„Nicht Spra­che ist Hei­mat, son­dern das, was gespro­chen wird“

Über kul­tu­relle Inte­gra­tion in Ost und West. Wer will wen inte­grie­ren und wohin?

Die Mau­er­öff­nung 1989 brachte den gro­ßen Schnitt. Durch die Wäh­rungs­union und die Wie­der­ver­ei­ni­gung hat­ten sich die per­sön­li­chen und gesell­schaft­li­chen Lebens­um­stände für die ost­deut­sche Bevöl­ke­rung rasch und umfas­send ver­än­dert. Viele Men­schen kamen mit dem nöti­gen Maß an Neu­ori­en­tie­rung nicht zurecht oder fan­den sich in so ungüns­ti­gen Vor­aus­set­zun­gen wie­der, dass sie nicht oder nur schwer in der Lage waren, die­sen Pro­zess ohne Beschä­di­gun­gen am Selbst­wert­ge­fühl zu über­ste­hen. Jetzt erst war er in vol­lem Aus­maß spür­bar, der Gra­ben der Geschichte, der zwi­schen Ost und West klaffte. Er trennte die Gene­ra­tio­nen in die, die Deutsch­lands Tei­lung über­lebt hat­ten und in die Nachgeborenen.

Aber auch diese Tren­nung ist nicht der allei­nige Schlüs­sel zum Ver­ste­hen der unter­schied­li­chen Ost-West-Men­ta­li­tä­ten. Denn jede geschicht­li­che Erfah­rung ist im tie­fe­ren Sinn auch eine per­sön­li­che, eine bio­gra­phi­sche. Und im Wett­streit der deut­schen Teil­ge­schich­ten siegte die des Wes­tens, dank ihrer effi­zi­en­ten Wirt­schaft, der sich 1990 zu Bedin­gun­gen des Wes­tens die bank­rotte Ost­ge­schichte anschloss. Der Osten brauchte den Wes­ten, nicht umge­kehrt. Im Wes­ten ist das kaum spür­bar, im Osten gab es plötz­lich Regio­nen mit über 25 Pro­zent Arbeits­lo­sig­keit. Tief grub sich dadurch das Gefühl einer Dau­er­krise auf dem ost­deut­schen Arbeits­markt ein, die in den Augen vie­ler Ost­deut­scher die Zuwan­de­rer als ver­meint­li­che Kon­kur­ren­ten um Arbeits­plätze erschei­nen ließ. Hinzu kam, dass in die­ser Zeit sich viele Ost­deut­sche ent­wer­tet gefühlt haben – ein Emp­fin­den, das nicht der Ver­gan­gen­heit ange­hört – weil es der alten Bun­des­re­pu­blik rela­tiv leicht gelang, ihre Ver­hält­nisse auf die neuen Bun­des­län­der zu über­tra­gen, ohne gleich­zei­tig die ver­meint­lich glei­che Sicher­heit und Teil­habe z. B. an Arbeits­plät­zen mit sich zu bringen.

Wohl erst jetzt, da wir in unse­rer deutsch-deut­schen Aus­ein­an­der­set­zung das Kon­strukt „Europa“ als eine ver­läss­li­che Kon­stante benö­ti­gen, in die und mit der inte­griert wer­den soll und es damit zum unmit­tel­ba­ren Adres­sa­ten von brei­ten und kon­tro­ver­sen Inter­es­sen, Erwar­tun­gen und Ansprü­chen wird, ergibt sich unter dem Aspekt einer erhoff­ten euro­päi­schen Iden­ti­tät eine kri­ti­sche Situation.

Für das Europa nach Maas­tricht (1992) ergibt sich eine dop­pelte Aufgabe:

  1. Neue euro­päi­sche Soli­da­ri­täts­kri­te­rien zu ent­fal­ten, die in eine Wer­te­ord­nung ein­ge­bet­tet sind
  2. Die Loya­li­tä­ten zu den Natio­nal­staa­ten zu erhalten

Erfolgt das erste nicht, gewinnt die EU keine hin­rei­chende Legi­ti­mi­tät über Wer­te­be­zie­hun­gen. Gelingt das zweite nicht, ver­liert die EU Kom­pro­miss­fä­hig­keit für unter­schied­li­che For­men von Konflikten.

Da die Poli­tik­ver­flech­tung in der EU in all den Jah­ren das vor­ran­gige Thema war, muss jetzt dar­über nach­ge­dacht wer­den, wie die Iden­ti­täts­bil­dun­gen inner­halb der ein­zel­nen Staa­ten durch die Bezugs­größe „Europa“ erwei­tert wer­den muss, um eine kul­tu­relle Inte­gra­tion zu ermöglichen.

Wir, als Gesell­schaft gehen davon aus: Kul­tur ist ein Pro­gramm oder Leit­fa­den von Wer­ten, Nor­men und Ver­hal­tens­wei­sen. Die­ses Pro­gramm ist in unter­schied­li­chen Gesell­schaf­ten unter­schied­lich tra­diert und als „Kul­tur“ pro­kla­miert, um maß­geb­li­che Ziele im Zusam­men­le­ben in der jewei­li­gen Gesell­schaft zu sichern.

Wäh­rend die alte Bun­des­re­pu­blik seit den spä­ten 1950er Jah­ren mit Zuwan­de­rern lebt, haben viele DDR-Bür­ger bis zur Wende kaum All­tags­kon­takt zu Migran­ten gehabt. Die DDR war kein Land, das für Zuwan­de­rer beson­ders attrak­tiv war, von ver­ein­zel­ten Ent­schei­dun­gen abge­se­hen. Die Anwe­sen­heit von Aus­län­dern war vor­ran­gig Aus­druck von poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen der Staats- und Par­tei­füh­rung und diente daher haupt­säch­lich poli­ti­schen Zwe­cken. Das wurde weit­ge­hend akzep­tiert. Die meis­ten Men­schen waren prag­ma­tisch. Sie woll­ten in einer über­schau­ba­ren, schein­bar siche­ren Gewohn­heit leben oder Kar­riere machen und pass­ten sich des­halb weit­ge­hend den Ver­hält­nis­sen an. Mehr­heit läuft immer zu Mehr­heit. Das wuss­ten die Ideo­lo­gen nicht nur die­ser Dik­ta­tur und waren als Staats­macht fokus­siert dar­auf, das Volk zu durch­drin­gen. Die Macht umzäunte das Land. Wenn sich die DDR-Bür­ger die­ser Macht ent­zie­hen woll­ten, gab es nur eine Emi­gra­tion nach innen.

Einen wirk­lich mul­ti­kul­tu­rel­len Aus­tausch gab es nicht. Ledig­lich pro­kla­mierte die DDR als „Frie­dens­staat“ die Auf­nahme von poli­tisch Ver­folg­ten, z. B. aus Chile oder auch die Aus­zu­bil­den­den und Stu­die­ren­den aus den Län­dern Asi­ens, Afri­kas und Latein­ame­ri­kas mit ent­spre­chen­der poli­ti­scher Ori­en­tie­rung. Ende der 1970er Jahre kam es jen­seits der Öffent­lich­keit zum Ein­satz von Ver­trags­ar­beit­neh­mern. Sie bil­de­ten die Zuwan­de­rungs­ge­schichte der DDR. Diese zuge­wan­der­ten Men­schen leb­ten in zuge­wie­se­nen Unter­künf­ten oder Stu­den­ten­hei­men, weit­ge­hend getrennt von der ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung. Kon­takte wur­den, anders als an den Uni­ver­si­tä­ten „im Geist von Soli­da­ri­tät und Völ­ker­ver­stän­di­gung“ orga­ni­siert, per­sön­li­che Kon­takte waren viel­fach nicht erwünscht. Kol­le­giale Kon­takte bezo­gen sich ledig­lich auf den Arbeits­all­tag, es sei denn, pri­vate Freund­schaf­ten oder Ehe­schlie­ßun­gen unter­bra­chen das Mus­ter. In der Öffent­lich­keit wurde von ihnen als den „Freun­den aus Bru­der­län­dern“ staats­kon­for­mes Ver­hal­ten erwartet.

Die dann in der Zeit nach der Fried­li­chen Revo­lu­tion von 1989 immer wie­der anzu­tref­fende Ver­wechs­lung von Patrio­tis­mus und Natio­na­lis­mus tat ein Übri­ges dazu, dass man den nun häu­fi­ger im All­tag anzu­tref­fen­den Aus­län­dern nicht freund­lich begegnete.

Es blieb der Wunsch, dass Ost- und West­deut­sche mög­lichst schnell gleich wer­den, ein krampf­haf­ter Ver­such. Und viele Ost­deut­sche spür­ten, dass die­ser Wunsch nach schnel­ler Nor­ma­li­tät nicht unbe­dingt ein brü­der­li­cher war, son­dern eher dem Unbe­ha­gen ent­sprang, sich gemein­sam mit den Fol­gen von 40 Jah­ren sozia­lis­ti­scher Dik­ta­tur aus­ein­an­der­set­zen zu müssen.

Die Tat­sa­che jedoch ist: Noch immer tickt Ost­deutsch­land anders. Die Ver­wer­fun­gen, die Kom­plexe, die Ohn­macht und der gleich­zei­tige Wille, sich auf­zu­bäu­men, wer­den nicht weg sein, wenn auch die letzte Dorf­straße neu asphal­tiert ist, das letzte Haus sei­nes Ver­falls ent­ho­ben wurde.

Die Nobel­preis­trä­ge­rin Herta Mül­ler schreibt in ihrem Text „Bei uns in Deutsch­land“: „Von Rumä­nien bin ich längst los­ge­kom­men. Aber nicht los­ge­kom­men von der gesteu­er­ten Ver­wahr­lo­sung der Men­schen in der Dik­ta­tur. (…) Auch, wenn die Ost­deut­schen dazu nichts mehr sagen und die West­deut­schen dar­über nichts mehr hören wol­len, lässt mich die­ses Thema nicht in Ruhe.“

Dort, ja viel­leicht aus­schließ­lich dort in den Hin­ter­las­sen­schaf­ten von Dik­ta­tur und Demü­ti­gung, liegt das Auf­bäu­men gegen das ver­meint­lich Fremde. Die Ver­gan­gen­heit ist wohl der Schat­ten ihrer Gegenwart.

Der Schrift­stel­ler Nicol Lju­bić, in Zagreb gebo­ren, wuchs in Schwe­den, Grie­chen­land, Russ­land und Deutsch­land auf. Noch immer wird er – der in deut­scher Spra­che Schrei­bende – als Deut­scher mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund bezeich­net. Und von denen gibt es ziem­lich viele in die­sem Land: Schon vor fünf Jah­ren waren es fast neun Mil­lio­nen. Gewöhnt aber hat sich das Land offen­bar noch nicht an sie.

Mit ihrer Rede „Hei­mat ist das was gespro­chen wird“ weist Herta Mül­ler 2001 auf die Bedeu­tung von Spra­che für die eigene Iden­ti­tät und das Hei­mi­schwer­den hin.

Auch jetzt wird in den offi­zi­el­len Ver­laut­ba­run­gen das Erler­nen der deut­schen Spra­che als unbe­dingte Vor­aus­set­zung für gelin­gende Inte­gra­tion angesehen.

Wer will wen inte­grie­ren und wohin? Herta Mül­ler reflek­tiert in ihrer Rede die trü­ge­ri­sche Sicher­heit, die sich auch für Emi­gran­ten hin­ter dem Satz „Spra­che ist Hei­mat“ ver­birgt und setzt der poli­ti­schen Macht von Spra­che mit einem Zitat von Jorge Sem­prun aus dem 1994 erschie­nen Werk „Fre­der­ico Sán­chez ver­ab­schie­det sich“ das gespro­chene Wort ent­ge­gen: „Im Grunde ist meine Hei­mat nicht die Spra­che […], son­dern das, was gespro­chen wird.“

Sehen wir Kul­tur unter die­sem Gesichts­punkt, ist die wich­tigste Schluss­fol­ge­rung dar­aus, dass wir dabei nicht nur auf Kom­mu­ni­ka­tion (damit ist nicht eine ein­sei­tige ver­bale Ver­mitt­lung gemeint) ange­wie­sen sind, son­dern dass in dem von uns ange­streb­ten Pro­zess Kom­mu­ni­ka­tion die Aus­drucks­form von Kul­tur – von einem kul­tu­rel­len Aus­tausch – ist. Das bedeu­tet, wir kön­nen jetzt, an einem Run­den Tisch, mit dau­er­haf­ter Gel­tung keine aus­schließ­li­chen Bedin­gun­gen for­mu­lie­ren. Die Mus­ter und Inhalte, die wir für eine kul­tu­relle Inte­gra­tion gel­tend machen wol­len, sind immer wie­der aktu­ell von sozia­len Struk­tu­ren und der damit aktu­ell mög­li­chen Ver­bind­lich­keit abhän­gig. Wir müs­sen uns bewusst sein, dass die jetzt von uns im Rah­men der kul­tu­rel­len Viel­falt erar­bei­te­ten Nor­men offen, kon­struk­tiv und dyna­misch sein müs­sen, denn sie wer­den durch die eigene Gesell­schaft und die Erwei­te­rung die­ser durch neue Kul­tur­be­züge modi­fi­ziert und wei­ter­ent­wi­ckelt. Nur wenn wir die­sen bestän­di­gen Pro­zess anneh­men kön­nen, wer­den wir eine leb­bare Balance finden.

Wir haben in den poli­ti­schen bzw. gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Pro­zes­sen beson­ders in den letz­ten Jah­ren die Erfah­run­gen gemacht, dass

  • die Glo­ba­li­sie­rungs- und Loka­li­sie­rungs­ten­den­zen sich ver­meint­lich ausbalancieren.
  • je mehr welt­weit Ver­hal­tens­wei­sen die All­tags­kul­tur der Bür­ger durch­drin­gen und Unter­schiede ver­meint­lich ver­schwin­den las­sen, umso mehr schei­nen andere gesell­schaft­li­che Ori­en­tie­rungs­an­ge­bote zuzu­neh­men, deren Pro­pa­gan­dis­ten einen Rück­halt in engen, natio­na­len Kon­zep­ten versprechen.
  • das erste Ziel die­ser Popu­lis­ten das Ver­spre­chen der Ein­ma­lig­keit der eige­nen Lebens­weise und damit das Ver­spre­chen einer siche­ren Unter­schei­dung von frem­den Kul­tu­ren, Dis­kur­sen und Glau­bens­for­men ist.
  • wir uns aber bewusst machen soll­ten, dass der Gegen­satz zwi­schen natio­na­len und glo­ba­len Über­ein­stim­mun­gen und Ungleich­zei­tig­kei­ten über­all in der Welt gefun­den wer­den kann und ein unaus­weich­li­ches Moment der Glo­ba­li­sie­rung (auch der Glo­ba­li­sie­rung von Kul­tur, geschmei­di­ger gesagt: kul­tu­relle Viel­falt) ist.
  • wie es scheint, in Europa gegen­wär­tig nicht das eine ohne das andere zu haben ist, was nicht bedeu­tet, dass wir diese Ent­wick­lung als gege­ben hin­neh­men dürfen.
  • die Fra­gen im Raum ste­hen: Wie kann Iden­ti­tät geför­dert wer­den als ein prak­ti­ka­bles Hilfs­mit­tel für gemein­sa­mes Welt­ver­ste­hen? Was bedeu­tet in die­sem Zusam­men­hang kul­tu­relle Integration?
  • obwohl immer wie­der the­ma­ti­siert, den Medi­en­an­ge­bo­ten eine Schlüs­sel­rolle zukommt. Sie tra­gen – in gro­ßen Tei­len pri­vat­wirt­schaft­lich orga­ni­siert – mit ihrer Destruk­tu­rie­rung und Ent­po­li­ti­sie­rung des Welt­wis­sens wesent­lich dazu bei, dass in schwe­rer zu über­bli­cken­den Situa­tio­nen die Bür­ger nach rela­tiv gro­ben, d. h. ein­fa­chen Mus­tern der Erklä­rung greifen.
  • hinzu kommt, dass auch die öffent­li­chen media­len Kom­mu­ni­ka­ti­ons­for­men des Dis­kur­ses nach dem Mus­ter der „Unter­hal­tung“ kaum als Hilfs­mit­tel inner­halb des so nöti­gen Iden­ti­täts­dis­kur­ses ange­se­hen wer­den können.

Kul­tu­relle Inte­gra­tion bedeu­tet wohl vor­ran­gig kul­tu­relle Iden­ti­tät in Europa. Wor­auf soll­ten wir bauen, was soll­ten wir nut­zen? Der Mythos „Frei­heit, Gleich­heit, Brü­der­lich­keit“ hatte wohl bis in den Herbst 1989 eine soziale Kraft und eine kul­tu­relle Dimen­sion. Als Ori­en­tie­rung fried­li­chen Ver­stän­di­gungs­han­delns soll­ten wir diese Kraft (auch wenn sie zur­zeit pro­pa­gan­dis­tisch miss­braucht wird) als ein sym­bo­li­sches Zen­trum sehen.

Von |2019-06-11T10:26:43+02:00April 19th, 2017|Heimat|Kommentare deaktiviert für

„Nicht Spra­che ist Hei­mat, son­dern das, was gespro­chen wird“

Über kul­tu­relle Inte­gra­tion in Ost und West. Wer will wen inte­grie­ren und wohin?

Regine Möbius ist stellvertretende Bundesvorsitzende des Verbandes deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) und Vizepräsidentin des Deutschen Kulturrates