Ulrike Liedtke 5. November 2019 Logo_Initiative_print.png

Was uns eint und was nicht

1989 und 2019: Ver­such einer Betrachtung

Gerade erscheinen die Bücher zu Ost und West, die DDR-Geschichte nicht einfach nur weglachen. Warum jetzt? 30 Jahre später. Weil der Osten reflektiert, wo Leben geblieben ist? Weil viele aus West noch nie in Ost waren? Weil die Brücke in Frankfurt (Oder) weiter führt
– nach Polen, Russland, in die Ukraine?

Am 3. Oktober wurde der 29. Tag der Deutschen Einheit gefeiert, nicht nur beim zentralen Fest in Kiel, sondern in vielen Städten und Dörfern. Mit Veranstaltungen, Kundgebungen und Gottesdiensten erinnern wir an den Fall der Mauer am 9. November vor 30 Jahren. Damals waren wir uns in vielen Punkten uneinig: demokratischer Sozialismus und dritter Weg oder soziale Marktwirtschaft? Ein schneller Anschluss an die Bundesrepublik oder gemeinsame Arbeit an einer neuen gesamtdeutschen Verfassung? Man tritt daneben oder drauf, aber doch nicht „bei“. Das Ziel war klar: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Ganz große Erwartungen an blühende Landschaften und 16 Millionen individuelle Träume. Dazu konnten bundesrepublikanische Regularien nicht auf Anhieb passen, nicht die Treuhandentscheidungen, nicht ein Rückgabe-vor-Entschädigungsgesetz, nicht die selbstverständliche Markterweiterung westlicher Unternehmen. Mein aktueller Facebook Account spiegelt in Kommentaren Unterschiedliches wider: West – wie konnte Brandenburg so viel AfD wählen? Ost – Wir haben etwas falsch gemacht, sonst wäre die Protestpartei nicht so stark geworden.

Die Menschen im Osten haben seit der Wiedervereinigung einen beispiellosen gesellschaftlichen Wandel gemeistert. Sie haben neue Berufe erlernt, Unternehmen gegründet, ein demokratisches Gemeinwesen aufgebaut. Verkehrs-, Energie- und Telekommunikationsinfrastruktur wurden ausgebaut. Neu waren Postleitzahlen, Krankenkasse, Geld, grüner Punkt, Kaufangebote, Reisen, Satellitenfernsehen, Farbkopierer, Visa-freiheit, Mietpreise, Schulorganisation, Parteienvielfalt, freie Wahlen …

Die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands ist von 43 Prozent im Jahr 1990 auf 75 Prozent des westdeutschen Niveaus 2018 gestiegen. Viele Städte und Dörfer sehen heute frisch geputzt aus. Mehr Menschen ziehen von West nach Ost als umgekehrt. Der Osten – und ganz besonders Brandenburg – bietet attraktive Standorte für junge und innovative Unternehmen. Mehr als zwei Drittel der Menschen im Osten sagen, dass sich ihre persönliche Lage seit 1990 verbessert hat, und meinen, dass es auch anderen Menschen im Osten heute besser geht als vor 1989.

Aber gleiche Lebensverhältnisse zwischen Ost und West gibt es noch nicht. Die Ost-Einkommen liegen erst bei 85 Prozent der westlichen Länder. Macht und Reichtum sind immer noch ungleich verteilt. An den Brandenburger Hochschulen und Universitäten verfügen nur 205 von 899 Professoren über eine Ostsozialisation, das meint, sie haben Kindheit und Jugend in Ost-Deutschland verbracht und dort auch den Schulabschluss erhalten. In den Vorständen großer Unternehmen sind Expertinnen und Experten aus dem Osten kaum vertreten. Die Minderrepräsentanz ostsozialisierter Führungskräfte ist unverständlich. Wenn sich niemand aus dem Osten um eine Rektorenstelle beworben hat, stimmten offensichtlich die Kriterien der Ausschreibung nicht – erst die Jüngeren werden umfangreiche internationale Erfahrungen aufweisen können. Kein einziges DAX-Unternehmen hat seinen Sitz in Ostdeutschland. Und nahezu kein internationales Großunternehmen betreibt seine Zentrale in Ostdeutschland. Viele ostdeutsche Unternehmen gehören zu westdeutschen oder ausländischen Konzernen, selbst die meisten Supermärkte, Autohändler, Schulverlage und was man so im Alltag braucht.

Zu viele Menschen im Osten sind unzufrieden mit der aktuellen Politik. Laut einer Umfrage im Auftrag der Bundesregierung fühlt sich mehr als die Hälfte der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse. Nur 38 Prozent halten die Wiedervereinigung für gelungen. 30 Jahre nach der friedlichen Revolution ist fast die Hälfte der Ostdeutschen unzufrieden mit der Demokratie. Mehr als 1,2 Millionen Menschen haben nach der Maueröffnung den Osten verlassen.

Wenn wir wollen, dass nicht nur zusammenwächst, was zusammengehört, sondern dass Ost und West gemeinsam eine enkelfreundliche Zukunft gestalten, dann müssen wir in Ost und West die Debatte zur Deutung der Friedlichen Revolution und ihrer Aneignung führen. Aus dieser Debatte – differenziert, wahrhaftig, respektvoll und mit möglichst vielen Beteiligten geführt – gewinnen wir ein klares Bild von gemeinsamen Zielen heute.
Ein heikler Punkt: Demokratie braucht ein System der Parteien. Wer Demokratie will, muss Parteien wählen. Wer gestalten will, muss auch eintreten. Das ist aber nicht so einfach für ostsozialisierte Menschen, es konnte ja auch nicht über eine Jugendorganisation oder familiäre Parteibindung laufen. Meine Geschichte macht vielleicht doch Mut: Ich fand an der S-Bahn-Station Hohenschönhausen einen Zettel mit Telefonnummer und die Nachricht, dass sich eine SDP, eine „SozialDemokratische Partei“, gründen wolle. Ich rief an und erfuhr, dass ich selbst was machen müsse. Also trafen wir uns in meiner Wohnung. Wir tranken Tee, aßen Plätzchen und dachten über die SDP nach. Das war Anfang November 1989. Gleich nach Öffnung der Mauer war ich die Erste im SPD-Büro in der Berliner Müllerstrasse, beäugt wie ein Ufo, und Dietmar Staffelt, damals SPD-Landesvorstandsmitglied, fragte, ob wir einen Kopierer hätten, so was würde man brauchen, um Werbung für die SDP zu verteilen. Hatten wir nicht. Und ein Büro wäre nötig – wieso, wir trafen uns doch in unserer Wohnung! Und Angestellte, Mitarbeiter, Öffentlichkeitsarbeiter? Nee. Hatten wir nicht. Dann fanden wir uns, all die anderen, die in ihren Wohnungen mit Gleichgesinnten Tee getrunken hatten. Ganz klar: „Partei“ ging gar nicht. Zu viele Emporkömmlinge hatte ich erlebt, die über ihre Partei Karriere gemacht hatten. Das wollte ich nicht. SDP-Mitglied aus der Umbruch-Zeit heraus war okay, aber SPD-Mitglied? Schon allein dieses Wort „Genosse“ kam gar nicht in Frage. Aber wir hatten ja keinen Kopierer, keinen Mitarbeiter, keine Öffentlichkeitsarbeit … Schlecht war mir nach meinem SPD-Eintritt, kotzübel. Niemals wollte ich so sein wie die Politiker, die ich in DDR-Zeiten erlebt und erfolgreich ignoriert hatte. Niemals. Dann kam die erste Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung, ich fuhr das beste Stimmenergebnis in Hohenschönhausen ein. Plötzlich war ich in der Pflicht.

Der erste und beste Eindruck: In der Fraktion saß ich zusammen mit Menschen unterschiedlichster Berufe. Ich kam doch von der hehren Kunst! Ich kannte doch nur solche, die auch von der hehren Kunst kamen! Begeistert stellte ich fest, wie schlau die alle waren, ganz ohne Noten lesen zu können – die Pfarrersfrau Renate Hofmeister, der polnische Bauingenieur Jacek Gredka, die Finanzerin Dorette Suhr, der Umweltschützer Matthias Stawinoga. Renate räumte mit dem Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen auf, Jacek las meine Gedichte und wollte immer neue, Dorette beäugte alles aus kühl monetärer Sicht, Matthias suchte Verbündete für den grünen Gürtel um Berlin. Ihm verdanken wir heute, dass nördlich von Berlin nicht gebaut werden durfte. Neue Schulen wurden gebraucht, Galerien nahmen ihre Arbeit auf, das alte Handelshaus wurde durch das Lindencenter ersetzt, ein Kino entstand und die Wohnungssanierung ließ Neubaublöcke bunt und schick erscheinen. Lebenswert, individuell, modern, mit guter Sicht aus dem 12. Stock auf Berlin.

Eine besondere Erinnerung gibt es von der wöchentlichen Sprechstunde im Rathaus. Es kamen Bauarbeiter, sehr viele. Sie hatten die neuen Overalls an, Babystrampelanzüge haben wir damals gesagt. Und sie haben geschimpft. Auf alles und ganz laut und auf uns, die neuen Politiker. Und dann fiel der eine Satz, der mich seither verfolgt: „Ihr seid jetzt an der Macht. Nun macht was draus.“ Also: ich, Renate, Jacek, Dorette … Wir waren jeden Abend im Rathaus, es gab einfach zu viel Arbeit. Aber über Macht hatten wir nicht nachgedacht. Noch im Herbst 1989 schrieben Wolfgang Thierse, Iris Schälicke und ich ein Gesamtberliner Kulturkonzept – die Institutionen müssten erhalten bleiben, weil es ja genau so viele Menschen im vereinten Berlin geben werde wie zuvor in seinen Teilen, weil man Singakademien und Orchester nicht einfach fusionieren könne, weil das große Berlin alle Museen bräuchte. Die Akademie der Künste müsste wieder ordentlich Kunst fördern und Freiheit wäre jetzt das wichtigste Gut für Künstler, ganz ohne Angst.

Meine Geschichte ist nur ein Beispiel für viele Geschichten, so vielfältig wie die Menschen, die sich entschieden hatten, Parteien neu zu gründen wie Bündnis 90/Die Grünen und SPD oder sich neu erfanden wie FDP und CDU im Osten. In Sachsen und Brandenburg haben wir gerade erhebliche Stimmenverluste dieser Parteien erlebt und müssen uns fragen, woran das liegt und wie verlorenes Demokratiegedächtnis zurückzugewinnen ist.
Noch immer begreife ich die friedliche Revolution als Chance zur Freiheit, als Chance zu gestalten. Manchmal klappt es, manchmal muss man angehen gegen Verkrustungen, die es nach 30 Jahren immer noch oder wieder neu gibt. Mich ärgert es, wenn ich am Marktstand Stellung beziehen muss zum Waffenhandel Deutschlands, zum ungleichen Ost-West-Rentensystem, zur Armut in einem reichen Land. Aber eigentlich wollen sich die Fragesteller einbringen und wissen nicht, wie. Politische Aufklärung, Bildung – es gibt viel zu tun!

Was macht denn nun die Unterschiede aus, die andere Identität Ost? Die Antworten sind vielseitig, vielfältig wie die Lebensgeschichten selbst und ich kann es nur spontan – unwissenschaftlich – versuchen. Sofort mischen sich die kleinen Dinge mit den großen Weltsichten: Mut und Protesterfahrung, andere Lieder und Lieblingsbücher als Wissens- und Erfahrungsreservoire, bei den Alten noch die andere Schulbildung, Botschaften in der Kunst als Haltung, eine Portion russische Seele von Puschkin-Gedichten und Tschaikowski (am Ende mit „i“ wie im Russischen), die generelle Distanz zur Partei, 1968 ist das Jahr der Erschütterung über den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag, Verehrung von Solidarność und Freudentränen über die ungarische Grenzöffnung am 10. September 1989. Dann die enttäuschten Helden im Hungerstreik der Kalikumpel von Bischofferode 1993 und im gleichen Jahr der Hit von den Prinzen „Alles nur geklaut“. Alle kennen „Kleine weiße Friedenstaube“ – 2016 wurde die Autorin, die Kindergärtnerin Erika Schirmer aus Nordhausen, mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Ein Friedensministerium wäre gut, nicht Verteidigung.

Unterschiede wachsen sich aus. Ja, wenn wir voneinander lernen und mit der Angleichung von Ost und West weiterkommen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2019.

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