Das Poten­zial ist noch nicht ausgeschöpft

Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit im Grundgesetz 

Die Fest­lich­kei­ten zu „100 Jahre Frau­en­wahl­recht“ klin­gen ab, wäh­rend die Fei­ern zum 70. Jubi­läum des Grund­ge­set­zes begin­nen. Dies scheint ein guter Zeit­punkt zu sein, um über die Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit unse­rer Ver­fas­sung nach­zu­den­ken. Im öffent­li­chen Dis­kurs wird aller­orts über „Parité“ gespro­chen, also die gleich­be­rech­tigte Reprä­sen­ta­tion von Frauen in den Par­la­men­ten. Dies erweckt manch­mal den Ein­druck, als wäre die Gleich­be­rech­ti­gung im Wesent­li­chen erreicht und nur der Wahl­rechts­gleich­heit noch zu ech­ter Wirk­sam­keit zu ver­hel­fen. Gleich­be­rech­ti­gung ist aber ein höchst umkämpf­tes Feld und ein Ziel, das oft noch in wei­ter Ferne zu schwe­ben scheint.

Schon das Grund­ge­setz selbst wäre 1949 bei­nahe ohne eine klare Rege­lung der Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlech­ter ver­ab­schie­det wor­den. Der Par­la­men­ta­ri­sche Rat wollte es gern bei „den­sel­ben staats­bür­ger­li­chen Rech­ten und Pflich­ten“ wie in der Wei­ma­rer Reichs­ver­fas­sung belas­sen. Die­ses Kon­zept der for­ma­len Gleich­heit im Öffent­li­chen bei Unter­drü­ckung, Ent­rech­tung und finan­zi­el­ler Abhän­gig­keit der Frau im Pri­va­ten hatte sich aller­dings schon damals nicht bewährt. Doch erst dem beharr­li­chen Ein­satz der vier Müt­ter des Grund­ge­set­zes Eli­sa­beth Sel­bert, Helene Weber, Frie­de­rike Nadig und Helene Weber und der außer­par­la­men­ta­ri­schen Mobi­li­sie­rung zehn­tau­sen­der Frauen war es zu ver­dan­ken, dass Art. 3 Abs. 2 GG schließ­lich fest­legte: „Män­ner und Frauen sind gleichberechtigt.“

Die Gleich­be­rech­ti­gung in Art. 3 Abs. 2 GG ist eine Ver­fas­sungs­norm mit wech­sel­vol­ler Geschichte. Ihre Auf­nahme ins Grund­ge­setz musste gegen erheb­li­che Wider­stände durch­ge­setzt wer­den, ihre Gel­tung wurde über Jahre bezwei­felt und ihre Wirk­sam­keit von Gesetz­ge­ber und Ver­wal­tung häu­fig ille­gi­tim beschränkt. Mobi­li­siert wurde die Norm nicht sel­ten durch Män­ner, die sich benach­tei­ligt fühl­ten. Die Durch­set­zung der Gleich­be­rech­ti­gung wurde weit­ge­hend dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt über­las­sen; die herr­schende juris­ti­sche Lite­ra­tur betrieb lie­ber unsin­nige Quo­ten­dis­kus­sio­nen. In vie­len Berei­chen war es gar nicht das Grund­ge­setz, wel­ches zur Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlech­ter bei­trug, son­dern das Recht der Euro­päi­schen Union und die Men­schen­rechte, so ins­be­son­dere im Arbeits­le­ben und beim Schutz vor geschlechts­spe­zi­fi­scher Gewalt.

1957 musste das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt aus­drück­lich fest­stel­len, dass Art. 3 Abs. 2 GG eine gel­tende Ver­fas­sungs­norm und ent­ge­gen­ste­hen­des patri­ar­cha­les Ehe- und Fami­li­en­recht aus dem Bür­ger­li­chen Gesetz­buch von 1900 ver­fas­sungs­wid­rig ist. Der Ehe­mann durfte also den Arbeits­ver­trag sei­ner Frau nicht mehr ohne deren Ein­wil­li­gung frist­los kün­di­gen und er hatte auch nicht mehr in allen ehe­li­chen Ange­le­gen­hei­ten das letzte Wort sowie das allei­nige Ver­tre­tungs­recht für die Kin­der. Doch erst mit der gro­ßen Ehe- und Fami­li­en­rechts­re­form 1977 ver­ab­schie­dete der Gesetz­ge­ber die Haus­frau­en­ehe als zwin­gen­des Leit­bild und schrieb Män­nern und Frauen nicht mehr vor, wie sie Erwerbs- und Sor­ge­ar­beit unter­ein­an­der zu ver­tei­len haben. Für die Gleich­heit in Ehe und Fami­lie spielte das Grund­ge­setz eine wich­tige Rolle. Heute stel­len sich aller­dings Fra­gen nach der Gerech­tig­keit von Unter­halts­re­ge­lun­gen. Es fehlt an der Gleich­stel­lung für les­bi­sche Elternpaare.

Im Bereich des Schut­zes gegen geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt kam das Grund­ge­setz zunächst gar nicht zur Anwen­dung. Häus­li­che und sexua­li­sierte Gewalt gehör­ten lange zum All­tag vie­ler Frauen. Erst durch die zweite Frau­en­be­we­gung wurde diese Gewalt „im Pri­va­ten“ öffent­lich skan­da­li­siert und als recht­li­che Her­aus­for­de­rung for­mu­liert, was übri­gens eine Vor­aus­set­zung dafür war, dass Jahr­zehnte spä­ter auch Gewalt gegen Jun­gen in Ein­rich­tun­gen, Schu­len, Ver­ei­nen und Kir­chen the­ma­ti­siert wer­den konnte. Erst 1997 wurde die Ver­ge­wal­ti­gung in der Ehe straf­bar. Erst 2002 trat das Gewalt­schutz­ge­setz in Kraft. Erst um 2005 wurde geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt als asyl­re­le­vante Ver­fol­gung aner­kannt. Das Pro­blem war nicht zuletzt ein Ver­ständ­nis der Grund­rechte nur als Abwehr­rechte gegen staat­li­che Ein­griffe, wodurch Rechts­ver­let­zun­gen durch andere Pri­vate, egal wie schwer­wie­gend, völ­lig aus­ge­blen­det wur­den. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ent­wi­ckelte zwar die Idee einer staat­li­chen Schutz­pflicht gegen sol­che pri­vate Rechts­ver­let­zun­gen, aller­dings im wenig über­zeu­gen­den Kon­text des Schwan­ger­schafts­ab­bruchs, und griff diese Über­le­gung in Bezug auf geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt nicht mehr auf. Heute setzt die inter­na­tio­nale Istan­bul-Kon­ven­tion hier wesent­li­che Impulse.

Auch im Arbeits­le­ben wurde die Durch­set­zung der Gleich­be­rech­ti­gung durch Zwei­fel dar­über behin­dert, wie der Staat aktiv gegen Dis­kri­mi­nie­rung tätig wer­den sollte. Bis heute ist der Arbeits­markt in Deutsch­land sowohl nach Bran­chen als auch in Bezug auf Arbeits­zei­ten und Auf­stiegs­mög­lich­kei­ten klar geschlechts­spe­zi­fisch seg­re­giert, die Haus- und Sor­ge­ar­beit sehr unge­recht zwi­schen den Geschlech­tern ver­teilt und der Lohn­un­ter­schied groß. Seit mehr als zwei Jahr­zehn­ten liegt der „Gen­der Pay Gap“ in Deutsch­land bei über 20 Pro­zent. Die belieb­teste Maß­nahme hier­ge­gen ist das Weg­rech­nen. Doch die Fak­to­ren der „Berei­ni­gung“ – weib­lich domi­nierte Teil­zeit­ar­beit, geschlechts­spe­zi­fi­sche Berufs­wahl, Erwerbs­un­ter­bre­chun­gen wegen Kin­der­be­treu­ung – sind keine Natur­ge­setz­lich­kei­ten, son­dern selbst Aus­druck der Dis­kri­mi­nie­rung im Arbeitsleben.

Für sol­che Kon­stel­la­tio­nen hat der Euro­päi­sche Gerichts­hof das Kon­zept der mit­tel­ba­ren Dis­kri­mi­nie­rung ent­wi­ckelt: Diese liegt vor, wenn dem Anschein nach neu­trale Vor­schrif­ten, Kri­te­rien oder Ver­fah­ren tat­säch­lich Per­so­nen auf Grund ihres Geschlechts dis­kri­mi­nie­ren. Bei­spiele wären die Benach­tei­li­gung von Teil­zeit­be­schäf­tig­ten oder die schlech­tere Bezah­lung an Grund­schu­len, von der jeweils über­durch­schnitt­lich viele Frauen betrof­fen sind. Diese ver­brei­tete Dis­kri­mi­nie­rung ist auf­zu­de­cken und zu unter­bin­den, damit Gleich­be­rech­ti­gung in der Lebens­wirk­lich­keit ankommt. Trotz wich­ti­ger Ent­schei­dun­gen des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts blie­ben für das Arbeits­le­ben euro­päi­sche Anti­dis­kri­mi­nie­rungs-rege­lun­gen beson­ders rele­vant und führ­ten zum Erlass des All­ge­mei­nen Gleich­be­hand­lungs­ge­set­zes, wel­ches umfas­send die Dis­kri­mi­nie­rung durch Pri­vate im Erwerbs­le­ben verbietet.

Berühmt wurde aber die Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts zur Auf­he­bung des Nacht­ar­beits­ver­bots für Frauen, wonach der Grund­satz der Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlech­ter auch auf die gesell­schaft­li­che Wirk­lich­keit und in die Zukunft zielt. Einem rein for­ma­len Kon­zept von Gleich­heit, wel­ches nur geschlechts­neu­trale Norm­texte for­dert, war damit end­gül­tig eine Absage erteilt. Zur Klä­rung wurde 1994 im Zuge der Wie­der­ver­ei­ni­gung und auf Betrei­ben der Zivil­ge­sell­schaft ein zwei­ter Satz in Art. 3 Abs. 2 GG ein­ge­fügt: „Der Staat för­dert die tat­säch­li­che Durch­set­zung der Gleich­be­rech­ti­gung von Frauen und Män­nern und wirkt auf die Besei­ti­gung bestehen­der Nach­teile hin.“

Dem war eine jah­re­lange juris­ti­sche Dis­kus­sion zu Quo­ten vor­aus­ge­gan­gen, die wenig durch Argu­mente über­zeugte. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt musste sich nicht posi­tio­nie­ren, son­dern über­ließ dem Euro­päi­schen Gerichts­hof die Ent­schei­dung in den Fäl­len Kal­anke, Mar­schall, Badeck und Abra­hams­son. Bestä­tigt wurde, dass Frauen bei glei­cher Eig­nung, Befä­hi­gung und Leis­tung bevor­zugt ein­zu­stel­len oder zu beför­dern sind, sofern nicht in der Per­son eines Mit­be­wer­bers lie­gende Gründe (aus­nahms­weise) über­wie­gen. Nicht gese­hen wurde, dass die UN-Frau­en­rechts­kon­ven­tion eine weit­aus effek­ti­vere Vor­stel­lung von Gleich­be­rech­ti­gung und „tem­po­rary spe­cial mea­su­res“ ver­tritt. Nicht gese­hen wurde auch, dass Leis­tun­gen auf­grund von „Gen­der Bias“ unter­schied­lich bewer­tet wer­den und kaum jemals „gleich“ sind. Schafft eine Frau es doch ein­mal durch über­ra­gende Leis­tun­gen, wird sie als „Quo­ten­frau“ diskreditiert.

Die spek­ta­ku­läre Erfolg­lo­sig­keit von Quo­ten macht sie auch bei denen unbe­liebt, die sich für Gleich­be­rech­ti­gung als Lebens­rea­li­tät ein­set­zen. Den­noch kann ins­ge­samt nicht auf gezielte För­der­maß­nah­men ver­zich­tet wer­den – und folgt die­ser Ver­zicht ent­ge­gen ver­brei­te­ter Ansicht auch nicht aus dem Dritte-Opti­ons-Ent­scheid des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts, wenn man das Urteil tat­säch­lich liest. Spä­tes­tens mit der Ver­fas­sungs­än­de­rung von 1994 ist klar­ge­stellt, dass das Ver­bot der Dis­kri­mi­nie­rung auf­grund des Geschlechts nicht nur auf for­male Gleich­be­hand­lung zielt, son­dern immer auch auf die Besei­ti­gung tat­säch­li­cher, in der Lebens­wirk­lich­keit bestehen­der Nach­teile für Frauen, also die Garan­tie von Gleich­heit in Frei­heit und Würde. Dies ver­langt akti­ves staat­li­ches Han­deln. Die Dis­kus­sion um Chan­cen- oder Ergeb­nis­gleich­heit ist dabei wenig ziel­füh­rend, da die Besei­ti­gung von Nach­tei­len wie ins­be­son­dere auch struk­tu­rel­ler Dis­kri­mi­nie­rung und schä­di­gen­der Geschlech­ter­rol­len­ste­reo­ty­pen je nach Kon­stel­la­tion ver­schie­dene staat­li­che Maß­nah­men ver­lan­gen kann.

Unge­ach­tet des sym­me­trisch gehal­te­nen Wort­lauts von Art. 3 Abs. 2 GG ist die Schutz­rich­tung der Norm ange­sichts his­to­risch gewach­se­ner struk­tu­rel­ler Ungleich­hei­ten und aktu­el­ler hier­ar­chi­scher Geschlech­ter­ver­hält­nisse asym­me­trisch, also ein zuguns­ten von Frauen wir­ken­des, anti­pa­tri­ar­cha­les Domi­nie­rungs- bzw. Hier­ar­chi­sie­rungs­ver­bot. Gleich­be­rech­ti­gung bedeu­tet junge und fra­gile Errun­gen­schaf­ten. 100 Jahre Wahl­recht und juris­ti­sche Berufe, 40 Jahre Reform des Ehe- und Fami­li­en­rechts und 20 Jahre Schutz vor geschlechts­spe­zi­fi­scher Gewalt – das sind auch alles unvoll­endete Pro­jekte. Umso befremd­li­cher sind ange­sichts eines auf 30,9 Pro­zent gesun­ke­nen Frau­en­an­teils im Deut­schen Bun­des­tag die pau­scha­len Abwer­tun­gen von »Parité-For­de­run­gen«. Natür­lich lässt sich dar­über juris­tisch strei­ten – aber dann dür­fen bes­sere Argu­mente erwar­tet wer­den als der bloße Hin­weis auf die Frei­heit der Wahl.

Nach 70 Jah­ren ist das Poten­zial von Art. 3 Abs. 2 GG noch nicht annä­hernd aus­ge­schöpft. Nur wenige Akteu­rin­nen im juris­ti­schen Dis­kurs konn­ten durch kon­struk­tive und inno­va­tive Kon­zepte über­zeu­gen, wel­che dazu bei­tra­gen kön­nen, Gleich­be­rech­ti­gung zur Lebens­rea­li­tät zu machen. Viele Juris­ten haben sich auf Emo­tio­nen beschränkt. Hier liegt eine der wesent­li­chen Her­aus­for­de­run­gen für die Zukunft: Die Ver­wirk­li­chung der Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlech­ter erfor­dert erheb­li­che gesell­schaft­li­che Ver­än­de­run­gen, wel­che mit Umver­tei­lung von Res­sour­cen, Macht­ver­lust und Macht­ge­winn, tief­grei­fen­den kul­tu­rel­len Neu­ori­en­tie­run­gen und damit not­wen­dig auch erheb­li­chen Effek­ten in indi­vi­du­el­len Lebens­ent­wür­fen ver­bun­den sind.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 04/2019.

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Von |2020-04-14T17:04:48+02:00März 27th, 2019|Grundgesetz|Kommentare deaktiviert für

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Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit im Grundgesetz 

Ulrike Lembke ist Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin.