Migran­ten­ta­ge­buch, sechs­ter Ein­trag: „Ich bin kein Baum“

Ver­fäl­schende Iden­ti­tät der Zahlen

Ich konnte nie­mals den Sinn der Zah­len ver­ste­hen oder sie mit mei­ner Exis­tenz in Ver­bin­dung brin­gen. Die Anzahl der Ker­zen auf mei­ner Geburts­tags­torte ver­riet mir nichts. Genauso wenig wie die Zah­len auf mei­ner Geburts­ur­kunde, mei­nem Aus­weis und mei­ner Auf­ent­halts­er­laub­nis. Nach mehr als 40 Jah­ren auf der Erde konnte ich mich durch die mir gege­be­nen Zah­len nicht voll­stän­dig iden­ti­fi­zie­ren. Aber mir ist schon lange klar, dass ich nicht alle ver­pflich­ten­den Iden­ti­tä­ten aus­fül­len kann, die mir gege­ben wur­den: Ich bin nicht die Anzahl von Jah­ren, die sich auf mei­nem Aus­weis zeigt. Ich bin nicht mein Name, der seit mei­ner Geburt mein enger Beglei­ter ist. Ich bin auch nicht die Anzahl der Farb­zel­len mei­ner Haut oder meine Steu­er­iden­ti­fi­ka­ti­ons­num­mer. Außer­dem ver­suchte ich nie, das Bild der vor­ge­se­he­nen sozia­len Rol­len zu ver­voll­stän­di­gen. Im Gegen­teil: Ich lief vor allen fest­le­gen­den Iden­ti­tä­ten weg. Ich floh davon, mit der Hoff­nung, die Frage nach Iden­ti­tät erneut stel­len zu kön­nen – ohne der Auto­ri­tät der vor­ge­fass­ten Bil­der über mich zu unterliegen.

„Inte­gra­tion“

Jede Chance, mich einer neuen Gruppe vor­zu­stel­len, erfüllte mich mit Glück. Denn so konnte ich mich erneut nach mei­ner Iden­ti­tät fra­gen. Ich hatte die Frei­heit, die Worte zu wäh­len, die mich selbst beschrie­ben. Ich dachte dar­über nach, was die ande­ren über mich den­ken, wenn sie mei­nen Namen, mein Her­kunfts­land oder die Zahl der Jahre mei­nes Lebens hör­ten. Ich war der Mei­nung, dass der neue Anfang in einer ande­ren Geo­gra­fie eine Art Befrei­ung von den vor­be­stehen­den Iden­ti­tä­ten wäre. Aber es war nicht so. Mein Name und meine Haut­farbe berich­te­ten ihnen doch von mei­nen Iden­ti­tä­ten, die nicht viel mit mir zu tun haben. Lei­der war es keine Befrei­ung, son­dern eine Kon­fron­ta­tion mit neuer Iden­ti­tät, die durch Zah­len bereits kon­ser­viert und fer­tig war. Sie war­tete nur dar­auf, meine ganze Ver­gan­gen­heit aus­zu­lö­schen, mei­nen Cha­rak­ter neu zu schrei­ben und mich gemäß den Regeln des Ide­als zu zeich­nen. Die­sen Vor­gang nannte man „Inte­gra­tion“. Deren wahre Bedeu­tung ver­stand ich erst nach Jah­ren geschei­ter­ter Ver­su­che, unter ihnen zu sein. Um hier rich­tig „inte­griert“ zu wer­den, sollte ich die Num­mer, die mir gege­ben wurde, still akzep­tie­ren. Genau wie die num­me­rier­ten Bäume auf den Stra­ßen sollte ich in einem bestimm­ten Bereich wach­sen, den sie für mich aus­wähl­ten, und zwar in der Form, die sie für mich pas­send hiel­ten. Vor allem musste ich meine kör­per­li­chen Fähig­kei­ten ver­ra­ten, damit die Musik der hei­li­gen Spra­che durch mei­nen unan­ge­neh­men Akzent nicht ver­dor­ben wurde. Ich erin­nere mich an den stän­di­gen Zorn mei­ner Deutsch­leh­re­rin, weil meine Stimm­bän­der die Umlaut-Buch­sta­ben nicht wie gewünscht arti­ku­lie­ren konn­ten. Sie schimpfte oft mit mir, obwohl sie mei­nen Namen nie­mals rich­tig aus­sprach. Ich hatte das glei­che Gefühl der Hilf­lo­sig­keit, als mir vor­ge­wor­fen wurde, mich nicht „inte­grie­ren“ zu kön­nen, da ich die Gesetze zum Aus­län­der­recht nicht gut ver­stand. Die Zustän­dige sagte mir jedes Mal: „Sie sol­len wis­sen, dass wir ein Sys­tem haben, das es zu befol­gen gilt. Wenn Sie hier län­ger leben wol­len, müs­sen Sie es sehr gut ken­nen, genau wie unsere Spra­che.“ Sie war sehr stolz dar­auf und ich ver­spürte einen hef­ti­gen Stich in mei­nem Her­zen, da sie mir dadurch so ein­fach eine Num­mer mit fal­scher Iden­ti­tät gab und mich als Mensch versah.

Geständ­nis

Ich gestehe, dass ich nicht sein kann, wie sie es sich wün­schen, da ich kein Baum bin. Ich gebe zu, dass ich oft die hei­lige Spra­che betrog, indem ich in einer frem­den Spra­che träumte. Ich stehe dazu, dass ich mich lei­der nicht voll­stän­dig „inte­grierte“, da ich weder mei­nen aus­län­di­schen Akzent los­wer­den noch meine Kind­heit aus­lö­schen, meine Haut­farbe ändern oder meine Stimme umfor­men konnte. Das Kind in mir wei­gert sich immer noch, sich auf eine Zahl zu redu­zie­ren, und ver­sucht immer wei­ter vor dog­ma­ti­schen Regeln zu fliehen.

Hier­mit erkläre ich, dass ich vom Moment der Ent­las­sung an immer vor der Frage nach dem Sinn der Zah­len floh. Ich möchte nie wie­der vor der Zustän­di­gen in der Aus­län­der­be­hörde still und brav ste­hen, um ein paar Zah­len auf mei­nem Pass zu bekom­men. Ich kann nicht die Zah­len neben mei­nem Namen hin­zu­fü­gen las­sen, ohne mich nach mei­ner Iden­ti­tät als Mensch zu fragen.

Trotz all mei­ner ernst­haf­ten Ver­su­che, mich zu „inte­grie­ren“, blieb ich die „Fremde“, die die Poli­tik der wei­ßen Welt radi­kal ablehnt und täg­lich ihre per­ma­nente Ableh­nung der Unge­rech­tig­keit in der Welt erklärt. Sowie ich die „Aus­län­de­rin“ blieb, die nicht mehr das Lei­den unter der schmerz­haf­ten Rea­li­tät und ver­fälsch­ten Iden­ti­tä­ten der Zah­len ertra­gen konnte. Und vor allem blieb ich die »Ver­rückte«, die im Ange­sicht der Men­schen schreien möchte, um sie an die Zuge­hö­rig­keit zu einer grö­ße­ren Fami­lie zu erin­nern. Ich gebe zu, dass ich immer noch daran glaube, zur Mensch­heit zu gehö­ren und dass die Men­schen fähig sind, eine sichere und gerechte Welt für alle zu schaffen.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 05/2019.

Von |2019-06-11T09:35:41+02:00Mai 2nd, 2019|Einwanderungsgesellschaft|Kommentare deaktiviert für

Migran­ten­ta­ge­buch, sechs­ter Ein­trag: „Ich bin kein Baum“

Ver­fäl­schende Iden­ti­tät der Zahlen

Marwa Abidou ist Theaterwissenschaftlerin mit zwei Doktorgraden im Fachbereich der Theaterwissenschaften und Performing Arts.