Als im Juni 2018 der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates provozierend ein Jahr Talkpause im Ersten und im ZDF forderte, schlugen die Wellen hoch. Olaf Zimmermann hatte moniert, dass seit 2015 in über 100 Talkshows über die Themen Flüchtlinge und Islam gesprochen wurde und hat hieraus gefolgert, dass damit die AfD bundestagsfähig gemacht werde.
Im April 2019 erschien die Studie „Agenda-Setting bei ARD und ZDF? Analyse politischer Sendungen vor der Bundestagswahl 2017“ der Otto Brenner Stiftung, in der der Frage nachgegangen wird, ob ARD und ZDF vor der Bundestagswahl Agenda-Setting gemacht haben. Die Autoren Marc Liesching und Gabriele Hooffacker, beide Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig, beziehen sich ausdrücklich auf die genannte Pressemitteilung des Deutschen Kulturrates und die Aussagen von Olaf Zimmermann. Beides nehmen sie zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchung. Untersucht werden von Liesching und Hooffacker allerdings nicht nur die Talksendungen, vor allem nehmen sie einen anderen Zeitraum in den Fokus. Sie untersuchen den Monat vor der Bundestagswahl, also 24. August 2017 bis 23. September 2017. In diesem Zeitraum betrachten sie folgende Formate:
- Wahlsendungen wie Das TV-Duell Merkel-Schulz, Der Fünfkampf nach dem TV-Duell u. a.
- Polit-Talksendungen wie Maybrit Illner, Anne Will, Hart aber fair, Maischberger
- Polit-Magazine wie Bericht aus Berlin, Berlin direkt, Frontal 21, FAKT, Kontraste, Monitor, Report Mainz, Panorama, Report München
- Dokumentationen wie ARD-Wahlcheck, ZDFzeit: Macht! Kampf! Wahl! und andere
Insgesamt wurden 56 Sendungen ausgewertet. Dabei wurde sich auf die Erstausstrahlung konzentriert. Die Sendeminuten wurden nach folgenden Themen codiert:
- Außenpolitik
- Migration
- Innere Sicherheit
- Arbeit/Familie/Soziales
- Gesundheit
- Umwelt
- Steuer/Finanzen
- Wirtschaft/Verkehr/Bau
- Bildung/Digitalisierung
- Sport
- Politische Partei
- Politiker
- Wahlkampf
- Meta-Themen/Phänomene
Mehrfachcodierungen waren nicht möglich. Nur um es zu erwähnen: Kultur spielte keine Rolle. Am häufigsten wurde das Thema Arbeit/Familie/Soziales mit einem Sendeminutenanteil von 14,67 Prozent angesprochen, dicht gefolgt von Migration (11,63 Prozent), Außenpolitik (10,80 Prozent), Politische Partei (9,45 Prozent), Innere Sicherheit (9,21 Prozent). Danach kommen folgende Themen Politiker (7,80 Prozent), Umwelt (6,81 Prozent), Bildung/Digitalisierung (3,29 Prozent), Steuer/Finanzen (2,49 Prozent), Wirtschaft/Verkehr/Bau (1,97 Prozent) und Sport (0,27 Prozent). Die eher übergeordneten Themen wie Wahlkampf machten 6,68 Prozent bzw. die Meta-Themen/Phänomene 6,71 Prozent der Sendezeit aus. Liesching und Hooffacker schlussfolgern hieraus, dass die 56 Sendungen eine „vielfältige Themenpräsenz mit weitgehend ausgeglichenen Gewichtungen“ bieten. Spannend ist meines Erachtens die Betrachtung der Kategorie Parteien mit ihren Unterkategorien CDU/CSU, SPD, AfD, FDP, Grüne und Linke. Sie macht 9,45 Prozent der Sendezeit aus. Hiervon entfallen 2,11 Prozent auf die AfD, 1,56 Prozent auf CDU/CSU, 1,34 Prozent auf die SPD, 0,83 Prozent auf die Linke, 0,66 Prozent auf Grüne und 0,43 Prozent auf die FDP. Zu dem Zeitpunkt gehörte weder die AfD noch die FDP dem Deutschen Bundestag an, beiden Parteien wird aber deutlich unterschiedliche Aufmerksamkeit zuteil. Bemerkenswert ist, dass auf eine nicht im Bundestag vertretene Partei die meisten Sendeminuten entfallen. Auch bei der Kategorie Politiker liegt die AfD mit 1,16 Prozent der Sendeminuten immerhin auf Platz 3 nach CDU/CSU mit 3,9 Prozent und SPD mit 2,3 Prozent.
Einen deutlich größeren Anteil hat laut der Studie von Liesching und Hooffacker das Thema Migration beim TV-Duell Merkel-Schulz. In dieser Sendung, die von ARD, ZDF, RTL und Sat1 ausgestrahlt wurde, dominierte das Thema Migration. Insgesamt 33,83 Prozent der Sendeminuten wurde über diese Fragestellung diskutiert. Deutlich abgeschlagen sind Außenpolitik 20,11 Prozent, Umwelt 8,54 Prozent, Innere Sicherheit 7,24 Prozent, Arbeit/Familie/Soziales 7,23 Prozent, Steuern/Finanzen 4,90 Prozent sowie Wirtschaft/Verkehr/Bau mit 3,25 Prozent. Keine Rolle spielten Gesundheit sowie Bildung/Digitalisierung. Hier ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein Thema in der Debatte dominant war. Dieser Eindruck erhärtet sich, werden die fünf untersuchten Sendungen mit den höchsten Marktanteilen im Untersuchungsmonat betrachtet. Es handelt sich um das TV-Duell Merkel-Schulz, Anne Will (03.09.2017), Hart aber fair (18.09.2017), Maybrit Illner (24.08.2017) und Hart aber fair (11.09.2017). In diesen Sendungen entfielen auf das Thema Migration 21,8 Prozent der Sendeminuten auf Außenpolitik 19,75 Prozent, auf Steuern/Finanzen 9,48 Prozent und auf Arbeit/Familie/Soziales 8,44 Prozent. Mit Blick auf alle untersuchten Polit-Talksendungen, in denen das Thema Migration bei den Sachthemen mit 8,79 Prozent an zweiter Stelle nach der Außenpolitik mit 22,35 Prozent liegt, ist bemerkenswert, dass, wenn über Parteien gesprochen wurde, die AfD mit 3 Prozent am meisten Thema war, gefolgt von der SPD 2,85 Prozent und der CDU/CSU 2,47 Prozent.
Neben den kurz skizzierten quantitativen Auswertungen von 56 Sendungen über einen Monat enthält die genannte Studie der Otto Brenner Stiftung einen qualitativen Teil, in dem drei Verantwortliche aus Redaktionen von Polit-Talksendungen und -Magazinen unter anderem nach dem Nachrichtenwert der Sendungen sowie dem Agenda-Setting befragt werden. Weiter wird von einem Lehrforschungsprojekt zur Moderationsneutralität berichtet und zum Abschluss eine medientheoretische Betrachtung angestellt.
War Migration das Thema Nr. 1 vor der Bundestagswahl und wurde dadurch die AfD bundestagsfähig? Ohne Zweifel war es eines der zentralen Themen. Mit Blick auf das TV-Duell Merkel- Schulz sogar das Thema. Ferner ist in Betracht zu ziehen, dass bei der Codierung Unterthemen wie Terrorismus, Islamismus und Kriminalität, die oft mit Migration in Verbindung gebracht werden, nicht unter das Thema Migration, sondern Innere Sicherheit eingeordnet wurde. Verschiebungen der Unterthemen oder eine Aufsplittung des sehr großen Themas Arbeit/Familie/Soziales mit zehn Unterthemen würden wahrscheinlich ein anderes Bild bieten. Doch das sind akademische Fragen. Auffallend ist ferner, dass einer Partei, die zum Zeitpunkt der Sendungen noch nicht im Bundestag vertreten war, sehr viel Aufmerksamkeit zuteilwurde.
Mit Blick auf den derzeit stattfindenden Europawahlkampf lehrt die Studie vor allem, dass in den Fernsehsendungen angesprochene Themen immer auch von einem bestimmten Zeitgeist geprägt sind. Anders ist kaum zu erklären, dass Umweltfragen oder Klimawandel vor der Bundestagswahl eine derart untergeordnete Rolle im TV spielten.
Die Studie kann kostenfrei bei der Otto Brenner Stiftung heruntergeladen werden.