Alle Wege führen nach Frankfurt am Main – zumindest einmal jährlich im Oktober, wenn die weltweit größte Buchmesse stattfindet. 2019 gibt es zudem ein Jubiläum zu feiern: Vor 70 Jahren, im September 1949, kamen über 200 deutsche Aussteller in der Paulskirche zur ersten Buchmesse der Nachkriegszeit zusammen. Nun hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels im Juni 2019 Zahlen vorgelegt – nachzulesen in der Publikation „Zurück zu den Lesern – Der Buchmarkt in Deutschland 2018/19“ –, die vorsichtig positiv stimmen: So ist die Zahl der Käufer im Jahr 2018 erstmals seit 2012 wieder gestiegen. Und auch der Umsatz ist in den Monaten Januar bis Mai 2019 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 4,1 Prozent gewachsen. Das ist insofern beachtlich, als die Buchbranche in den vergangenen Jahren mit der zunehmenden Digitalisierung eine starke Konkurrenz etwa durch soziale Medien oder oft ausländische Serien erhalten hat. Behrang Samsami hat mit Anvar Čukoski, dem Leitenden Lektor von Blumenbar im Aufbau Verlag, über die Veränderungen im Berufsbild des Lektors, die besonderen Erwartungen an Bücher in unserer schnelllebigen Zeit und – 30 Jahre nach dem Mauerfall – über Aufbau als einem besonderen deutsch-deutschen Verlag gesprochen.
Behrang Samsami: Herr Čukoski, wie wird man Lektor?
Anvar Čukoski: Es gibt den ganz klassischen Weg: Germanistik oder eine andere Philologie studieren, Praktika machen, ein Volontariat absolvieren und dann in einem Verlag anfangen. Das ist aber nicht der notwendige Weg. Man kann auch etwas anderes studiert haben. Und es gibt Quereinsteiger – interessanterweise in jüngster Zeit vor allem gerade dort, wo es um die hohen Posten geht, so etwa bei Verlegern, die aus dem Journalismus kommen.
Ich frage mich jedoch, ob dieser klassische Weg zur Lektoratsarbeit nicht auch ein Problem darstellen kann, gerade wenn es darum geht, sich als Verlag diverser aufzustellen. Das diskutieren wir zurzeit auch verstärkt – schließlich wollen wir Bücher für möglichst viele Leser machen. Dafür braucht es dann auch Verlagsmitarbeiter mit unterschiedlichen sozialen und Bildungshintergründen, und natürlich auch mit Migrationsgeschichte. Denn ich fürchte, es ist nach wie vor so, dass der klassische Weg auch vor allem von den „klassischen“ Kandidaten durchlaufen wird.
Wie ist es in Ihrem Fall? Haben Sie einen anderen Blick auf Texte als Ihre Kollegen?
Ich schaue auf bestimmte Stoffe tatsächlich anders. Quasi über meinen Vater. Er ist als Gastarbeiter aus Mazedonien nach Deutschland gekommen, musste sich hier neu finden und verständigen, hat sich fremd gefühlt und sicherlich auch Ausgrenzung erfahren.
Aber mit einem fremden, ungewohnten Blick auf die Dinge zu schauen – das ist etwas, das in der Literatur überhaupt viel stattfindet und stattfinden muss. Mit Migrationshintergrund auf eine Gesellschaft zu blicken, ist dabei nur ein sehr offensichtlicher Weg, das zu tun. Aber der Schriftstellerblick ist oft ein beobachtender, der von außen auf etwas schaut. Daher gilt: Geschichten, die von Menschen erzählen, die sich fremd fühlen, müssen nicht unbedingt von Autoren geschrieben werden, die einen anderen Pass haben.
Trotzdem kommt diese Sichtweise in der deutschsprachigen Literatur sicher noch immer zu wenig vor. Im Vergleich zur amerikanischen Literatur, in der das immer schon eine größere Rolle gespielt hat, hinken wir da hinterher. Ich frage mich auch, ob das ein Grund dafür ist, dass wir Leser verlieren. Viele Menschen finden sich in dem sehr kleinen Ausschnitt der Gesellschaft, der sich in der hiesigen Literatur abbildet, vielleicht gar nicht wieder.
Zu Ihrer Arbeit: Wie sollte man als Autor vorgehen, damit Sie ein Manuskript lesen?
Schicken Sie mir eine E-Mail, hängen Sie den vollständigen Text im Word-Format an und machen Sie mir im Anschreiben klar, was Ihr Manuskript von allen anderen abhebt. Die meisten Manuskripte erreichen mich heutzutage aber über eine der Literaturagenturen. Die versorgen uns so zuverlässig und regelmäßig, dass wir damit schon alle Hände voll zu tun haben. Wenn jemand über erste Wettbewerbe, erste Preise, Schreibschulen oder auch einen anderen Weg – z. B. als Journalist – auf sich aufmerksam macht, dann sind die Literaturagenturen da einfach schon frühzeitig dran und leisten oft tolle Arbeit.
Hätten Sie denn noch Zeit, selbst jemanden zu entdecken?
Die Zeit ist knapp, trotzdem versucht man es. Und hin und wieder klappt es auch. Um den Bogen zur vorherigen Frage noch einmal zu spannen: Man braucht als Autor nicht unbedingt eine Agentur, aber man braucht eine gute Idee, wie man den Kontakt zum Verlag anders herstellen kann. Man kann sein eigener Agent sein – als Autor wie auch als Lektor.
Andererseits ist es so, dass die Arbeit am Manuskript – und dazu gehört auch schon das Autoren-Entdecken und Texte-Prüfen, das, was man gerade am Anfang der Lektorentätigkeit als den Kern seiner Arbeit begreift – immer weiter Richtung Feierabend rutscht. Denn die Abwicklung, Verwaltung und Kommunikation, also das Projektmanagement, nehmen einen immer größeren Raum ein.
Ist das bei allen Verlagsmitarbeitern der Fall?
Ich denke schon. Da die Buchbranche im Umbruch ist, müssen wir neue Geschäftsmodelle erschließen, ohne das klassische Verlegen zu vergessen. Neue Aufgaben kommen hinzu, ohne das alte wegfallen. Das betrifft alle Mitarbeiter eines Verlags. Als Lektor ist man die Schnittstelle: Nur ein Teil der Aufgabe ist das Lesen, Akquirieren und Lektorieren. Der andere ist dann das angesprochene Projektmanagement, sich mit den Kollegen zusammenzusetzen und sie mit Informationen zu versorgen, die sie brauchen, um ein Buch herzustellen oder die Öffentlichkeit für ein Buch zu schaffen. Und das ist schwieriger und spannender, in jedem Fall aber vielfältiger geworden.
Zurück zum Manuskript, das auf Ihrem Schreibtisch liegt: Was ist Ihnen besonders wichtig?
Bei den Texten, die ich lese, ob deutsche oder ausländische, gibt es zwei Hauptkriterien: Ich achte natürlich auf die Verkäuflichkeit und also da-rauf, ob ich mir vorstellen kann, dass es für das Manuskript auch ein möglichst großes Publikum gibt. Zum anderen ist mir wichtig, dass auf eine Art erzählt wird, die mich überrascht und herausfordert und die mir unsere Welt und unsere Wirklichkeit dergestalt zeigt, wie ich sie noch nicht wahrgenommen habe.
Wie frei sind Sie in der Entscheidung, ein Manuskript in das Programm aufzunehmen?
Die endgültige Entscheidung für ein Buch ist oft eine gemeinsame. Ich spreche viel mit Kollegen und mit unserer Verlagsleiterin. Wir lesen gemeinsam, sprechen über die Texte und entscheiden dann meist auch gemeinsam. Aber natürlich habe ich Freiheiten. Als Leitender Lektor liegt es in meiner Verantwortung, Schwerpunkte zu setzen und eine gute Mischung zu finden.
Wir denken als Verlag noch immer in den Zeiträumen von Frühjahrs- und Herbstprogramm. Und wenn ich weiß, dass wir für den Herbst schon ein deutschsprachiges literarisches Debüt eingeplant haben, kaufe ich nicht noch ein weiteres ein. Da muss man die Aufmerksamkeit steuern und schauen, dass sich die Bücher nicht gegenseitig im Weg stehen und einander zu ähnlich sind.
Und ganz wichtig: Wir müssen im Verlag immer den Spagat schaffen, Bücher zwischen Kunst und Kommerz zu platzieren. Einerseits wollen wir Texte publizieren, die den Blick weiten und die Gesellschaft verändern, wenn man einmal ganz hoch greifen will. Andererseits brauchen wir Bücher, die sich so gut verkaufen, dass der Verlag am Ende des Jahres schwarze Zahlen schreibt.
Stichwort Digitalisierung: Laut der Veröffentlichung „Zurück zu den Lesern. Der Buchmarkt in Deutschland 2018/2019“ des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels vom Juni 2019 ist der Anteil von E-Books am Gesamtumsatz auf fünf Prozent gestiegen. Das sind in Zahlen 32,8 Millionen verkaufter Exemplare in 2018. Wie geht Aufbau mit dieser Entwicklung um?
Dieses Segment wird immer wichtiger – auch wenn die Zahlen noch überraschend gering sind. Vor zehn Jahren hat man noch angenommen, dass der E-Book-Anteil heute bei mindestens 20 Prozent liegen würde. Das hat sich nicht ganz eingelöst.
Wir nehmen dabei einen Unterschied wahr zwischen dem, was man Unterhaltungs-literatur, und dem, was man „ernsthafte“ Literatur nennt. Bei Ersterem haben wir einzelne Titel, bei denen wir mehr E-Books als Printbücher verkaufen. Andererseits beobachte ich auch den Trend, dass Bücher wieder verstärkt als schönes, aufwendig hergestelltes Objekt wahrgenommen werden, als etwas, das man bewusst in die Hand nimmt, um sich aus der Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft und Zeit zurückzuziehen und zur Ruhe zu kommen.
In der Branche wird auch polemisch vom Buch als „Wellness-Produkt“ gesprochen. Dennoch bin ich sehr ehrfürchtig, dass sich so viele Menschen nach wie vor die Zeit nehmen, sich in ein Buch zu versenken. Sie merken, wie wertvoll das in ihrem Leben ist. Letztlich glaube ich, die Leser suchen bei uns nicht das, was sie auch umsonst im Internet haben könnten. Das Buch kann manche Geschichten und Ideen einfach besser erzählen als andere Medien, und das wird sich wohl niemals ändern.
Im November 2019 sind es 30 Jahre, dass die Berliner Mauer geöffnet wurde. Die Geschichte von Aufbau ist eng mit der Nachkriegszeit und der Teilung Deutschlands verbunden. 1945 in der Sowjetischen Besatzungs-zone gegründet, war Aufbau später der bedeutendste Verlag in der DDR. Hier ist Exil- und antifaschistische Literatur erschienen, die in der Nazizeit verboten war. Osteuropäische und sowjetische Autoren waren ebenfalls wichtig im Programm. Inwieweit fühlt sich Aufbau dieser Geschichte verpflichtet?
Die Geschichte des Verlags spielt eine große Rolle. Es hat mich am Anfang fast ein wenig überrascht zu sehen, wie sehr sich Aufbau seiner Geschichte und dieser Aufgabe verbunden fühlt. Ich glaube, über bestimmte Themen sprechen wir anders als andere Verlage. Es gibt gar nicht so wenige Kolleginnen und Kollegen, die schon seit 30 oder gar 40 Jahren bei Aufbau sind und sich dem Haus natürlich sehr verbunden fühlen. Die den Verlag auf seinem Weg von einem Staat in einen anderen begleitet haben, die geprägt haben, was der Verlag damals war und heute ist. Und für die sich die Veränderungen des turbokapitalisierten Buchmarkts vielleicht noch grundsätzlicher als für mich anfühlen.
Zudem fühlt sich Aufbau gerade der ostdeutschen Geschichte und den ostdeutschen Lesern gegenüber besonders verpflichtet. Viele Mitarbeiter kommen aus Ostdeutschland, unter anderem unsere Verlagsleiterin im Literaturbereich, Constanze Neumann. Es gibt Bücher zu ostdeutschen Themen, wie etwa von Jana Hensel oder Wolfgang Engler oder von Sascha und Bernd-Lutz Lange, die bei uns publiziert werden. Und natürlich haben viele Leser im Osten eine Beziehung zum Aufbau Verlag – das macht es für uns vielleicht auch einfacher, dort neue Leser zu erreichen als für manch anderen Verlag.
Vielen Dank.
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2019.