Was uns eint und was nicht

1989 und 2019: Ver­such einer Betrachtung

Gerade erschei­nen die Bücher zu Ost und West, die DDR-Geschichte nicht ein­fach nur weg­la­chen. Warum jetzt? 30 Jahre spä­ter. Weil der Osten reflek­tiert, wo Leben geblie­ben ist? Weil viele aus West noch nie in Ost waren? Weil die Brü­cke in Frank­furt (Oder) wei­ter führt
– nach Polen, Russ­land, in die Ukraine?

Am 3. Okto­ber wurde der 29. Tag der Deut­schen Ein­heit gefei­ert, nicht nur beim zen­tra­len Fest in Kiel, son­dern in vie­len Städ­ten und Dör­fern. Mit Ver­an­stal­tun­gen, Kund­ge­bun­gen und Got­tes­diens­ten erin­nern wir an den Fall der Mauer am 9. Novem­ber vor 30 Jah­ren. Damals waren wir uns in vie­len Punk­ten unei­nig: demo­kra­ti­scher Sozia­lis­mus und drit­ter Weg oder soziale Markt­wirt­schaft? Ein schnel­ler Anschluss an die Bun­des­re­pu­blik oder gemein­same Arbeit an einer neuen gesamt­deut­schen Ver­fas­sung? Man tritt dane­ben oder drauf, aber doch nicht „bei“. Das Ziel war klar: Frei­heit, Demo­kra­tie, Men­schen­rechte. Ganz große Erwar­tun­gen an blü­hende Land­schaf­ten und 16 Mil­lio­nen indi­vi­du­elle Träume. Dazu konn­ten bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche Regu­la­rien nicht auf Anhieb pas­sen, nicht die Treu­hand­ent­schei­dun­gen, nicht ein Rück­gabe-vor-Ent­schä­di­gungs­ge­setz, nicht die selbst­ver­ständ­li­che Markt­er­wei­te­rung west­li­cher Unter­neh­men. Mein aktu­el­ler Face­book Account spie­gelt in Kom­men­ta­ren Unter­schied­li­ches wider: West – wie konnte Bran­den­burg so viel AfD wäh­len? Ost – Wir haben etwas falsch gemacht, sonst wäre die Pro­test­par­tei nicht so stark geworden.

Die Men­schen im Osten haben seit der Wie­der­ver­ei­ni­gung einen bei­spiel­lo­sen gesell­schaft­li­chen Wan­del gemeis­tert. Sie haben neue Berufe erlernt, Unter­neh­men gegrün­det, ein demo­kra­ti­sches Gemein­we­sen auf­ge­baut. Ver­kehrs-, Ener­gie- und Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­in­fra­struk­tur wur­den aus­ge­baut. Neu waren Post­leit­zah­len, Kran­ken­kasse, Geld, grü­ner Punkt, Kauf­an­ge­bote, Rei­sen, Satel­li­ten­fern­se­hen, Farb­ko­pie­rer, Visa-frei­heit, Miet­preise, Schul­or­ga­ni­sa­tion, Par­tei­en­viel­falt, freie Wahlen …

Die Wirt­schafts­kraft Ost­deutsch­lands ist von 43 Pro­zent im Jahr 1990 auf 75 Pro­zent des west­deut­schen Niveaus 2018 gestie­gen. Viele Städte und Dör­fer sehen heute frisch geputzt aus. Mehr Men­schen zie­hen von West nach Ost als umge­kehrt. Der Osten – und ganz beson­ders Bran­den­burg – bie­tet attrak­tive Stand­orte für junge und inno­va­tive Unter­neh­men. Mehr als zwei Drit­tel der Men­schen im Osten sagen, dass sich ihre per­sön­li­che Lage seit 1990 ver­bes­sert hat, und mei­nen, dass es auch ande­ren Men­schen im Osten heute bes­ser geht als vor 1989.

Aber glei­che Lebens­ver­hält­nisse zwi­schen Ost und West gibt es noch nicht. Die Ost-Ein­kom­men lie­gen erst bei 85 Pro­zent der west­li­chen Län­der. Macht und Reich­tum sind immer noch ungleich ver­teilt. An den Bran­den­bur­ger Hoch­schu­len und Uni­ver­si­tä­ten ver­fü­gen nur 205 von 899 Pro­fes­so­ren über eine Ost­so­zia­li­sa­tion, das meint, sie haben Kind­heit und Jugend in Ost-Deutsch­land ver­bracht und dort auch den Schul­ab­schluss erhal­ten. In den Vor­stän­den gro­ßer Unter­neh­men sind Exper­tin­nen und Exper­ten aus dem Osten kaum ver­tre­ten. Die Min­der­re­prä­sen­tanz ost­so­zia­li­sier­ter Füh­rungs­kräfte ist unver­ständ­lich. Wenn sich nie­mand aus dem Osten um eine Rek­to­ren­stelle bewor­ben hat, stimm­ten offen­sicht­lich die Kri­te­rien der Aus­schrei­bung nicht – erst die Jün­ge­ren wer­den umfang­rei­che inter­na­tio­nale Erfah­run­gen auf­wei­sen kön­nen. Kein ein­zi­ges DAX-Unter­neh­men hat sei­nen Sitz in Ost­deutsch­land. Und nahezu kein inter­na­tio­na­les Groß­un­ter­neh­men betreibt seine Zen­trale in Ost­deutsch­land. Viele ost­deut­sche Unter­neh­men gehö­ren zu west­deut­schen oder aus­län­di­schen Kon­zer­nen, selbst die meis­ten Super­märkte, Auto­händ­ler, Schul­ver­lage und was man so im All­tag braucht.

Zu viele Men­schen im Osten sind unzu­frie­den mit der aktu­el­len Poli­tik. Laut einer Umfrage im Auf­trag der Bun­des­re­gie­rung fühlt sich mehr als die Hälfte der Ost­deut­schen als Bür­ger zwei­ter Klasse. Nur 38 Pro­zent hal­ten die Wie­der­ver­ei­ni­gung für gelun­gen. 30 Jahre nach der fried­li­chen Revo­lu­tion ist fast die Hälfte der Ost­deut­schen unzu­frie­den mit der Demo­kra­tie. Mehr als 1,2 Mil­lio­nen Men­schen haben nach der Mau­er­öff­nung den Osten verlassen.

Wenn wir wol­len, dass nicht nur zusam­men­wächst, was zusam­men­ge­hört, son­dern dass Ost und West gemein­sam eine enkel­freund­li­che Zukunft gestal­ten, dann müs­sen wir in Ost und West die Debatte zur Deu­tung der Fried­li­chen Revo­lu­tion und ihrer Aneig­nung füh­ren. Aus die­ser Debatte – dif­fe­ren­ziert, wahr­haf­tig, respekt­voll und mit mög­lichst vie­len Betei­lig­ten geführt – gewin­nen wir ein kla­res Bild von gemein­sa­men Zie­len heute.
Ein heik­ler Punkt: Demo­kra­tie braucht ein Sys­tem der Par­teien. Wer Demo­kra­tie will, muss Par­teien wäh­len. Wer gestal­ten will, muss auch ein­tre­ten. Das ist aber nicht so ein­fach für ost­so­zia­li­sierte Men­schen, es konnte ja auch nicht über eine Jugend­or­ga­ni­sa­tion oder fami­liäre Par­tei­b­in­dung lau­fen. Meine Geschichte macht viel­leicht doch Mut: Ich fand an der S-Bahn-Sta­tion Hohen­schön­hau­sen einen Zet­tel mit Tele­fon­num­mer und die Nach­richt, dass sich eine SDP, eine „Sozi­al­De­mo­kra­ti­sche Par­tei“, grün­den wolle. Ich rief an und erfuhr, dass ich selbst was machen müsse. Also tra­fen wir uns in mei­ner Woh­nung. Wir tran­ken Tee, aßen Plätz­chen und dach­ten über die SDP nach. Das war Anfang Novem­ber 1989. Gleich nach Öff­nung der Mauer war ich die Erste im SPD-Büro in der Ber­li­ner Mül­lerstrasse, beäugt wie ein Ufo, und Diet­mar Staf­felt, damals SPD-Lan­des­vor­stands­mit­glied, fragte, ob wir einen Kopie­rer hät­ten, so was würde man brau­chen, um Wer­bung für die SDP zu ver­tei­len. Hat­ten wir nicht. Und ein Büro wäre nötig – wieso, wir tra­fen uns doch in unse­rer Woh­nung! Und Ange­stellte, Mit­ar­bei­ter, Öffent­lich­keits­ar­bei­ter? Nee. Hat­ten wir nicht. Dann fan­den wir uns, all die ande­ren, die in ihren Woh­nun­gen mit Gleich­ge­sinn­ten Tee getrun­ken hat­ten. Ganz klar: „Par­tei“ ging gar nicht. Zu viele Empor­kömm­linge hatte ich erlebt, die über ihre Par­tei Kar­riere gemacht hat­ten. Das wollte ich nicht. SDP-Mit­glied aus der Umbruch-Zeit her­aus war okay, aber SPD-Mit­glied? Schon allein die­ses Wort „Genosse“ kam gar nicht in Frage. Aber wir hat­ten ja kei­nen Kopie­rer, kei­nen Mit­ar­bei­ter, keine Öffent­lich­keits­ar­beit … Schlecht war mir nach mei­nem SPD-Ein­tritt, kotz­übel. Nie­mals wollte ich so sein wie die Poli­ti­ker, die ich in DDR-Zei­ten erlebt und erfolg­reich igno­riert hatte. Nie­mals. Dann kam die erste Wahl zur Bezirks­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung, ich fuhr das beste Stim­men­er­geb­nis in Hohen­schön­hau­sen ein. Plötz­lich war ich in der Pflicht.

Der erste und beste Ein­druck: In der Frak­tion saß ich zusam­men mit Men­schen unter­schied­lichs­ter Berufe. Ich kam doch von der heh­ren Kunst! Ich kannte doch nur sol­che, die auch von der heh­ren Kunst kamen! Begeis­tert stellte ich fest, wie schlau die alle waren, ganz ohne Noten lesen zu kön­nen – die Pfar­rers­frau Renate Hof­meis­ter, der pol­ni­sche Bau­in­ge­nieur Jacek Gredka, die Finan­ze­rin Dorette Suhr, der Umwelt­schüt­zer Mat­thias Sta­wi­noga. Renate räumte mit dem Stasi-Gefäng­nis Hohen­schön­hau­sen auf, Jacek las meine Gedichte und wollte immer neue, Dorette beäugte alles aus kühl mone­tä­rer Sicht, Mat­thias suchte Ver­bün­dete für den grü­nen Gür­tel um Ber­lin. Ihm ver­dan­ken wir heute, dass nörd­lich von Ber­lin nicht gebaut wer­den durfte. Neue Schu­len wur­den gebraucht, Gale­rien nah­men ihre Arbeit auf, das alte Han­dels­haus wurde durch das Lin­den­cen­ter ersetzt, ein Kino ent­stand und die Woh­nungs­sa­nie­rung ließ Neu­bau­blö­cke bunt und schick erschei­nen. Lebens­wert, indi­vi­du­ell, modern, mit guter Sicht aus dem 12. Stock auf Berlin.

Eine beson­dere Erin­ne­rung gibt es von der wöchent­li­chen Sprech­stunde im Rat­haus. Es kamen Bau­ar­bei­ter, sehr viele. Sie hat­ten die neuen Over­alls an, Baby­stram­pel­an­züge haben wir damals gesagt. Und sie haben geschimpft. Auf alles und ganz laut und auf uns, die neuen Poli­ti­ker. Und dann fiel der eine Satz, der mich seit­her ver­folgt: „Ihr seid jetzt an der Macht. Nun macht was draus.“ Also: ich, Renate, Jacek, Dorette … Wir waren jeden Abend im Rat­haus, es gab ein­fach zu viel Arbeit. Aber über Macht hat­ten wir nicht nach­ge­dacht. Noch im Herbst 1989 schrie­ben Wolf­gang Thierse, Iris Schäli­cke und ich ein Gesamt­ber­li­ner Kul­tur­kon­zept – die Insti­tu­tio­nen müss­ten erhal­ten blei­ben, weil es ja genau so viele Men­schen im ver­ein­ten Ber­lin geben werde wie zuvor in sei­nen Tei­len, weil man Sing­aka­de­mien und Orches­ter nicht ein­fach fusio­nie­ren könne, weil das große Ber­lin alle Museen bräuchte. Die Aka­de­mie der Künste müsste wie­der ordent­lich Kunst för­dern und Frei­heit wäre jetzt das wich­tigste Gut für Künst­ler, ganz ohne Angst.

Meine Geschichte ist nur ein Bei­spiel für viele Geschich­ten, so viel­fäl­tig wie die Men­schen, die sich ent­schie­den hat­ten, Par­teien neu zu grün­den wie Bünd­nis 90/Die Grü­nen und SPD oder sich neu erfan­den wie FDP und CDU im Osten. In Sach­sen und Bran­den­burg haben wir gerade erheb­li­che Stim­men­ver­luste die­ser Par­teien erlebt und müs­sen uns fra­gen, woran das liegt und wie ver­lo­re­nes Demo­kra­tie­ge­dächt­nis zurück­zu­ge­win­nen ist.
Noch immer begreife ich die fried­li­che Revo­lu­tion als Chance zur Frei­heit, als Chance zu gestal­ten. Manch­mal klappt es, manch­mal muss man ange­hen gegen Ver­krus­tun­gen, die es nach 30 Jah­ren immer noch oder wie­der neu gibt. Mich ärgert es, wenn ich am Markt­stand Stel­lung bezie­hen muss zum Waf­fen­han­del Deutsch­lands, zum unglei­chen Ost-West-Ren­ten­sys­tem, zur Armut in einem rei­chen Land. Aber eigent­lich wol­len sich die Fra­ge­stel­ler ein­brin­gen und wis­sen nicht, wie. Poli­ti­sche Auf­klä­rung, Bil­dung – es gibt viel zu tun!

Was macht denn nun die Unter­schiede aus, die andere Iden­ti­tät Ost? Die Ant­wor­ten sind viel­sei­tig, viel­fäl­tig wie die Lebens­ge­schich­ten selbst und ich kann es nur spon­tan – unwis­sen­schaft­lich – ver­su­chen. Sofort mischen sich die klei­nen Dinge mit den gro­ßen Welt­sich­ten: Mut und Pro­test­erfah­rung, andere Lie­der und Lieb­lings­bü­cher als Wis­sens- und Erfah­rungs­re­ser­voire, bei den Alten noch die andere Schul­bil­dung, Bot­schaf­ten in der Kunst als Hal­tung, eine Por­tion rus­si­sche Seele von Pusch­kin-Gedich­ten und Tschai­kow­ski (am Ende mit „i“ wie im Rus­si­schen), die gene­relle Distanz zur Par­tei, 1968 ist das Jahr der Erschüt­te­rung über den Ein­marsch der Trup­pen des War­schauer Pak­tes in Prag, Ver­eh­rung von Soli­dar­ność und Freu­den­trä­nen über die unga­ri­sche Grenz­öff­nung am 10. Sep­tem­ber 1989. Dann die ent­täusch­ten Hel­den im Hun­ger­streik der Kali­kum­pel von Bisch­of­ferode 1993 und im glei­chen Jahr der Hit von den Prin­zen „Alles nur geklaut“. Alle ken­nen „Kleine weiße Frie­dens­taube“ – 2016 wurde die Autorin, die Kin­der­gärt­ne­rin Erika Schirmer aus Nord­hau­sen, mit dem Bun­des­ver­dienst­kreuz aus­ge­zeich­net. Ein Frie­dens­mi­nis­te­rium wäre gut, nicht Verteidigung.

Unter­schiede wach­sen sich aus. Ja, wenn wir von­ein­an­der ler­nen und mit der Anglei­chung von Ost und West weiterkommen.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 11/2019.

Von |2019-11-05T10:39:21+01:00November 5th, 2019|Heimat|Kommentare deaktiviert für

Was uns eint und was nicht

1989 und 2019: Ver­such einer Betrachtung

Ulrike Liedtke, MdL ist Präsidentin des Landtages Brandenburg und Vizepräsidentin des Deutschen Kulturrates.