Alfons Hörmann 12. Juli 2017 Logo_Initiative_print.png

Das Gestal­ten der Gesellschaft

Inte­gra­tion durch Sport

Bei der diesjährigen Preisverleihung der „Sterne des Sports“, einem Wettbewerb, der vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und den Volks- und Raiffeisenbanken ausgerichtet und mittlerweile als Oskar der Vereine bezeichnet wird, musste man genau hinhören. Fast beiläufig formulierte der Schirmherr und jüngst aus dem Amt geschiedene Bundespräsident Joachim Gauck einen treffenden und bedeutsamen Satz: „Auf den ersten Blick ist der Sport ein Spiel, auf den zweiten Blick ist es Gestalten der Gesellschaft.“

Was hat der ehemalige Bundespräsident damit gemeint? Das Engagement der Sportvereine, oder besser: das seiner Mitglieder. In den rund 90.000 Sportvereinen unter dem Dach von Sportdeutschland leisten 8,6 Millionen Freiwillige 300 Millionen ehrenamtliche Stunden pro Jahr. Wie viel das im Sinne von Joachim Gauck für den sozialen Zusammenhalt hierzulande bedeutet, ist kaum zu ermessen. Gerade jetzt, in Zeiten eines wachsenden, manchmal schwer zu greifenden und in dieser Form bislang fremden Unbehagens in der Gesellschaft. Gerade jetzt, wo jenseits des Atlantiks, aber auch in Europa und in Deutschland rechte Politikakteure demokratische Wertegemeinschaften attackieren und solidarische Prinzipien und Menschenrechte zugunsten von egoistisch-nationalistisch orientierten Experimenten zurückzudrängen versuchen.

Der Vereinssport hat viele Funktionen, die soziale ist nur eine davon. Doch wer seine Rolle für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in seiner ganzen Komplexität begreifen will, sollte sich beispielhaft das quantitativ und qualitativ beeindruckende Engagement der Vereine beim Thema Integration ansehen – eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen, aktuell wie zukünftig.

Daher profitiert die Gesellschaft in ganz besonderer Weise vom Bundesprogramm „Integration durch Sport“, das seit mehr als 25 Jahren existiert und vom Bundesinnenministerium (BMI) sowie vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gefördert und vom DOSB geleitet wird. Ebenso wie vom 2015 gestarteten Projekt „Willkommen im Sport“, das von der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Aydan Özoğuz, und im vergangenen Jahr auch vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) unterstützt wird.

Obwohl die Medien über das Integrationsengagement von Vereinen berichten, ist immer aufs Neue der genaue Blick vonnöten, um zu verstehen, wie „Sport Demokratie aktiv mitbaut“, um noch einmal Joachim Gauck zu zitieren. Zwei Beispiele an dieser Stelle sollen stellvertretend den Wirkungsrahmen dieser ehrenamtlichen Vereinsarbeit in Sportdeutschland abstecken. Sie weiten das Verständnis dafür, wie der Sport dazu beitragen kann, das Miteinander zu gestalten und eine Identifikation zu befördern, die über die Grenzen des Vereinslebens hinausreicht: Taekwondo Özer, ein Verein aus der Nürnberger Südstadt, in der viele sozial benachteiligte Menschen leben und in der Armut deutlich sichtbar ist. Und der FV Gonnesweiler aus der beschaulichen 1000-Einwohner-Gemeinde Nohfelden im Saarland.

Hier also der von Migranten gegründete und geführte Taekwondo-Stützpunkt mit etwas mehr als 100 Mitgliedern, aus dem z. B. Rabia, Sümeyye und Tahir Gülec stammen, drei Geschwister, die nicht allein durch eine Reihe von Welt- und Europameistertiteln sowie Olympiateilnahmen Bekanntheit erlangt haben, sondern auch ihre türkischen Wurzeln und deutschen Pässe teilen. Wie im Übrigen die Mehrheit der Mitglieder. Denn im Verein Taekwondo Özer kreuzen sich sportliche und sozialintegrative Höchstleistungen. Dazu später mehr.

Und dort der Breitensport orientierte Fußballverein aus einer ländlichen Region, mit rund 600 Mitgliedern, dessen Frauen- und Männer-Mannschaften in der Verbands- und Kreisliga spielen und der sich intensiv um Flüchtlinge kümmert und sie zur Teilhabe animiert. Taekwondo Özer wie Gonnesweiler zählen zu den Stützpunktvereinen von „Integration durch Sport“ und haben bereits zahlreiche Auszeichnungen für ihr soziales Engagement erhalten.

Zwei Vereine, einmal in der Großstadt, einmal auf dem Land, mit unterschiedlichen sozialen Strukturen und sportlichen Ausrichtungen: Wo ergänzen sich die Vereine, wie tragen sie zum sozialen Zusammenhalt im Gauckschen Sinne bei? Eine Annäherung.

Teilhabe auf dem Land

„Der FV Gonnersweiler“, sagt Simon Kirch, Leiter des IdS Programms beim Landessportbund Saarland (LSVS), „zeigt auf vorbildhafte Weise, dass ein Sportverein weit mehr ist und bietet, als in der Satzung geschrieben steht: Er ist eine Gemeinschaft von Gleichberechtigten, die trotz unterschiedlicher Identitäten an etwas arbeiten, in dem sich alle wiederfinden.“

Der Anspruch für alle da zu sein, spiegelt sich im sozialen Engagement der Saarländer wider. Die Vereinsaktivitäten zielen auf einen Ausgleich der Interessen und Bedürfnisse und richten sich nicht allein an Geflüchtete, sondern auch an sozial Benachteiligte ohne Migrationshintergrund. Bei jedem geplanten Projekt steht das Gemeinwohl im Vordergrund, nicht das Bedürfnis einzelner Personen oder Gruppen.

Zudem attestiert Simon Kirch den Verantwortlichen des FV Gonnesweiler eine gesunde Grundeinstellung. „Der Verein geht die Flüchtlingshilfe sehr strukturiert an und bereitet seine Mitglieder auf Frustrationen vor.“ Die etwa dann eintreten, wenn Flüchtlinge auf der Suche nach Arbeit die Gemeinde wieder verlassen und in große Städte ziehen, was bei mindestens 20 bis 30 Prozent der Personen der Fall ist.

Schon immer legte der Verein auf persönliches Engagement Wert. „Uns sind eine große Gemeinschaft und eine soziale Teilhabe unheimlich wichtig“, sagt Vorsitzender Stefan Kunz. Die Philosophie zahlt sich nun aus; bei der Integration von Flüchtlingen mangelt es dem Verein nicht an freiwilligen Helfern. Und jene, die selbst vor Jahren oder Jahrzehnten nach Deutschland kamen, stehen nun als Laiendolmetscher zur Verfügung. Sie erzählen, dass sie ihre Integration dadurch noch einmal völlig neu erleben würden.

Mitmachen und gestalten, das sollen auch die Neuankömmlinge. So wurden die beiden Syrer Shafeek (26 Jahre) und Bakri (28 Jahre) zu Integrationsbeauftragten ernannt und in den Vorstand gewählt, der eine verantwortlich für den Spielbetrieb, der andere als Zweiter Kassenwart für die Finanzen. Hinzukommen soll demnächst ein deutsch-arabischer Kulturverein, damit bei Vereinsveranstaltungen die Interessen der Flüchtlinge besser berücksichtigt werden.

Weitere Projekte: „Sprache und Sport“, in dem Gonnesweiler mithilfe des Bildungsträgers WIAF und dem Landessportbund Saarland Sprachbildung und -förderung anbieten will. Viermal die Woche im eigenen Vereinsheim, zweimal mit einem Sportmobil vor Ort. In Kooperation mit der Malteser-Hilfsorganisation werden Erste-Hilfe-Schulungen durchgeführt und mit der Landfrauen-Initiative Sötern Kochkurse für deutsch-arabische Frauen. Die muslimischen Frauen erhalten aber auch Qualifizierungsangebote, von denen sich sogar das örtliche Jobcenter beeindrucken lassen hat. Nun informiert es die Frauen über die Vereinsangebote und stellt sogar finanzielle Unterstützung in Aussicht. Um diese Fortbildungsmaßnahmen erfolgreich zu gestalten, bedarf es des Vertrauens, das die Frauen aufbauen müssen, aber auch eines Angebots zur Kinderbetreuung. Gonnesweiler kann es bieten.

„Der Verein ist sozialer Knotenpunkt in der Gemeinde. Er hat zu jedem Kontakt, zu jedem einen Draht“, sagt Simon Kirch. „Wenn es gelingt, die Familie und die Frauen in den Verein zu bringen und dort zu binden, dann erhält die Integration einen ganz anderen Schub.“ Simon Kirch nennt es den Dreischritt: Erstkontakt im Sport, unabhängig vom Verein. Dann das Heranführen an die Vereinsgemeinschaft, schließlich die Mitgestaltung. So hat sich Gonnesweiler nebenbei zu einem Mehrspartenverein entwickelt, in dem mittlerweile Tanzen und Turnen angeboten werden. Eine Sparte für (Kinder-) Leichtathletik befindet sich in der Planung.

Vorbilder in der Stadt

Während Gonnesweiler gewissermaßen an der Grasnarbe wirkt, richtet sich der sportliche Blick bei Taekwondo Özer auf die Spitze – international. Im Aufenthaltsraum des Kampfsportclubs aus der Nürnberger Südstadt reihen sich die Pokale aneinander. „Wer als Kind zu uns kommt, will möglichst bald Medaillen gewinnen“, sagt Trainer Özer Gülec, der den Verein gegründet hat. Sportliche Höchstleistungen sind bei Taekwondo Özer kein Selbstzweck, sondern immer gepaart mit sozialintegrativem Anspruch. Viele Mitglieder stammen aus bildungsfernen Elternhäusern und haben einen Migrationshintergrund. Bei Taekwondo Özer fühlt man sich diesen Jugendlichen gegenüber verpflichtet, Schule und Bildung haben im Verein trotz des Anspruchs Vorrang. Toleranz gegenüber anderen Religionen auch, und Solidarität, wenn z. B. einem palästinensischen Mädchen dabei geholfen wird, die Schule zu wechseln.

Ganz wichtig ist Özer Gülec und Alfred Castaño, dem 1. Vorsitzenden, das Thema Einbürgerung. „Wir versuchen unseren Mitgliedern vorzuleben, dass es leichter ist, ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln, wenn man als Deutscher in Deutschland lebt“, sagt der gebürtige Spanier Castaño. Gülec seinerseits, Sohn sogenannter »Gastarbeiter«, wartete nicht lange nach seinem 18. Geburtstag, um Bundesbürger zu werden. „Ich wollte mich als Teil der Gesellschaft fühlen statt als Gast“, sagt er.

Die großen sportlichen Erfolge wirken wie ein Multiplikator, helfen dem Verein, seinen integrativen Ansatz ins Land zu tragen. „Wir werden von allen möglichen Taekwondo-Vereinen um Hilfe gebeten, aus der Stadt, aus Deutschland, sogar aus dem Ausland“, sagt der 1. Vorsitzende.

Wie die anderen Millionen Vereinsvertreter wirkt auch Alfred Castaño ehrenamtlich. „Es gibt natürlich immer Leute, die fragen, warum machst Du das, das kostet so viel Zeit. Ich denke aber, dass man nicht auf dieser Welt ist, nur um Spaß zu haben und reich zu werden. Sondern dass man mehr davon hat, wenn man versucht, das Richtige zu tun, sich zu engagieren. Man tut diese Dinge trotz der Widerstände, trotz der Probleme. Man tut diese Dinge, weil sie wichtig sind.“

Was gibt es mehr zu sagen, in dieser Zeit, in der vielerorts Gemeinwohl, Solidarität und Mitmenschlichkeit nicht mehr zu den Tugenden zu zählen scheinen? Joachim Gauck würde sagen: „Auf den ersten Blick ist der Sport ein Spiel, auf den zweiten Blick ist es Gestalten der Gesellschaft.“ Ob in Nürnberg, im Saarland oder anderswo.

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