Regine Möbius 19. April 2017 Logo_Initiative_print.png

„Nicht Spra­che ist Hei­mat, son­dern das, was gespro­chen wird“

Über kul­tu­relle Inte­gra­tion in Ost und West. Wer will wen inte­grie­ren und wohin?

Die Maueröffnung 1989 brachte den großen Schnitt. Durch die Währungsunion und die Wiedervereinigung hatten sich die persönlichen und gesellschaftlichen Lebensumstände für die ostdeutsche Bevölkerung rasch und umfassend verändert. Viele Menschen kamen mit dem nötigen Maß an Neuorientierung nicht zurecht oder fanden sich in so ungünstigen Voraussetzungen wieder, dass sie nicht oder nur schwer in der Lage waren, diesen Prozess ohne Beschädigungen am Selbstwertgefühl zu überstehen. Jetzt erst war er in vollem Ausmaß spürbar, der Graben der Geschichte, der zwischen Ost und West klaffte. Er trennte die Generationen in die, die Deutschlands Teilung überlebt hatten und in die Nachgeborenen.

Aber auch diese Trennung ist nicht der alleinige Schlüssel zum Verstehen der unterschiedlichen Ost-West-Mentalitäten. Denn jede geschichtliche Erfahrung ist im tieferen Sinn auch eine persönliche, eine biographische. Und im Wettstreit der deutschen Teilgeschichten siegte die des Westens, dank ihrer effizienten Wirtschaft, der sich 1990 zu Bedingungen des Westens die bankrotte Ostgeschichte anschloss. Der Osten brauchte den Westen, nicht umgekehrt. Im Westen ist das kaum spürbar, im Osten gab es plötzlich Regionen mit über 25 Prozent Arbeitslosigkeit. Tief grub sich dadurch das Gefühl einer Dauerkrise auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt ein, die in den Augen vieler Ostdeutscher die Zuwanderer als vermeintliche Konkurrenten um Arbeitsplätze erscheinen ließ. Hinzu kam, dass in dieser Zeit sich viele Ostdeutsche entwertet gefühlt haben – ein Empfinden, das nicht der Vergangenheit angehört – weil es der alten Bundesrepublik relativ leicht gelang, ihre Verhältnisse auf die neuen Bundesländer zu übertragen, ohne gleichzeitig die vermeintlich gleiche Sicherheit und Teilhabe z. B. an Arbeitsplätzen mit sich zu bringen.

Wohl erst jetzt, da wir in unserer deutsch-deutschen Auseinandersetzung das Konstrukt „Europa“ als eine verlässliche Konstante benötigen, in die und mit der integriert werden soll und es damit zum unmittelbaren Adressaten von breiten und kontroversen Interessen, Erwartungen und Ansprüchen wird, ergibt sich unter dem Aspekt einer erhofften europäischen Identität eine kritische Situation.

Für das Europa nach Maastricht (1992) ergibt sich eine doppelte Aufgabe:

  1. Neue europäische Solidaritätskriterien zu entfalten, die in eine Werteordnung eingebettet sind
  2. Die Loyalitäten zu den Nationalstaaten zu erhalten

Erfolgt das erste nicht, gewinnt die EU keine hinreichende Legitimität über Wertebeziehungen. Gelingt das zweite nicht, verliert die EU Kompromissfähigkeit für unterschiedliche Formen von Konflikten.

Da die Politikverflechtung in der EU in all den Jahren das vorrangige Thema war, muss jetzt darüber nachgedacht werden, wie die Identitätsbildungen innerhalb der einzelnen Staaten durch die Bezugsgröße „Europa“ erweitert werden muss, um eine kulturelle Integration zu ermöglichen.

Wir, als Gesellschaft gehen davon aus: Kultur ist ein Programm oder Leitfaden von Werten, Normen und Verhaltensweisen. Dieses Programm ist in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedlich tradiert und als „Kultur“ proklamiert, um maßgebliche Ziele im Zusammenleben in der jeweiligen Gesellschaft zu sichern.

Während die alte Bundesrepublik seit den späten 1950er Jahren mit Zuwanderern lebt, haben viele DDR-Bürger bis zur Wende kaum Alltagskontakt zu Migranten gehabt. Die DDR war kein Land, das für Zuwanderer besonders attraktiv war, von vereinzelten Entscheidungen abgesehen. Die Anwesenheit von Ausländern war vorrangig Ausdruck von politischen Entscheidungen der Staats- und Parteiführung und diente daher hauptsächlich politischen Zwecken. Das wurde weitgehend akzeptiert. Die meisten Menschen waren pragmatisch. Sie wollten in einer überschaubaren, scheinbar sicheren Gewohnheit leben oder Karriere machen und passten sich deshalb weitgehend den Verhältnissen an. Mehrheit läuft immer zu Mehrheit. Das wussten die Ideologen nicht nur dieser Diktatur und waren als Staatsmacht fokussiert darauf, das Volk zu durchdringen. Die Macht umzäunte das Land. Wenn sich die DDR-Bürger dieser Macht entziehen wollten, gab es nur eine Emigration nach innen.

Einen wirklich multikulturellen Austausch gab es nicht. Lediglich proklamierte die DDR als „Friedensstaat“ die Aufnahme von politisch Verfolgten, z. B. aus Chile oder auch die Auszubildenden und Studierenden aus den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas mit entsprechender politischer Orientierung. Ende der 1970er Jahre kam es jenseits der Öffentlichkeit zum Einsatz von Vertragsarbeitnehmern. Sie bildeten die Zuwanderungsgeschichte der DDR. Diese zugewanderten Menschen lebten in zugewiesenen Unterkünften oder Studentenheimen, weitgehend getrennt von der einheimischen Bevölkerung. Kontakte wurden, anders als an den Universitäten „im Geist von Solidarität und Völkerverständigung“ organisiert, persönliche Kontakte waren vielfach nicht erwünscht. Kollegiale Kontakte bezogen sich lediglich auf den Arbeitsalltag, es sei denn, private Freundschaften oder Eheschließungen unterbrachen das Muster. In der Öffentlichkeit wurde von ihnen als den „Freunden aus Bruderländern“ staatskonformes Verhalten erwartet.

Die dann in der Zeit nach der Friedlichen Revolution von 1989 immer wieder anzutreffende Verwechslung von Patriotismus und Nationalismus tat ein Übriges dazu, dass man den nun häufiger im Alltag anzutreffenden Ausländern nicht freundlich begegnete.

Es blieb der Wunsch, dass Ost- und Westdeutsche möglichst schnell gleich werden, ein krampfhafter Versuch. Und viele Ostdeutsche spürten, dass dieser Wunsch nach schneller Normalität nicht unbedingt ein brüderlicher war, sondern eher dem Unbehagen entsprang, sich gemeinsam mit den Folgen von 40 Jahren sozialistischer Diktatur auseinandersetzen zu müssen.

Die Tatsache jedoch ist: Noch immer tickt Ostdeutschland anders. Die Verwerfungen, die Komplexe, die Ohnmacht und der gleichzeitige Wille, sich aufzubäumen, werden nicht weg sein, wenn auch die letzte Dorfstraße neu asphaltiert ist, das letzte Haus seines Verfalls enthoben wurde.

Die Nobelpreisträgerin Herta Müller schreibt in ihrem Text „Bei uns in Deutschland“: „Von Rumänien bin ich längst losgekommen. Aber nicht losgekommen von der gesteuerten Verwahrlosung der Menschen in der Diktatur. (…) Auch, wenn die Ostdeutschen dazu nichts mehr sagen und die Westdeutschen darüber nichts mehr hören wollen, lässt mich dieses Thema nicht in Ruhe.“

Dort, ja vielleicht ausschließlich dort in den Hinterlassenschaften von Diktatur und Demütigung, liegt das Aufbäumen gegen das vermeintlich Fremde. Die Vergangenheit ist wohl der Schatten ihrer Gegenwart.

Der Schriftsteller Nicol Ljubić, in Zagreb geboren, wuchs in Schweden, Griechenland, Russland und Deutschland auf. Noch immer wird er – der in deutscher Sprache Schreibende – als Deutscher mit Migrationshintergrund bezeichnet. Und von denen gibt es ziemlich viele in diesem Land: Schon vor fünf Jahren waren es fast neun Millionen. Gewöhnt aber hat sich das Land offenbar noch nicht an sie.

Mit ihrer Rede „Heimat ist das was gesprochen wird“ weist Herta Müller 2001 auf die Bedeutung von Sprache für die eigene Identität und das Heimischwerden hin.

Auch jetzt wird in den offiziellen Verlautbarungen das Erlernen der deutschen Sprache als unbedingte Voraussetzung für gelingende Integration angesehen.

Wer will wen integrieren und wohin? Herta Müller reflektiert in ihrer Rede die trügerische Sicherheit, die sich auch für Emigranten hinter dem Satz „Sprache ist Heimat“ verbirgt und setzt der politischen Macht von Sprache mit einem Zitat von Jorge Semprun aus dem 1994 erschienen Werk „Frederico Sánchez verabschiedet sich“ das gesprochene Wort entgegen: „Im Grunde ist meine Heimat nicht die Sprache […], sondern das, was gesprochen wird.“

Sehen wir Kultur unter diesem Gesichtspunkt, ist die wichtigste Schlussfolgerung daraus, dass wir dabei nicht nur auf Kommunikation (damit ist nicht eine einseitige verbale Vermittlung gemeint) angewiesen sind, sondern dass in dem von uns angestrebten Prozess Kommunikation die Ausdrucksform von Kultur – von einem kulturellen Austausch – ist. Das bedeutet, wir können jetzt, an einem Runden Tisch, mit dauerhafter Geltung keine ausschließlichen Bedingungen formulieren. Die Muster und Inhalte, die wir für eine kulturelle Integration geltend machen wollen, sind immer wieder aktuell von sozialen Strukturen und der damit aktuell möglichen Verbindlichkeit abhängig. Wir müssen uns bewusst sein, dass die jetzt von uns im Rahmen der kulturellen Vielfalt erarbeiteten Normen offen, konstruktiv und dynamisch sein müssen, denn sie werden durch die eigene Gesellschaft und die Erweiterung dieser durch neue Kulturbezüge modifiziert und weiterentwickelt. Nur wenn wir diesen beständigen Prozess annehmen können, werden wir eine lebbare Balance finden.

Wir haben in den politischen bzw. gesamtgesellschaftlichen Prozessen besonders in den letzten Jahren die Erfahrungen gemacht, dass

  • die Globalisierungs- und Lokalisierungstendenzen sich vermeintlich ausbalancieren.
  • je mehr weltweit Verhaltensweisen die Alltagskultur der Bürger durchdringen und Unterschiede vermeintlich verschwinden lassen, umso mehr scheinen andere gesellschaftliche Orientierungsangebote zuzunehmen, deren Propagandisten einen Rückhalt in engen, nationalen Konzepten versprechen.
  • das erste Ziel dieser Populisten das Versprechen der Einmaligkeit der eigenen Lebensweise und damit das Versprechen einer sicheren Unterscheidung von fremden Kulturen, Diskursen und Glaubensformen ist.
  • wir uns aber bewusst machen sollten, dass der Gegensatz zwischen nationalen und globalen Übereinstimmungen und Ungleichzeitigkeiten überall in der Welt gefunden werden kann und ein unausweichliches Moment der Globalisierung (auch der Globalisierung von Kultur, geschmeidiger gesagt: kulturelle Vielfalt) ist.
  • wie es scheint, in Europa gegenwärtig nicht das eine ohne das andere zu haben ist, was nicht bedeutet, dass wir diese Entwicklung als gegeben hinnehmen dürfen.
  • die Fragen im Raum stehen: Wie kann Identität gefördert werden als ein praktikables Hilfsmittel für gemeinsames Weltverstehen? Was bedeutet in diesem Zusammenhang kulturelle Integration?
  • obwohl immer wieder thematisiert, den Medienangeboten eine Schlüsselrolle zukommt. Sie tragen – in großen Teilen privatwirtschaftlich organisiert – mit ihrer Destrukturierung und Entpolitisierung des Weltwissens wesentlich dazu bei, dass in schwerer zu überblickenden Situationen die Bürger nach relativ groben, d. h. einfachen Mustern der Erklärung greifen.
  • hinzu kommt, dass auch die öffentlichen medialen Kommunikationsformen des Diskurses nach dem Muster der „Unterhaltung“ kaum als Hilfsmittel innerhalb des so nötigen Identitätsdiskurses angesehen werden können.

Kulturelle Integration bedeutet wohl vorrangig kulturelle Identität in Europa. Worauf sollten wir bauen, was sollten wir nutzen? Der Mythos „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ hatte wohl bis in den Herbst 1989 eine soziale Kraft und eine kulturelle Dimension. Als Orientierung friedlichen Verständigungshandelns sollten wir diese Kraft (auch wenn sie zurzeit propagandistisch missbraucht wird) als ein symbolisches Zentrum sehen.

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