Das Gestal­ten der Gesellschaft

Inte­gra­tion durch Sport

Bei der dies­jäh­ri­gen Preis­ver­lei­hung der „Sterne des Sports“, einem Wett­be­werb, der vom Deut­schen Olym­pi­schen Sport­bund (DOSB) und den Volks- und Raiff­ei­sen­ban­ken aus­ge­rich­tet und mitt­ler­weile als Oskar der Ver­eine bezeich­net wird, musste man genau hin­hö­ren. Fast bei­läu­fig for­mu­lierte der Schirm­herr und jüngst aus dem Amt geschie­dene Bun­des­prä­si­dent Joa­chim Gauck einen tref­fen­den und bedeut­sa­men Satz: „Auf den ers­ten Blick ist der Sport ein Spiel, auf den zwei­ten Blick ist es Gestal­ten der Gesellschaft.“

Was hat der ehe­ma­lige Bun­des­prä­si­dent damit gemeint? Das Enga­ge­ment der Sport­ver­eine, oder bes­ser: das sei­ner Mit­glie­der. In den rund 90.000 Sport­ver­ei­nen unter dem Dach von Sport­deutsch­land leis­ten 8,6 Mil­lio­nen Frei­wil­lige 300 Mil­lio­nen ehren­amt­li­che Stun­den pro Jahr. Wie viel das im Sinne von Joa­chim Gauck für den sozia­len Zusam­men­halt hier­zu­lande bedeu­tet, ist kaum zu ermes­sen. Gerade jetzt, in Zei­ten eines wach­sen­den, manch­mal schwer zu grei­fen­den und in die­ser Form bis­lang frem­den Unbe­ha­gens in der Gesell­schaft. Gerade jetzt, wo jen­seits des Atlan­tiks, aber auch in Europa und in Deutsch­land rechte Poli­tik­ak­teure demo­kra­ti­sche Wer­te­ge­mein­schaf­ten atta­ckie­ren und soli­da­ri­sche Prin­zi­pien und Men­schen­rechte zuguns­ten von ego­is­tisch-natio­na­lis­tisch ori­en­tier­ten Expe­ri­men­ten zurück­zu­drän­gen versuchen.

Der Ver­eins­sport hat viele Funk­tio­nen, die soziale ist nur eine davon. Doch wer seine Rolle für den gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt in sei­ner gan­zen Kom­ple­xi­tät begrei­fen will, sollte sich bei­spiel­haft das quan­ti­ta­tiv und qua­li­ta­tiv beein­dru­ckende Enga­ge­ment der Ver­eine beim Thema Inte­gra­tion anse­hen – eine der größ­ten gesell­schaft­li­chen Her­aus­for­de­run­gen, aktu­ell wie zukünftig.

Daher pro­fi­tiert die Gesell­schaft in ganz beson­de­rer Weise vom Bun­des­pro­gramm „Inte­gra­tion durch Sport“, das seit mehr als 25 Jah­ren exis­tiert und vom Bun­des­in­nen­mi­nis­te­rium (BMI) sowie vom Bun­des­amt für Migra­tion und Flücht­linge (BAMF) geför­dert und vom DOSB gelei­tet wird. Ebenso wie vom 2015 gestar­te­ten Pro­jekt „Will­kom­men im Sport“, das von der Inte­gra­ti­ons­be­auf­trag­ten der Bun­des­re­gie­rung, Aydan Özoğuz, und im ver­gan­ge­nen Jahr auch vom Inter­na­tio­na­len Olym­pi­schen Komi­tee (IOC) unter­stützt wird.

Obwohl die Medien über das Inte­gra­ti­ons­en­ga­ge­ment von Ver­ei­nen berich­ten, ist immer aufs Neue der genaue Blick von­nö­ten, um zu ver­ste­hen, wie „Sport Demo­kra­tie aktiv mit­baut“, um noch ein­mal Joa­chim Gauck zu zitie­ren. Zwei Bei­spiele an die­ser Stelle sol­len stell­ver­tre­tend den Wir­kungs­rah­men die­ser ehren­amt­li­chen Ver­eins­ar­beit in Sport­deutsch­land abste­cken. Sie wei­ten das Ver­ständ­nis dafür, wie der Sport dazu bei­tra­gen kann, das Mit­ein­an­der zu gestal­ten und eine Iden­ti­fi­ka­tion zu beför­dern, die über die Gren­zen des Ver­eins­le­bens hin­aus­reicht: Tae­kwondo Özer, ein Ver­ein aus der Nürn­ber­ger Süd­stadt, in der viele sozial benach­tei­ligte Men­schen leben und in der Armut deut­lich sicht­bar ist. Und der FV Gon­ne­s­wei­ler aus der beschau­li­chen 1000-Ein­woh­ner-Gemeinde Noh­fel­den im Saarland.

Hier also der von Migran­ten gegrün­dete und geführte Tae­kwondo-Stütz­punkt mit etwas mehr als 100 Mit­glie­dern, aus dem z. B. Rabia, Sümeyye und Tahir Gülec stam­men, drei Geschwis­ter, die nicht allein durch eine Reihe von Welt- und Euro­pa­meis­ter­ti­teln sowie Olym­pia­teil­nah­men Bekannt­heit erlangt haben, son­dern auch ihre tür­ki­schen Wur­zeln und deut­schen Pässe tei­len. Wie im Übri­gen die Mehr­heit der Mit­glie­der. Denn im Ver­ein Tae­kwondo Özer kreu­zen sich sport­li­che und sozi­al­in­te­gra­tive Höchst­leis­tun­gen. Dazu spä­ter mehr.

Und dort der Brei­ten­sport ori­en­tierte Fuß­ball­ver­ein aus einer länd­li­chen Region, mit rund 600 Mit­glie­dern, des­sen Frauen- und Män­ner-Mann­schaf­ten in der Ver­bands- und Kreis­liga spie­len und der sich inten­siv um Flücht­linge küm­mert und sie zur Teil­habe ani­miert. Tae­kwondo Özer wie Gon­ne­s­wei­ler zäh­len zu den Stütz­punkt­ver­ei­nen von „Inte­gra­tion durch Sport“ und haben bereits zahl­rei­che Aus­zeich­nun­gen für ihr sozia­les Enga­ge­ment erhalten.

Zwei Ver­eine, ein­mal in der Groß­stadt, ein­mal auf dem Land, mit unter­schied­li­chen sozia­len Struk­tu­ren und sport­li­chen Aus­rich­tun­gen: Wo ergän­zen sich die Ver­eine, wie tra­gen sie zum sozia­len Zusam­men­halt im Gauck­schen Sinne bei? Eine Annäherung.

Teil­habe auf dem Land

„Der FV Gon­ners­wei­ler“, sagt Simon Kirch, Lei­ter des IdS Pro­gramms beim Lan­des­sport­bund Saar­land (LSVS), „zeigt auf vor­bild­hafte Weise, dass ein Sport­ver­ein weit mehr ist und bie­tet, als in der Sat­zung geschrie­ben steht: Er ist eine Gemein­schaft von Gleich­be­rech­tig­ten, die trotz unter­schied­li­cher Iden­ti­tä­ten an etwas arbei­ten, in dem sich alle wiederfinden.“

Der Anspruch für alle da zu sein, spie­gelt sich im sozia­len Enga­ge­ment der Saar­län­der wider. Die Ver­eins­ak­ti­vi­tä­ten zie­len auf einen Aus­gleich der Inter­es­sen und Bedürf­nisse und rich­ten sich nicht allein an Geflüch­tete, son­dern auch an sozial Benach­tei­ligte ohne Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Bei jedem geplan­ten Pro­jekt steht das Gemein­wohl im Vor­der­grund, nicht das Bedürf­nis ein­zel­ner Per­so­nen oder Gruppen.

Zudem attes­tiert Simon Kirch den Ver­ant­wort­li­chen des FV Gon­ne­s­wei­ler eine gesunde Grund­ein­stel­lung. „Der Ver­ein geht die Flücht­lings­hilfe sehr struk­tu­riert an und berei­tet seine Mit­glie­der auf Frus­tra­tio­nen vor.“ Die etwa dann ein­tre­ten, wenn Flücht­linge auf der Suche nach Arbeit die Gemeinde wie­der ver­las­sen und in große Städte zie­hen, was bei min­des­tens 20 bis 30 Pro­zent der Per­so­nen der Fall ist.

Schon immer legte der Ver­ein auf per­sön­li­ches Enga­ge­ment Wert. „Uns sind eine große Gemein­schaft und eine soziale Teil­habe unheim­lich wich­tig“, sagt Vor­sit­zen­der Ste­fan Kunz. Die Phi­lo­so­phie zahlt sich nun aus; bei der Inte­gra­tion von Flücht­lin­gen man­gelt es dem Ver­ein nicht an frei­wil­li­gen Hel­fern. Und jene, die selbst vor Jah­ren oder Jahr­zehn­ten nach Deutsch­land kamen, ste­hen nun als Lai­en­dol­met­scher zur Ver­fü­gung. Sie erzäh­len, dass sie ihre Inte­gra­tion dadurch noch ein­mal völ­lig neu erle­ben würden.

Mit­ma­chen und gestal­ten, das sol­len auch die Neu­an­kömm­linge. So wur­den die bei­den Syrer Shafeek (26 Jahre) und Bakri (28 Jahre) zu Inte­gra­ti­ons­be­auf­trag­ten ernannt und in den Vor­stand gewählt, der eine ver­ant­wort­lich für den Spiel­be­trieb, der andere als Zwei­ter Kas­sen­wart für die Finan­zen. Hin­zu­kom­men soll dem­nächst ein deutsch-ara­bi­scher Kul­tur­ver­ein, damit bei Ver­eins­ver­an­stal­tun­gen die Inter­es­sen der Flücht­linge bes­ser berück­sich­tigt werden.

Wei­tere Pro­jekte: „Spra­che und Sport“, in dem Gon­ne­s­wei­ler mit­hilfe des Bil­dungs­trä­gers WIAF und dem Lan­des­sport­bund Saar­land Sprach­bil­dung und -för­de­rung anbie­ten will. Vier­mal die Woche im eige­nen Ver­eins­heim, zwei­mal mit einem Sport­mo­bil vor Ort. In Koope­ra­tion mit der Mal­te­ser-Hilfs­or­ga­ni­sa­tion wer­den Erste-Hilfe-Schu­lun­gen durch­ge­führt und mit der Land­frauen-Initia­tive Sötern Koch­kurse für deutsch-ara­bi­sche Frauen. Die mus­li­mi­schen Frauen erhal­ten aber auch Qua­li­fi­zie­rungs­an­ge­bote, von denen sich sogar das ört­li­che Job­cen­ter beein­dru­cken las­sen hat. Nun infor­miert es die Frauen über die Ver­eins­an­ge­bote und stellt sogar finan­zi­elle Unter­stüt­zung in Aus­sicht. Um diese Fort­bil­dungs­maß­nah­men erfolg­reich zu gestal­ten, bedarf es des Ver­trau­ens, das die Frauen auf­bauen müs­sen, aber auch eines Ange­bots zur Kin­der­be­treu­ung. Gon­ne­s­wei­ler kann es bieten.

„Der Ver­ein ist sozia­ler Kno­ten­punkt in der Gemeinde. Er hat zu jedem Kon­takt, zu jedem einen Draht“, sagt Simon Kirch. „Wenn es gelingt, die Fami­lie und die Frauen in den Ver­ein zu brin­gen und dort zu bin­den, dann erhält die Inte­gra­tion einen ganz ande­ren Schub.“ Simon Kirch nennt es den Drei­schritt: Erst­kon­takt im Sport, unab­hän­gig vom Ver­ein. Dann das Her­an­füh­ren an die Ver­eins­ge­mein­schaft, schließ­lich die Mit­ge­stal­tung. So hat sich Gon­ne­s­wei­ler neben­bei zu einem Mehr­spar­ten­ver­ein ent­wi­ckelt, in dem mitt­ler­weile Tan­zen und Tur­nen ange­bo­ten wer­den. Eine Sparte für (Kin­der-) Leicht­ath­le­tik befin­det sich in der Planung.

Vor­bil­der in der Stadt

Wäh­rend Gon­ne­s­wei­ler gewis­ser­ma­ßen an der Gras­narbe wirkt, rich­tet sich der sport­li­che Blick bei Tae­kwondo Özer auf die Spitze – inter­na­tio­nal. Im Auf­ent­halts­raum des Kampf­sport­clubs aus der Nürn­ber­ger Süd­stadt rei­hen sich die Pokale anein­an­der. „Wer als Kind zu uns kommt, will mög­lichst bald Medail­len gewin­nen“, sagt Trai­ner Özer Gülec, der den Ver­ein gegrün­det hat. Sport­li­che Höchst­leis­tun­gen sind bei Tae­kwondo Özer kein Selbst­zweck, son­dern immer gepaart mit sozi­al­in­te­gra­ti­vem Anspruch. Viele Mit­glie­der stam­men aus bil­dungs­fer­nen Eltern­häu­sern und haben einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Bei Tae­kwondo Özer fühlt man sich die­sen Jugend­li­chen gegen­über ver­pflich­tet, Schule und Bil­dung haben im Ver­ein trotz des Anspruchs Vor­rang. Tole­ranz gegen­über ande­ren Reli­gio­nen auch, und Soli­da­ri­tät, wenn z. B. einem paläs­ti­nen­si­schen Mäd­chen dabei gehol­fen wird, die Schule zu wechseln.

Ganz wich­tig ist Özer Gülec und Alfred Castaño, dem 1. Vor­sit­zen­den, das Thema Ein­bür­ge­rung. „Wir ver­su­chen unse­ren Mit­glie­dern vor­zu­le­ben, dass es leich­ter ist, ein Zuge­hö­rig­keits­ge­fühl zu ent­wi­ckeln, wenn man als Deut­scher in Deutsch­land lebt“, sagt der gebür­tige Spa­nier Castaño. Gülec sei­ner­seits, Sohn soge­nann­ter »Gast­ar­bei­ter«, war­tete nicht lange nach sei­nem 18. Geburts­tag, um Bun­des­bür­ger zu wer­den. „Ich wollte mich als Teil der Gesell­schaft füh­len statt als Gast“, sagt er.

Die gro­ßen sport­li­chen Erfolge wir­ken wie ein Mul­ti­pli­ka­tor, hel­fen dem Ver­ein, sei­nen inte­gra­ti­ven Ansatz ins Land zu tra­gen. „Wir wer­den von allen mög­li­chen Tae­kwondo-Ver­ei­nen um Hilfe gebe­ten, aus der Stadt, aus Deutsch­land, sogar aus dem Aus­land“, sagt der 1. Vorsitzende.

Wie die ande­ren Mil­lio­nen Ver­eins­ver­tre­ter wirkt auch Alfred Castaño ehren­amt­lich. „Es gibt natür­lich immer Leute, die fra­gen, warum machst Du das, das kos­tet so viel Zeit. Ich denke aber, dass man nicht auf die­ser Welt ist, nur um Spaß zu haben und reich zu wer­den. Son­dern dass man mehr davon hat, wenn man ver­sucht, das Rich­tige zu tun, sich zu enga­gie­ren. Man tut diese Dinge trotz der Wider­stände, trotz der Pro­bleme. Man tut diese Dinge, weil sie wich­tig sind.“

Was gibt es mehr zu sagen, in die­ser Zeit, in der vie­ler­orts Gemein­wohl, Soli­da­ri­tät und Mit­mensch­lich­keit nicht mehr zu den Tugen­den zu zäh­len schei­nen? Joa­chim Gauck würde sagen: „Auf den ers­ten Blick ist der Sport ein Spiel, auf den zwei­ten Blick ist es Gestal­ten der Gesell­schaft.“ Ob in Nürn­berg, im Saar­land oder anderswo.

Von |2019-06-11T10:50:28+02:00Juli 12th, 2017|Bürgerschaftliches Engagement|Kommentare deaktiviert für

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Inte­gra­tion durch Sport

Alfons Hörmann ist Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB).