Kein „Wil­der Westen“

Frei­heit und Ver­ant­wor­tung im Internet

Das Inter­net ist ein Ver­spre­chen von Frei­heit. Doch Frei­heit funk­tio­niert nicht ohne Ver­ant­wor­tung. Das Inter­net war noch nie Wil­der Wes­ten – ein Raum, in dem keine Gesetze, keine Regu­lie­rung gegrif­fen hät­ten. Die­ses Inter­net exis­tierte und exis­tiert auch heute nicht im luft­lee­ren Raum, son­dern funk­tio­niert nur durch Ser­ver und Über­tra­gungs­mit­tel, die auf staat­li­chem Ter­ri­to­rium ste­hen und damit ört­li­chen Geset­zen unter­lie­gen. Natür­lich müs­sen Gesetze für das digi­tale Zeit­al­ter ange­passt wer­den, man­che auch neu geschaf­fen wer­den, wenn erkannt wird, dass neue Mög­lich­kei­ten zum Nach­teil der Gesell­schaft genutzt wer­den. Grund­lage hier­für soll­ten immer die Werte und Prin­zi­pien sein, die wir bereits in der ana­lo­gen Welt als unse­ren Maß­stab anset­zen. Gute Regu­lie­rung, Ver­ant­wor­tung für das Inter­net kann nur gelin­gen, wenn wir es als das betrach­ten, was es ist: ein welt­wei­ter Ver­bund von Rech­ner­netz­wer­ken. Lei­der schauen wir zu häu­fig aus­schließ­lich auf Platt­for­men, die im Inter­net exis­tie­ren, und ver­su­chen diese zu regu­lie­ren, als wären sie „das Inter­net“. Frei­lich tra­gen Platt­for­men Ver­ant­wor­tung und gehö­ren regu­liert. Aber die Regu­lie­rung der Platt­for­men darf eben nicht außer Acht las­sen, dass das Inter­net weit mehr ist als diese.

Um über Frei­heit und Ver­ant­wor­tung im Netz zu spre­chen, möchte ich das Inter­net ver­las­sen und den Blick auf die gesamte digi­ta­li­sierte oder noch zu digi­ta­li­sie­rende Welt rich­ten. Uns begeg­net hier zuneh­mend die Frage: Wie wol­len wir im Zeit­al­ter der Digi­ta­li­sie­rung leben? Selbst Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­meier appel­lierte an die Besu­cher des Evan­ge­li­schen Kir­chen­tags 2019, dass sie sich inten­si­ver mit die­ser Fra­ge­stel­lung aus­ein­an­der­set­zen und sich ein­brin­gen sol­len. Die Digi­ta­li­sie­rung stellt uns nicht vor gänz­lich neue ethi­sche Fra­gen. Sie stellt uns aber vor die wich­tige Auf­gabe, unsere Prin­zi­pien und Wert­vor­stel­lun­gen mit in die digi­tale Welt zu neh­men und auf diese zu über­tra­gen. Dass das nicht immer leicht ist und uns teil­weise vor enorme Her­aus­for­de­run­gen, aber auch Chan­cen stellt, ist nicht überraschend.

Im Fokus die­ser digi­ta­li­sier­ten Welt ste­hen algo­rith­mi­sche Ent­schei­dungs­sys­teme, die häu­fig hoch­tra­bend als Ent­schei­dun­gen einer künst­li­chen Intel­li­genz dar­ge­stellt wer­den, es aber sel­ten sind. Wir dis­ku­tie­ren sehr viel dar­über, was ein auto­nom fah­ren­des Auto dür­fen soll und was nicht; set­zen sogar – rich­ti­ger­weise – eine Ethik-Kom­mis­sion ein, die dem Gesetz­ge­ber Vor­schläge zur recht­li­chen Gestal­tung geben soll und dies auch tut. Es wurde eine Daten­ethik­kom­mis­sion ein­ge­setzt, die die Bun­des­re­gie­rung zum ethi­schen Umgang mit Daten berät und eine „High-Level Expert Group“ der Euro­päi­schen Kom­mis­sion, die ethi­sche Rah­men­be­din­gun­gen für den Umgang mit künst­li­cher Intel­li­genz bereits ver­öf­fent­lichte. Wir dis­ku­tie­ren – völ­lig zu Recht – inwie­weit Algo­rith­men dar­über ent­schei­den dür­fen sol­len, ob jemand ins Gefäng­nis kommt oder nicht. Ob Algo­rith­men bes­ser und neu­tra­ler ent­schei­den, als Rich­ter es kön­nen, oder ob sie nicht doch Vor­ur­teile repro­du­zie­ren. Die Ten­denz die­ser Dis­kus­sio­nen ist meis­tens klar: Gerade schwer­wie­gende Ent­schei­dun­gen, die Grund­rechte oder das (wei­tere) Leben beein­träch­ti­gen kön­nen, soll­ten mög­lichst abschlie­ßend von Men­schen getrof­fen werden.

Bei algo­rith­mi­schen Sys­te­men, bei denen wir heute sagen, dass wir sie nut­zen wol­len, um z. B. eine wei­tere Grund­lage für mensch­li­che Ent­schei­dun­gen zu haben, spre­chen wir inten­siv über Pro­bleme durch ein Bias, also einer Ver­zer­rung, über Trans­pa­renz, Nach­voll­zieh­bar­keit und die Qua­li­tät von Daten, mit denen die­ses Sys­tem trai­niert oder schließ­lich gefüt­tert wird. Auch hier geht die Ten­denz in die Rich­tung, dass wir als Gesell­schaft Ent­schei­dun­gen, die algo­rith­mi­sche Sys­teme für uns tref­fen, unbe­dingt nach­voll­zie­hen kön­nen müs­sen. So kön­nen wir sie nicht nur ver­ste­hen, son­dern auch an ent­spre­chen­den Stel­len Beschwerde ein­le­gen, sodass auto­ma­ti­sierte Ent­schei­dun­gen von Men­schen über­prüft wer­den. Es geht hier um nichts weni­ger als den Schutz von Grund- und Bürgerrechten.

Ver­en­gen wir wie­der unse­ren Blick und schauen auf das Inter­net, stellt sich nun die Frage, warum wir hier nicht mit der glei­chen Vor­sicht und Gewis­sen­haf­tig­keit vor­ge­hen. Betrach­ten wir z. B. die EU-Urhe­ber­rechts­richt­li­nie. Ja, Upload­fil­ter ste­hen nicht im Geset­zes­text. Das tut aber wenig zur Sache, wenn klar ist, dass nur durch tech­ni­sche Hilfs­mit­tel, durch Algo­rith­men, im Volks­mund eben auch Upload­fil­ter genannt, Gesetze umge­setzt wer­den kön­nen. Da hel­fen keine natio­na­len Allein­gänge, die Upload­fil­ter ver­bie­ten und Pau­schal­li­zen­zen ver­pflich­tend machen wol­len. Upload­fil­ter sind nichts ande­res als algo­rith­mi­sche Sys­teme, die abglei­chen, ob für urhe­ber­recht­lich geschütz­tes Mate­rial, das auf eine Platt­form hoch­ge­la­den wird, eine Lizenz vor­han­den ist, oder ob eine der zahl­rei­chen urhe­ber­recht­li­chen Schran­ken greift. So z. B. eine für Satire oder eine für Par­odie. Dass Tech­no­lo­gie dies heute über­haupt leis­ten kann, wird von allen Exper­ten stark bezweifelt.

Nun könnte man sagen, es kann auch hier Beschwer­de­stel­len geben, sodass ein Mensch die Ent­schei­dung des Upload­fil­ters über­prü­fen muss. Das ist rich­tig. Bei der Menge an Mate­rial, das auf Platt­for­men hoch­ge­la­den wird – allein auf You­Tube sind es 400 Stun­den pro Minute(!) – bei der Viel­zahl an Spra­chen, Dia­lek­ten, Slang, Insi­der-Wit­zen und sons­ti­gen Infor­ma­tio­nen, die zur Ein­ord­nung – sei es durch Mensch oder Algo­rith­mus – not­wen­dig sind, ein schier unmög­li­ches Unter­fan­gen. Es würde nicht nur auf eine uner­mess­li­che Summe an algo­rith­mi­schen Fehl­ent­schei­dun­gen hin­aus­lau­fen, son­dern auch auf eine durch den Men­schen. Von der zeit­li­chen Ver­zö­ge­rung bis zu einer Ent­schei­dung und damit recht­mä­ßi­gen Publi­ka­tion eines Bei­trags auf einer Platt­form ganz zu schweigen.

Wo blieb und wo bleibt in der Dis­kus­sion über das Inter­net und Platt­for­men die Debatte um die Aus­la­ge­rung der Grund­rechte betref­fen­der Ent­schei­dun­gen an algo­rith­mi­sche Sys­teme? Wir führ­ten sie nicht und das, obwohl das Thema Ethik, die Frage nach dem guten Leben im digi­ta­len Raum, gerade bei so vie­len poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen auf der Prio­ri­tä­ten­liste steht. Algo­rith­mi­sche Ent­schei­dun­gen, die die Frei­heit von so vie­len – hier im Spe­zi­el­len die Mei­nungs- und Infor­ma­ti­ons­frei­heit – ein­schrän­ken, dür­fen wir nicht zulas­sen. Der Erhalt und der Schutz von Urhe­ber­rech­ten im digi­ta­len Raum ist wich­tig und not­wen­dig. Doch noch wich­ti­ger ist der Erhalt von Bür­ger­rech­ten. Die Abwä­gung zwi­schen Rechts­gü­tern ist nichts für Algo­rith­men, son­dern für Men­schen mit ent­spre­chen­der Aus­bil­dung und Legi­ti­ma­tion. Und auch wenn wir Tech­nik ein­set­zen dür­fen, um Rechte best­mög­lich zu schüt­zen, dür­fen wir algo­rith­mi­schen Sys­te­men und pri­vat­wirt­schaft­li­chen Beschwer­de­stel­len nicht Auf­ga­ben über­ge­ben, über die wir in der ana­lo­gen Welt Gerichte urtei­len las­sen, gerade weil Sach­ver­halte häu­fig kom­ple­xer sind als eine Abfolge von Ein­sen und Nullen.

Wie viel uns daran liegt, die euro­päi­schen Werte zu erhal­ten und zu ver­tei­di­gen, zeigt sich beson­ders hier, im Internet.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2019.

Von |2019-11-26T15:56:36+01:00August 28th, 2019|Medien|Kommentare deaktiviert für

Kein „Wil­der Westen“

Frei­heit und Ver­ant­wor­tung im Internet

Ann Cathrin Riedel ist Vorsitzende von LOAD e.V. – Verein für liberale Netzpolitik.