„Hier ist Çukur!“

Harte Fern­seh­se­rien in armen Vier­teln zei­gen den tür­ki­schen Zeitgeist

Vor einem her­un­ter­ge­kom­me­nen Café drän­geln sich zahl­rei­che Tou­ris­ten, posie­ren für Fotos. Auf der Haus­wand pran­gen Graf­fiti-Züge und aus Laut­spre­chern dröhnt har­ter tür­ki­scher Rap. „Hier ist Çukur!“, ruft eine begeis­terte junge Frau ihrem Beglei­ter zu und hebt den Arm für ein Sel­fie. Die Szene, die sich in einer klei­nen, ärm­li­chen Istan­bu­ler Straße abspielt, wirkt sur­real, wie eine Filmkulisse.

Die Fern­seh­se­rie „Çukur“, zu Deutsch Grube, dreht sich um ein fik­ti­ves Istan­bu­ler Stadt­vier­tel glei­chen Namens, in der ein Fami­li­en­clan unter Anfüh­rung des Paten Idris Koç­ovali gegen Dro­gen und kon­kur­rie­rende Bosse kämpft. Und obwohl „Çukur“ ein armes und gefähr­li­ches Vier­tel ist, so sug­ge­riert das Dreh­buch, zäh­len dort noch Fami­li­en­ehre und nach­bar­schaft­li­cher Zusam­men­halt. Mitt­ler­weile hat die Serie Mil­lio­nen Fans in der gan­zen Welt. Viele von ihnen pil­gern nach Balat, einem ehe­mals mehr­heit­lich von Grie­chen und Juden bewohn­ten Vier­tel im kon­ser­va­ti­ven Istan­bu­ler Stadt­teil Fatih. Hier, ein­ge­klemmt zwi­schen her­un­ter­ge­kom­me­nen Häu­sern, klei­nen Läden und Tee­stu­ben, wird „Çukur“ gedreht.

Seit dem Auf­takt der Serie im Okto­ber 2017 habe sich Balat völ­lig ver­än­dert, so der Kiosk­be­sit­zer Rama­zan Dogan. Auf einem Tisch vor sei­nem Laden ver­kauft er Fan­ar­ti­kel: T-Shirts, Caps, Feu­er­zeuge, Schmuck, Schals, Arm­bän­der und die Gebets­kette, die Idris Koç­ovali in der Serie trägt. Das Geschäft läuft gut. „40 Jahre lang haben wir uns hier ver­sucht, irgend­wie durch­zu­schla­gen. Wir haben uns 40 Tage Wohl­stand ver­dient“, lacht der 61-Jäh­rige. Wie auch in ande­ren als kri­mi­nell und ver­wahr­lost stig­ma­ti­sier­ten armen Vier­teln in Istan­bul ist man in die­sem Teil von Balat nicht an Tou­ris­ten gewöhnt.

In Balat ist „Çukur“ nicht zu über­se­hen. Der Lah­ma­cun-Laden, das Tee­haus, der Wasch­sa­lon und sogar ein klei­ner Snack­kar­ren wer­ben mit der plötz­li­chen Berühmt­heit des Vier­tels. Viele der Anwoh­ner wir­ken als Kom­par­sen selbst in der Serie mit. Ein Gei­gen­spie­ler, der einen Auf­tritt in der Pilot­folge für sich ver­bu­chen kann, offe­riert seine Dienste und erlaubt – gegen ein klei­nes Ent­gelt – gemein­same Selfies.

Im Laden des Her­ren­fri­seurs an der Stra­ßen­ecke feh­len demons­tra­tiv alle Pos­ter der Seri­en­stars. „Unser Vier­tel wird in der Serie in einem schlech­ten Licht dar­ge­stellt“, ärgert sich Kadem Usta, der 49-jäh­rige Fri­seur­meis­ter. Er fin­det, wie viele andere Kri­ti­ker auch, dass „Çukur“ eine gewalt­tä­tige Mafia­kul­tur roman­ti­siert. „Es geht nicht um Fami­lie, um Kul­tur oder um irgend­wel­che Werte, son­dern ein­zig und allein um Gewalt und das Recht des Stär­ke­ren“, sagt er. „Die Serie tut so, als wäre Selbst­jus­tiz in einer Nach­bar­schaft wie unse­rer völ­lig nor­mal, als gäbe es weder Staat noch Poli­zei, als müss­ten wir hier auf eigene Faust für Recht und Ord­nung sor­gen. Was wird unse­ren Kin­dern denn damit vermittelt?“

Nicht jeder in sei­ner Straße teilt diese Angst, im Gegen­teil. „Hier gab es wenig zu tun und an jeder Ecke locken schlechte Ange­wohn­hei­ten“, sagt Aytas Demir, 38, der sein gan­zes Leben hier gelebt hat. „Seit die Tou­ris­ten kom­men, kön­nen sich viele der Fami­lien hier ein klei­nes Ein­kom­men sichern. Statt Dro­gen und Kri­mi­na­li­tät gibt es jetzt Çukur“. Auch er ver­kauft an einem Klapp­tisch ver­schie­dene Fan­ar­ti­kel. Seine kleine Toch­ter posiert vor einem Graf­fiti-Schrift­zeug stolz für ein Foto.

Die neue Liebe zu har­ten Fern­seh­se­rien, die in armen Stadt­vier­teln spie­len, spie­gelt den Zeit­geist, schreibt die Jour­na­lis­tin Çeren Sehir­cio­glu in der tür­ki­schen Tages­zei­tung Hür­ri­yet. End­lich hät­ten Seri­en­ma­cher das Leben der Mar­gi­na­li­sier­ten, der Ver­ges­se­nen und der armen Rand­vier­tel ent­deckt. Fern­seh­ge­schich­ten wie „Çukur“ zeig­ten den har­ten Über­le­bens­kampf arbeits­lo­ser jun­ger Män­ner aus den Armen­vier­teln, die sich in einer unge­rech­ten Welt durch Klein­kri­mi­na­li­tät über Was­ser zu hal­ten ver­su­chen. Die popu­lä­ren soge­nann­ten Nach­bar­schafts­se­rien frü­he­rer Jahre, die das Leben ein­fa­cher Fami­lien roman­ti­sier­ten, seien zu weit von der Rea­li­tät tür­ki­scher Groß­städte ent­fernt. Und der Tür­kei, wo Jahr­zehnte neo­li­be­ra­ler und kor­rup­ter Stadt­po­li­tik tau­sende Men­schen aus ihren alt­ein­ge­ses­se­nen Vier­teln in see­len­lose Wohn­blö­cke an den Stadt­rän­dern ver­trie­ben hat, wo Arbeits­lo­sig­keit und Zukunfts­angst herr­schen und viele den Glau­ben an einen Staat, der Recht und Gerech­tig­keit ver­tritt, ver­lo­ren haben, trifft „Çukur“ einen bloß lie­gen­den Nerv.

„Der Erfolg der Serie hat auch mit einer Sehn­sucht nach nach­bar­schaft­li­chem Zusam­men­halt und den alten Istan­bu­ler Vier­teln zu tun, in denen man sich kennt und hilft“, über­legt Kadem Usta. Vor zwei Jah­ren haben ihn die Gen­tri­fi­zie­rung und die damit ver­bun­de­nen stei­gen­den Laden­mie­ten aus sei­ner alten Straße im mitt­ler­weile ange­sag­ten Teil von Balat in die bil­li­gere Straße ver­trie­ben, die auf­grund der Seri­en­po­pu­la­ri­tät nun auch uner­schwing­lich zu wer­den droht. Die Fans küm­mert das nicht. Auf der Straße vor sei­nem Laden posiert ein Pär­chen für ein Sel­fie. „Ich komme sehr oft hier­her, ich bin ein gro­ßer Fan der Serie“, sagt Arif Sezer, 32. „Wir woh­nen in einem moder­nen Vier­tel vol­ler luxu­riö­ser Gebäude, aber ich weiß nicht, wer meine Nach­barn sind.“ Seine Frau nickt zustim­mend. „Hier in Çukur ist jeder will­kom­men, die Leute sind offen und freund­lich.“ Aus den Laut­spre­cher­bo­xen dröhnt noch immer der Sound­track zur Serie. „Das hier ist noch das echte, das ehr­li­che Istanbul.“

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 07-08/2019.

Von |2019-07-09T18:01:51+02:00Juli 9th, 2019|Meinungsfreiheit|Kommentare deaktiviert für

„Hier ist Çukur!“

Harte Fern­seh­se­rien in armen Vier­teln zei­gen den tür­ki­schen Zeitgeist

Constanze Letsch ist Journalistin und Doktorandin.