Koor­di­na­ti­ons­netz

Wie geht der rbb mit sei­nem inte­gra­ti­ven Auf­trag um?

Es ist ein Satz, der in polier­tem Mar­mor über den Ein­gän­gen zu unse­ren Stu­dios pran­gen könnte: „Durch seine Ange­bote trägt der Rund­funk Ber­lin-Bran­den­burg (rbb) zur Zusam­men­ge­hö­rig­keit im ver­ein­ten Deutsch­land und zur För­de­rung der gesamt­ge­sell­schaft­li­chen natio­na­len und euro­päi­schen Inte­gra­tion in Frie­den und Frei­heit und zu einer Ver­stän­di­gung unter den Völ­kern, ins­be­son­dere zum pol­ni­schen Nach­bar­land, bei.“ So steht es im Staats­ver­trag des rbb unter „Auf­trag“, und ich denke ohne jede Iro­nie: Wie dank­bar kön­nen wir für diese so sinn­stif­tende, gesell­schaft­lich wert­volle Maß­gabe sein!

Die Anstren­gun­gen, die wir im rbb unter­neh­men, um die­sem weit­rei­chen­den Auf­trag gerecht zu wer­den, sind viel­fäl­tig. Sie rei­chen einer­seits von „Kowal­ski & Schmidt“, dem deutsch-pol­ni­schen Maga­zin im rbb Fern­se­hen, bis zu unse­rem inter­nen „rbb Team Diver­sity“, das das Thema Viel­falt im rbb auf allen Ebe­nen und in allen Berei­chen des Sen­ders mit Vor­schlä­gen und Maß­nah­men stär­ker ver­an­kern soll. Sie umfas­sen bei­spiels­weise auch unser neues For­mat „Wir müs­sen reden“, bei dem kon­tro­verse The­men aus der Region direkt bei den Betrof­fe­nen und im direk­ten Gespräch mit ihnen dis­ku­tiert wer­den, unsere Ver­an­stal­tungs­reihe „Den rbb gril­len“, bei der wir unser Pro­gramm zum Thema machen und den Dia­log mit unse­rem Publi­kum suchen oder auch die „Ohrenbär“-Kinderfeste für die Jüngs­ten in unse­rem Haus des Rund­funks, gerade erst wie­der rund ums Thema „Obst und Gemüse“.

Natür­lich wären auch die zahl­rei­chen Infor­ma­ti­ons-, Kul­tur-, Inves­ti­ga­tiv- oder Bil­dungs­for­mate in unse­ren Radio­pro­gram­men oder im Fern­se­hen zu nen­nen, die groß ange­leg­ten Daten­re­cher­chen unse­rer Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen bei rbb|24, das ehr­gei­zige Unter­fan­gen, die Tage des Mau­er­falls auf Insta­gram einer Gene­ra­tion zu ver­mit­teln, die lange nach dem his­to­ri­schen Ereig­nis gebo­ren ist.

Wir könn­ten Sei­ten fül­len mit Bei­spie­len, wie wir unse­rem Inte­gra­ti­ons­auf­trag immer wie­der neu und – ein wenig Eigen­lob sei mir gestat­tet – auch immer wie­der erfolg­reich nach­kom­men. So weit, so gut. Es wäre schlimm, wenn dem nicht so wäre und wir wis­sen natür­lich auch, dass wir noch bes­ser wer­den kön­nen, bei­spiels­weise wenn es darum geht, die Bunt­heit der Region in unse­ren Pro­gram­men noch stär­ker abzubilden.
Wenn ich in den ver­gan­ge­nen Wochen und Mona­ten aber auf die Reak­tio­nen eines Teils unse­res Publi­kums auf einige unse­rer pro­gramm­li­chen Ange­bote schaue, könnte ich Zwei­fel an der inte­gra­ti­ven Kraft unse­rer Sen­dun­gen bekom­men. Ein Bei­spiel aus jüngs­ter Zeit: Die­ter Nuhr beschäf­tigte sich Ende Sep­tem­ber in sei­ner Satire- und Kaba­rett-Sen­dung „Nuhr im Ers­ten“, die der rbb in Ber­lin pro­du­ziert, mit Greta Thun­berg. Und ja, er machte sie und ihre Anlie­gen zum Gegen­stand sei­nes Spotts. Ob ich sei­nen Humor teile oder nicht, spielt für den wei­te­ren Fort­gang keine Rolle. Mich bewegte die Erbit­te­rung, die aus vie­len Reak­tio­nen auf diese Sequenz in der Sen­dung sprach. Nuhr, so ein mehr oder weni­ger unter­schwel­li­ger Vor­wurf, spalte mit sei­nen Bemer­kun­gen die Gesell­schaft – weil er der „fal­schen“ Seite Lacher erlaube, weil er ein gutes Anlie­gen ins Lächer­li­che ziehe. Fin­det da also plötz­lich das Gegen­teil von Inte­gra­tion statt – in einem Kern­an­ge­bot des rbb?
Ver­ein­facht gesagt, liegt in mei­nen Augen eine wesent­li­che inte­grie­rende Funk­tion der Medien darin, der gesam­ten Gesell­schaft ein Netz aus Koor­di­na­ten zur Ver­fü­gung zu stel­len, das den Bür­ge­rin­nen und Bür­gern die Ver­or­tung und Über­prü­fung eige­ner Posi­tio­nen, Wahr­neh­mun­gen und Inter­es­sen erlaubt. Im bes­ten Fall ist die­ses Netz so groß, wie die Gesell­schaft viel­fäl­tig ist, und so eng­ma­schig, wie die Gesell­schaft selbst Dif­fe­ren­zie­rung zulässt.

Wie gehen Medien aber mit ihrem inte­gra­ti­ven Auf­trag um, wenn es in Tei­len des Publi­kums gar kein Inter­esse an ande­ren Posi­tio­nen, Inter­es­sen, Wahr­neh­mun­gen gibt? Wenn direkt hin­ter der eige­nen Über­zeu­gung das Nie­mands­land, wenn nicht sogar schon das Fein­des­land beginnt?
Wir dür­fen schlech­ter­dings nicht sagen, dass uns das nicht inter­es­siert, denn unser öffent­lich-recht­li­cher Auf­trag zielt aus­drück­lich auf unser Gemein­we­sen ins­ge­samt. Eine Alter­na­tive könnte darin lie­gen, zu kon­tro­verse oder kon­fron­ta­tive For­mate zu ver­mei­den, den Erre­gungs­wel­len gerade im Netz nach Mög­lich­keit keine inhalt­li­chen Dämme ent­ge­gen­zu­set­zen. Das sähe dann even­tu­ell sogar wie Inte­gra­tion aus, weil augen­schein­lich brei­ter gesell­schaft­li­cher Kon­sens über unsere Ange­bote besteht. Aber es ist eben aus­drück­lich nicht unsere Auf­gabe als Medien, einen Kon­sens her­zu­stel­len, im Gegen­teil. Wer, wenn nicht wir – und da schließe ich alle jour­na­lis­tisch arbei­ten­den Medien mit ein –, hätte die Mög­lich­keit und die Pflicht, Span­nun­gen im Gesell­schafts­netz sicht­bar zu machen, auf mög­li­che Risse hin­zu­wei­sen, Ver­schie­bun­gen im Koor­di­na­ten­sys­tem zu erken­nen und zu benennen?

Wenn wir dies tun, sei es bei „Kon­traste“ oder bei Die­ter Nuhr, neh­men wir eine unse­rer zen­tra­len Auf­ga­ben ernst. Wie die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger mit den Kon­tro­ver­sen umge­hen, wie Mehr­heits- und Min­der­heits­mei­nun­gen zu den ein­zel­nen The­men ent­ste­hen, wo gesell­schaft­li­cher Kon­sens wächst oder auf­weicht – das sind Fra­gen des demo­kra­ti­schen Wil­lens­bil­dungs­pro­zes­ses, den wir ansto­ßen, unter­stüt­zen, beglei­ten, aber sicher nicht steu­ern oder beein­flus­sen soll­ten. In die­sem Sinne müs­sen mir auch böse Reak­tio­nen auf unsere Sen­dun­gen recht sein – ein gro­ßes, weit gefass­tes Koor­di­na­ten­sys­tem mit viel­fäl­ti­gen Posi­tio­nen ist mir immer lie­ber als ein zu enges.

Unser Inte­gra­ti­ons­auf­trag wird auch noch aus einer ande­ren Rich­tung auf die Probe gestellt: Der rbb-Staats­ver­trag atmet in jeder Zeile den Geist des Umbruchs und Neu­an­fangs des aus­ge­hen­den 20. Jahr­hun­derts. Er ist opti­mis­tisch mit Blick auf das erstar­kende Europa, auf die demo­kra­ti­schen, völ­ker­ver­bin­den­den Kräfte. Er zielt auf einen Grund­kon­sens: Die, die hier zusam­men­kom­men, sehen in der plu­ra­lis­ti­schen Gesell­schaft ihr gemein­sa­mes, ihr demo­kra­ti­sches Ziel.

Heute sto­ßen wir aller­dings wie­der auf poli­ti­sche Kräfte, die die­ses Ziel offen­sicht­lich nicht tei­len, deren Vor­stel­lun­gen von Wil­lens­bil­dung, Kon­sens, Inter­es­sen­aus­gleich weit ent­fernt sind von dem Geist, den unser Auf­trag atmet. Gleich­zei­tig neh­men diese Kräfte aber ganz selbst­ver­ständ­lich unse­ren Inte­gra­ti­ons­auf­trag mit Blick auf sich selbst in Anspruch: Wir sind da, inte­griert uns, macht uns zum Teil des Koor­di­na­ten­sys­tems, stellt den Anschluss an die Gesell­schaft, an die demo­kra­ti­sche Gemein­schaft für uns mit uns her.

Aus mei­ner Sicht müs­sen wir uns sol­chen For­de­run­gen ver­wei­gern, denn sie wei­sen uns, den Medien, eine fal­sche Rolle zu. Wir bil­den ab, wir machen Koor­di­na­ten sicht­bar, wir zei­gen die Bezie­hun­gen zwi­schen den ein­zel­nen Koor­di­na­ten auf. Dazu gehört Abstand, dazu gehört vor allem, sich nicht ver­ein­nah­men zu lassen.

Ein Bei­trag zur gesell­schaft­li­chen Inte­gra­tion kann auch darin lie­gen, Dif­fe­ren­zen auf­zu­zei­gen, Unstim­mig­kei­ten offen­zu­le­gen. Daran soll­ten wir uns auch selbst immer wie­der erin­nern. Wer ein Feind der Demo­kra­tie ist, kann – Inte­gra­tion hin oder her – kein Freund des öffent­lich-recht­li­chen Rund­funks sein.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 11/2019.

Von |2019-10-29T16:46:12+01:00Oktober 29th, 2019|Medien|Kommentare deaktiviert für

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Patricia Schlesinger ist Intendantin des rbb.