Constanze Letsch 9. Juli 2019 Logo_Initiative_print.png

„Hier ist Çukur!“

Harte Fern­seh­se­rien in armen Vier­teln zei­gen den tür­ki­schen Zeitgeist

Vor einem heruntergekommenen Café drängeln sich zahlreiche Touristen, posieren für Fotos. Auf der Hauswand prangen Graffiti-Züge und aus Lautsprechern dröhnt harter türkischer Rap. „Hier ist Çukur!“, ruft eine begeisterte junge Frau ihrem Begleiter zu und hebt den Arm für ein Selfie. Die Szene, die sich in einer kleinen, ärmlichen Istanbuler Straße abspielt, wirkt surreal, wie eine Filmkulisse.

Die Fernsehserie „Çukur“, zu Deutsch Grube, dreht sich um ein fiktives Istanbuler Stadtviertel gleichen Namens, in der ein Familienclan unter Anführung des Paten Idris Koçovali gegen Drogen und konkurrierende Bosse kämpft. Und obwohl „Çukur“ ein armes und gefährliches Viertel ist, so suggeriert das Drehbuch, zählen dort noch Familienehre und nachbarschaftlicher Zusammenhalt. Mittlerweile hat die Serie Millionen Fans in der ganzen Welt. Viele von ihnen pilgern nach Balat, einem ehemals mehrheitlich von Griechen und Juden bewohnten Viertel im konservativen Istanbuler Stadtteil Fatih. Hier, eingeklemmt zwischen heruntergekommenen Häusern, kleinen Läden und Teestuben, wird „Çukur“ gedreht.

Seit dem Auftakt der Serie im Oktober 2017 habe sich Balat völlig verändert, so der Kioskbesitzer Ramazan Dogan. Auf einem Tisch vor seinem Laden verkauft er Fanartikel: T-Shirts, Caps, Feuerzeuge, Schmuck, Schals, Armbänder und die Gebetskette, die Idris Koçovali in der Serie trägt. Das Geschäft läuft gut. „40 Jahre lang haben wir uns hier versucht, irgendwie durchzuschlagen. Wir haben uns 40 Tage Wohlstand verdient“, lacht der 61-Jährige. Wie auch in anderen als kriminell und verwahrlost stigmatisierten armen Vierteln in Istanbul ist man in diesem Teil von Balat nicht an Touristen gewöhnt.

In Balat ist „Çukur“ nicht zu übersehen. Der Lahmacun-Laden, das Teehaus, der Waschsalon und sogar ein kleiner Snackkarren werben mit der plötzlichen Berühmtheit des Viertels. Viele der Anwohner wirken als Komparsen selbst in der Serie mit. Ein Geigenspieler, der einen Auftritt in der Pilotfolge für sich verbuchen kann, offeriert seine Dienste und erlaubt – gegen ein kleines Entgelt – gemeinsame Selfies.

Im Laden des Herrenfriseurs an der Straßenecke fehlen demonstrativ alle Poster der Serienstars. „Unser Viertel wird in der Serie in einem schlechten Licht dargestellt“, ärgert sich Kadem Usta, der 49-jährige Friseurmeister. Er findet, wie viele andere Kritiker auch, dass „Çukur“ eine gewalttätige Mafiakultur romantisiert. „Es geht nicht um Familie, um Kultur oder um irgendwelche Werte, sondern einzig und allein um Gewalt und das Recht des Stärkeren“, sagt er. „Die Serie tut so, als wäre Selbstjustiz in einer Nachbarschaft wie unserer völlig normal, als gäbe es weder Staat noch Polizei, als müssten wir hier auf eigene Faust für Recht und Ordnung sorgen. Was wird unseren Kindern denn damit vermittelt?“

Nicht jeder in seiner Straße teilt diese Angst, im Gegenteil. „Hier gab es wenig zu tun und an jeder Ecke locken schlechte Angewohnheiten“, sagt Aytas Demir, 38, der sein ganzes Leben hier gelebt hat. „Seit die Touristen kommen, können sich viele der Familien hier ein kleines Einkommen sichern. Statt Drogen und Kriminalität gibt es jetzt Çukur“. Auch er verkauft an einem Klapptisch verschiedene Fanartikel. Seine kleine Tochter posiert vor einem Graffiti-Schriftzeug stolz für ein Foto.

Die neue Liebe zu harten Fernsehserien, die in armen Stadtvierteln spielen, spiegelt den Zeitgeist, schreibt die Journalistin Çeren Sehircioglu in der türkischen Tageszeitung Hürriyet. Endlich hätten Serienmacher das Leben der Marginalisierten, der Vergessenen und der armen Randviertel entdeckt. Fernsehgeschichten wie „Çukur“ zeigten den harten Überlebenskampf arbeitsloser junger Männer aus den Armenvierteln, die sich in einer ungerechten Welt durch Kleinkriminalität über Wasser zu halten versuchen. Die populären sogenannten Nachbarschaftsserien früherer Jahre, die das Leben einfacher Familien romantisierten, seien zu weit von der Realität türkischer Großstädte entfernt. Und der Türkei, wo Jahrzehnte neoliberaler und korrupter Stadtpolitik tausende Menschen aus ihren alteingesessenen Vierteln in seelenlose Wohnblöcke an den Stadträndern vertrieben hat, wo Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst herrschen und viele den Glauben an einen Staat, der Recht und Gerechtigkeit vertritt, verloren haben, trifft „Çukur“ einen bloß liegenden Nerv.

„Der Erfolg der Serie hat auch mit einer Sehnsucht nach nachbarschaftlichem Zusammenhalt und den alten Istanbuler Vierteln zu tun, in denen man sich kennt und hilft“, überlegt Kadem Usta. Vor zwei Jahren haben ihn die Gentrifizierung und die damit verbundenen steigenden Ladenmieten aus seiner alten Straße im mittlerweile angesagten Teil von Balat in die billigere Straße vertrieben, die aufgrund der Serienpopularität nun auch unerschwinglich zu werden droht. Die Fans kümmert das nicht. Auf der Straße vor seinem Laden posiert ein Pärchen für ein Selfie. „Ich komme sehr oft hierher, ich bin ein großer Fan der Serie“, sagt Arif Sezer, 32. „Wir wohnen in einem modernen Viertel voller luxuriöser Gebäude, aber ich weiß nicht, wer meine Nachbarn sind.“ Seine Frau nickt zustimmend. „Hier in Çukur ist jeder willkommen, die Leute sind offen und freundlich.“ Aus den Lautsprecherboxen dröhnt noch immer der Soundtrack zur Serie. „Das hier ist noch das echte, das ehrliche Istanbul.“

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2019.

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