Das Berliner Theater Thikwa setzt das Menschenrecht auf Teilhabe am kulturellen Leben, wie es in Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert ist, seit 27 Jahren um – als ganz selbstverständliche Best Practice im Kulturbereich. Ein Sonderstatus wurde dafür nie eingefordert, obwohl dieser Umstand in der deutschen Theaterlandschaft etwas sehr Besonderes ist. Theresa Brüheim spricht mit der Künstlerischen Leitung des Theater Thikwa, Gerd Hartmann und Nicole Hummel.
Theresa Brüheim: Was ist das Theater Thikwa?
Gerd Hartmann: Wir sind ein diverses Theater – ich benutze diesen Ausdruck bewusst –, in dem Künstlerinnen und Künstler mit und ohne Behinderung auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Am Ende steht meist ein sehr ungewöhnliches Ergebnis. Wir forschen immer an neuen Möglichkeiten des Ausdrucks und der Begegnung.
Nicole Hummel: Das sieht man daran, dass sich alle Stücke bei uns collagenhaft und prozessorientiert entwickeln. Es gibt keine vorgegebenen Manuskripte, die abgearbeitet werden. Die Stücke entstehen während der Proben. Es ist gewünscht, dass sich unsere „Thikwas“, wie wir sie nennen, einbringen – sowohl mit Text als auch Bewegungsvorschlägen.
Wie ist das Theater Thikwa entstanden?
Hartmann: Das Theater Thikwa gibt es seit 27 Jahren. Heutzutage ist – wenn ich doch den Ausdruck benutze – inklusive Kunstarbeit ein relativ normaler Bestandteil der Kunstszenen. Das war vor 27 Jahren nicht so. Da war die Diskussion eine andere: Es wurde über die Kunstfähigkeit von Menschen mit Behinderung gesprochen, was heutzutage schon als Ausdruck ein absolutes No-Go ist. Wir haben uns mit der klaren Maßgabe gegründet, dass Menschen mit Behinderungen Künstlerinnen und Künstler sein können. Außerdem führen wir Künstlerinnen und Künstler mit und ohne Behinderungen auf einem professionellen Level zusammen. Wir waren das allererste Projekt in der Bundesrepublik, das eine professionelle Ausbildung für Menschen mit geistiger Behinderung im künstlerischen Bereich angeboten hat. Nach wie vor bieten wir eine Ausbildung in der Theaterperformance und im bildnerischen Bereich an.
Wie ist das Thikwa-Ensem-ble aufgestellt?
Hartmann: Wir haben ein Ensemble von 44 Menschen mit Behinderung, die alle fest angestellt sind. D. h., sie sind in der mit dem Theater kooperierenden Werkstatt beschäftigt. Alle Ensemble-Mitglieder haben einen Fulltime-Job, der es ist, Theater zu spielen bzw. zu proben und im bildnerischen Bereich zu arbeiten.
Wie sieht Ihre Arbeit am Theater Thikwa aus?
Hummel: Der Alltag ist davon bestimmt, dass wir für alle Thikwas, die nicht in der Produktion sind, Trainings organisieren. Es gibt Performance-, Schauspiel-, Tanz- und Bewegungstraining, Dramaturgiegruppen usw. Wir produzieren fortlaufend für zwei Bühnen, aber natürlich ist fast nie das gesamte Ensemble auf der Bühne. Außerdem koordinieren wir die Spielpläne und besprechen Themen, zu denen wir arbeiten wollen. Im Moment ist das vor allem „Grenzziehung“. Wir planen auch, mit welchen Regisseuren, Tänzerinnen, Choreografen wir zusammenarbeiten möchten.
Hartmann: Vor allem in den letzten Jahren ist ein enorm großes Interesse von Künstlern aus der Freien Szene da, mit uns zusammenzuarbeiten und damit neue Erfahrungen zu machen. Wenn wir jemanden ansprechen, braucht es keine Überredungskunst. Ganz im Gegenteil. Wir arbeiten mit hochkarätigen Künstlerinnen und Künstlern. Außerdem koordinieren wir Besetzungsanfragen anderer Theater oder Film- und Fernsehproduktionen für unsere Thikwas. Das wird immer mehr. So fangen z. B. in diesem Monat die Proben für ein Theaterstück im Grips-Theater an, bei dem zwei unserer Leute mitspielen.
Hummel: Die theaterpädagogisch inklusive Arbeit nimmt immer weiter zu. Wir haben immer mehr Anfragen für unsere Thikwa-Performer, die Trainings an anderen Spielstätten etc. anleiten sollen.
Hartmann: Das ist aber aufgrund unserer viel zu knappen Personalausstattung nur begrenzt leistbar. Denn für unsere Thikwas besteht außer Haus Assistenzbedarf. Wir versuchen gerade dafür neue Modelle zu entwickeln.
Im Zentrum der Arbeit des Theater Thikwa steht das Menschenrecht auf künstlerische Teilhabe. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, das in Ihrer Arbeit zu verankern?
Hartmann: Das Menschenrecht auf künstlerische Teilhabe war für uns von vornherein ein selbstverständlicher Ansatz, den wir gar nicht als Menschenrecht hinterfragt, sondern einfach gelebt haben.
Hummel: Das Recht auf Schutz vor Diskriminierung in jeder Form war für unsere Arbeit von Beginn an essenziell. Das ist die Voraussetzung für eine Arbeit auf Augenhöhe.
Hartmann: Dieses Credo, ohne Sonderstellung Bestandteil des „normalen“ Kulturbetriebs zu sein, war von Anfang an unser Ziel bzw. die kulturelle Praxis, die wir gemacht und als Forderung nach außen postuliert haben. Ohne das als Menschenrecht zu betiteln, haben wir dieses Menschenrecht eingefordert. Wir haben aber nie einen Sonderstatus beansprucht, was sich in unserer Finanzierung aus „normalen“ Kulturtöpfen widerspiegelt. Wir haben immer gesagt, wir sind da und gehören in den Kulturbetrieb. Das war nie eine Bitte, sondern immer eine Forderung.
Hummel: Wir haben z. B. den Martin-Linzer-Preis – einen ganz „normalen“ Theaterpreis – erhalten. Er war nicht inklusiv ausgeschrieben. Das war ein Zeichen dafür, dass wir längst mittendrin im gesamtgesellschaftlichen Kulturbetrieb sind.
Hartmann: Letztes Jahr hat z. B. das Schauspielhaus Leipzig den Martin-Linzer-Preis für eine herausragende künstlerische Ensembleleistung im deutschsprachigen Raum bekommen. Dieses Jahr wurden wir ausgezeichnet. In der Laudatio war keine Rede davon, dass wir ein inklusives Theater sind. Die Laudatorin hat beschrieben, was wir machen. Das Wort »Behinderung« kam nicht vor. Wir haben die Laudatorin darauf angesprochen und sie hat geantwortet: „Ach, das ist mir gar nicht aufgefallen“. Genau das fordern wir ein. Aus der Forderung wird bei Umsetzung dieses Menschenrecht.
Vielfalt und das Menschenrecht auf künstlerische Teilhabe steht auch im Zentrum des Buches „Theater.Rebellion – Die Ausweitung der Kunstzone“, das von Theater Thikwa und Claudia Lohrenscheit herausgegeben wurde.
Hummel: Claudia Lohrenscheit, eine Expertin für Menschenrechtspädagogik und Erziehungswissenschaften, ist auf uns zugekommen, da sie unseren Ansatz für die ideale Verwirklichung von Menschenrechten im Kulturbetrieb hielt. Daraufhin haben wir beschlossen, mit ihr dieses Buch zu machen. Darin wird unter anderem deutlich, dass wir im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes, als Arbeitsplatz für unsere Performerinnen und Performer extrem attraktiv sind.
Hartmann: Wir versuchen das Ganze fluider zu gestalten. Selbstverständlich sind wir dadurch, dass alle unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung beschäftigt sind, an das Sozialsystem gebunden. D. h. auch, dass alle unsere Mitarbeiter keine zusätzlichen Gelder verdienen dürfen. Das sind die Grenzen unserer Arbeit. Aber wir reizen alle Möglichkeiten, die dieses System bietet, aus.
Inwieweit setzen Sie Menschenrechte mit künstlerischen Mitteln auf der Bühne um bzw. welche Rolle spielen diese in Ihren Stücken?
Hummel: Wir bringen viele Stücke auf die Bühne, die die Interaktion zwischen Menschen mit und ohne Behinderung thematisieren. Als Beispiel zum Umgang mit Diskriminierung und Stereotypisierung ist das Stück „Dschingis Khan“, eine Koproduktion mit der Performance-Gruppe Monster Truck, zu nennen. Wir bearbeiten momentan verstärkt Genderthemen, die auch für Menschen mit Behinderung ein großes Thema darstellen.
Hartmann: Wichtig ist aber, dass wir kein Politik-, Zielgruppen- oder Sozialtheater machen. Wir tragen keine Fahne vor uns her. Trotzdem geht es bei uns immer um Fragen, wie: Wer bin ich und wo ist meine Position in der Gesellschaft? Wie passiert Ausgrenzung? Wie gehe ich damit um? Wie geht man mit dieser „Labelisierung“ als behinderter Mensch um? Das sind Themen in unseren Stücken, ohne dass sie das primäre Thema sind.
Brüheim: Vielen Dank.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2018.