen, weil wir als Diaspora auch auf die Straße gegangen sind. Mit diesem Material habe ich mich dann an der Münchener Hochschule für Fernsehen und Film für den Dokumentarfilmbereich beworben und wurde angenommen.
Daniel Asadi Faezi: Der Zugang zur Kamera kam durch das Skateboardfahren. Mit 14 oder 15 habe ich angefangen, Videos vom Fahren zu drehen. Die Filme waren inhaltlich nicht stark, hatten aber einen dokumentarischen Charakter, weil man die Trickabläufe festhält. Nach der Schule habe ich meinen Zivildienst in Indien absolviert und in einem Slumprojekt gearbeitet. Die Kamera hatte ich immer dabei. Für mich war es eine Möglichkeit zu reflektieren, also durch Filmen die Realität, die mich umgab, zu verarbeiten. Ich wollte das Gesehene dann aber auch mit mehr Leuten teilen und eine Öffentlichkeit dafür bekommen.

Was reizt Sie am Dokumentarfilm?
Asadi Faezi: Ich habe über die Zeit erst lernen müssen, Freiheiten und Grenzen im Dokumentarfilm zu erkennen. Mein Studium half mir dabei zu erkennen, dass ich mich durch unterschiedliche Formen an verschiedene Themen annähern kann. Dabei beschäftigt mich eine Frage besonders: Was kann ich mit der Wirklichkeit bzw. unseren Realitäten, die mich umgeben, tun, um danach einen Film zu erzählen?
Zhluktenko: Dokumentarfilm kann viel mehr sein und tun, als ich zuerst dachte. Ich habe gelernt, dass ich mich an der Filmkunst bedienen kann – und dass es sich um einen fließenden Übergang zum Spielfilm handelt. Ein Reiz am Dokumentarfilm ist, dass ich mich in ein Thema, das mich anregt, derart einarbeiten kann, dass ich zum Experten werden und eine Filmform dafür suchen kann. Außerdem habe ich gelernt, wie wichtig meine eigene Haltung hinter dem Film ist. Diese kann bereits durch einen von mir gewählten Bildausschnitt deutlich werden. So fängt es schon am Anfang an, dass man die Wahrheit mitgestaltet, die man erzählt.

Welchen Ansatz haben Sie – einen objektiven oder subjektiven?
Asadi Faezi: Das ist nach Thema unterschiedlich. Bei mir ist es häufig so, dass mich eine bestimmte Sache packt. Dann tauchen aber auch Fragen auf: Warum erzähle ich diese Geschichte? Was kann ich mit einbringen, dass es sich von anderen Filmen abhebt und einen neuen Erkenntnisgewinn für andere hat? Es ist stets ein langer Prozess, der viel mit Lesen und Konzepteschreiben zu tun hat.
Zhluktenko: Was mich jetzt gerade interessiert, ist ein subjektiver Blick auf die Dinge. Es ist nicht so, dass wir – hier kann ich für uns beide sprechen – irgendwo hingehen, die Kamera anschalten und schauen, was passiert. Unser Ansatz ist: das Filmische an einem Thema herauszuarbeiten. Was kann ich davon rein visuell erzählen, ohne alles aus dem Off zu kommentieren?

Nach welchen Kriterien wählen Sie Ihre Sujets aus?
Zhluktenko: Teilweise stolpere ich über Themen oder jemand erwähnt etwas, was mich nicht mehr loslässt. Dann fange ich an zu recherchieren. Dann gibt es noch Themen, die ich schon lange mit mir herumtrage und die auf den richtigen Moment warten, bis sie realisiert werden können. „Opera Glasses“ war eher Letzteres. 2016 hatte ich die Kiewer Oper nach langer Zeit wieder besucht. Sofort kam mir die Idee, dort einen Film zu drehen. Der tatsächliche Dreh fand dann aber erst zwei Jahre später statt.
Asadi Faezi: Mir war es wichtig, dass ich, wenn ich Filme im Ausland drehe, nicht den kompletten Film vorher in Deutschland am Computer recherchiere. Ich wollte mich hinbegeben, längere Zeit dort leben und die Sprache lernen. Als ich ein Auslandsjahr in Pakistan gemacht habe, hatte ich einen anderen Zugang, weil ich vorher schon in Indien gelebt und Hindi gelernt hatte, was auch in Pakistan gesprochen wird. Ich hatte viele Kommilitonen, die mit Geschichten zu mir gekommen sind. So kam es dazu, dass ich in meinem Auslandsjahr vier Filmprojekte umsetzen konnte. Etwa meine Abschlussarbeit in Pakistan: das 50-minütige Dokumentarfilmmärchen „The Absence of Apricots“. Diesen Film habe ich im Dorf eines guten Freundes mit ihm zusammen gedreht.

Ihre Filme haben englische Titel: Wollen Sie ein internationales Publikum an-sprechen?
Asadi Faezi: Nein, das war
keine Entscheidung für eine internationale Auswertung. Die Filmfestivals wollen meistens einen Originaltitel und einen englischen. „Opera Glasses“ heißt auf Kyrillisch übrigens „Бінокль“. Die Filme sind immer in den Sprachen gedreht, die in den Ländern gesprochen werden und dann untertitelt. In Deutschland haben wir aber auch schon gedreht.

Wie bewerten Sie beide das Dokumentarfilmemachen in Deutschland?
Asadi Faezi: Die Lebensrealität von Dokumentarfilm-Regisseuren ist sehr schwierig. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen zieht sich immer mehr aus Dokumentarfilmprojekten zurück. Hinzu kommt, dass kaum noch Experimente im Fernsehen gewagt werden. Es gibt viel Formatfernsehen – und das, was wir lernen und was wir machen wollen, ist eben dies nicht. Es ist eine komplett andere Herangehensweise, ein anderes Verständnis von der Auseinandersetzung und der Zeit, die man einem Film gibt. Dabei sind es nach meiner Wahrnehmung größtenteils eher junge, unabhängige Filmemacher, die versuchen, neue Erzählperspektiven einzunehmen und Experimente zu wagen.

Inwiefern wirkt sich eigentlich die Digitalisierung auf das Dokumentarfilmemachen aus?
Zhluktenko: Wir sind in einer Epoche, in der sich vollkommen ausdifferenziert, wer was gern schaut. Natürlich gibt es noch die Massenmedien, die wir aus dem 20. Jahrhundert kennen. Aber die Entwicklung geht in die Richtung, dass jeder seine eigenen Plattformen präferiert. Daher ist es recht schwierig vorauszusagen, wo Dokumentarfilme in Zukunft laufen könnten, weil sie im Fernsehen wenig Platz bekommen.
In Deutschland kann man beobachten, dass Dokumentarfilme im Kino keine große Zuschauerschaft haben. Denn hierzulande ist ein Verständnis von Dokumentarfilm als Filmkunst kaum vorhanden. Dokumentarfilme werden hauptsächlich wahrgenommen und akzeptiert zur Wissensvermittlung beziehungsweise als Werke, die nur Objektives erzählen.
Möglicherweise bringt uns die Ausdifferenzierung mehr Freiheiten und mehr Aufmerksamkeit vonseiten der Zuschauer, etwa dadurch, dass es inzwischen viele verschiedene Plattformen im Internet gibt. Andererseits kann die Entwicklung auch so verlaufen, dass sich die Menschen einfach mit gar nichts Neuem mehr konfrontieren wollen, sondern nur noch das schauen, was sie schon kennen.

Was ist gut, was schlecht? Hätten Sie Verbesserungsvorschläge?
Zhluktenko: Grundsätzlich können wir festhalten, dass wir im Vergleich zu vielen anderen Ländern ein Fördersystem haben, das uns überhaupt erlaubt, freie Dokumentarfilme zu produzieren. Aber es entsteht das Problem, dass man an seinen Projekten arbeitet, sich daneben aber ein zweites Standbein aufbauen muss, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. So ist es nicht selten, dass man nur alle sechs Jahre einen Film herausbringen kann. Gut wäre, wenn sich die Verhältnisse Richtung Frankreich entwickeln würden, wo mehr französischsprachige Filme im Kino gezeigt werden.
Asadi Faezi: Die Kurzfilmförderung ist ebenfalls viel besser. Frankreich ist das einzige Land, das einen richtig existierenden, großen Markt für Kurzfilme hat. Das Kurzfilm-Festival in Clermont-Ferrand ist das größte und wichtigste im Land. Bei uns gibt es kein solches Festival, weil es nicht den Markt gibt. Will man aber das Dokumentarfilme- und Kurzfilme-Machen ernsthaft als Beruf angehen, ist das Fehlen einer breiten Zuschauerschaft für diese Segmente ein ernsthaftes Problem.

Interesse für Dokumentar- und Kurzfilme zu wecken, wäre eine Aufgabe für Schulen. Es bräuchte hierfür deren Bereitschaft, stärker in Medienpädagogik zu investieren, damit solche Filme nicht als bloße Unterhaltung wahrgenommen werden.
Zhluktenko: Es gibt ein Projekt an der Münchener Hochschule für Fernsehen und Film, „HFF macht Schule“. Gemeinsam mit Schülern schauen sich Dozenten Filme oder Ausschnitte an und sprechen über das Gesehene: Wie arbeitet die Kamera? Was ist an einem Filmanfang wichtig? Ich denke, dass es mehr solcher Initiativen geben sollte. Es würde den Horizont der Schüler stark erweitern.
Asadi Faezi: Das Problem besteht auch darin, dass das Fernsehen seine eigenen Zuschauer heranzieht. Da wird stets mit der Quote argumentiert. Wenn sie im Fall von Dokumentarfilmen schlecht ist, wird gesagt, dass die Zuschauer solche Filme nicht sehen wollten. Daher werden anspruchsvolle Dokumentarfilme in die Nachtslots verlegt. Das ist wie, wenn man ins Museum geht. Wenn man sich nicht mit dem Ausgestellten befassen will oder kann, braucht es jemanden, der einen an die Hand nimmt und sagt: „Dieses Bild kannst du aus der und der Perspektive sehen und das könnte das und das erzählen.“
Es wird auch immer wichtiger, wie Medien im Unterricht eingesetzt werden. Insofern wäre das Fach Medienpädagogik in der Schule eine Chance. Alles andere wäre auch nicht mehr zeitgemäß, denn wenn im „postfaktischen Zeitalter“ alle über Fake News sprechen, sollten Schulen es nicht versäumen, Kindern und Jugendlichen aufzuzeigen, wie Medien arbeiten.

Vielen Dank.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2019-01/2020.

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