Deutschlandweit haben sich in den vergangenen Jahren Initiativen von Menschen gegründet, die sich nicht mehr als Migranten bezeichnen lassen wollen. Ihre Vereine heißen „Neue deutsche Medienmacher“, „Deutscher.Soldat“, „Jung, muslimisch, aktiv“, „Deutschplus“, „Schülerpaten“ und so weiter. Die Botschaft: Wir gehören dazu und wollen mitreden. Denn Deutschsein bedeutet heute nicht mehr, deutsche Urahnen zu besitzen. Seit es die Bundesrepublik Deutschland gibt, gibt es Ein- und Auswanderung. Die Gesellschaft hat sich sehr verändert. Und das ist gut so.
Dieser gesellschaftlichen Entwicklung hat sich auch das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht angepasst, das im Jahr 2000 reformiert wurde. Seither ist nicht mehr nur Deutscher, wer von Deutschen abstammt, sondern auch, wer in Deutschland geboren ist. Und wer länger hier lebt, darf sich einbürgern lassen. Diese Entwicklung spüren nicht nur Menschen, die ihrem Unmut in antimuslimischen Protestbewegungen Luft machen. Auch die Nachkommen von Einwanderern spüren den Aufbruch in der Gesellschaft und haben sich formiert. „Neue Deutsche Organisationen“ – der Name unserer Initiative – ist ein Sammelbegriff für Zusammenschlüsse und Vereine, die sich für eine plurale Einwanderungsgesellschaft einsetzen. Anfang 2015, in der Hochphase der „Pegida“-Debatte, kamen unter diesem Dach 80 Organisationen aus ganz Deutschland zusammen, um sich kennenzulernen und erste Ideen auszutauschen.
Viele der Menschen, die sich dort engagieren, haben selbst Migrationserfahrung oder stammen aus Familien, in denen zumindest ein Eltern- oder Großelternteil nach Deutschland eingewandert ist. Manche von ihnen sind mehrsprachig aufgewachsen, manche sprechen ausschließlich deutsch, einige reisen regelmäßig in das Land ihrer Eltern, andere waren noch nie dort, manche haben Verwandte im Ausland, manche wurden adoptiert, manchen sieht man die Einwanderungsgeschichte an, bei anderen hört man es am Namen. Die Neuen Deutschen Organisationen sind insgesamt also – wie der Rest der deutschen Gesellschaft – sehr heterogen. In ihnen finden sich Menschen mit den unterschiedlichsten kulturellen Bezügen, Einwanderungsbiografien und Lebensweisen. Was sie dennoch zusammenbringt sind ähnliche Erfahrungen, wenn es um Rassismus und Diskriminierung geht. So kennen die meisten von ihnen das Gefühl, immer wieder als „anders“ markiert zu werden. Dazu gehören z. B. Fragen wie „Fühlst du dich eher deutsch oder…?“, „Wo kommst du wirklich her?“ oder „Was esst ihr zu Hause?“, aber auch faktische Diskriminierung am Arbeits- und Wohnmarkt sowie in der Bildung gehört zu ihrer gemeinsamen Lebenswelt. Immer wieder zeigen Studien, dass besonders in diesen drei Bereichen konkrete Nachteile für Menschen mit Migrationsgeschichte entstehen. Hinzu kommen öffentlich geführte Debatten, die die Zugehörigkeit von Migranten infrage stellen. Etwa wenn darüber diskutiert wird, ob der Islam zu Deutschland gehört oder ob eine Überfremdung Deutschlands droht.
Die „Neuen Deutschen Organisationen“ wollen zeigen, dass Deutschland längst vielfältiger ist, als uns manche Skeptiker glauben machen wollen. Und wir wollen zeigen, warum das gut und notwendig ist. Menschen mit Migrationsgeschichte sind aus rechtlichen, demokratietheoretischen und – ja – auch moralischen Gründen ein gleichberechtigter Teil der deutschen Gesellschaft und wo dies noch nicht der Fall ist, sollten sie es sein. Viele der Neuen Deutschen Organisationen – aber nicht alle – tragen daher auch bewusst das Wort „deutsch“ im Namen.
Warum? Wir sind integriert, in Deutschland zu Hause, aber nicht als Deutsche anerkannt. Damit wollen wir uns nicht abfinden. Mit „wir“ ist übrigens keine kleine Minderheit gemeint, sondern ein großer Teil der Gesellschaft, der immer noch viel zu oft übergangen wird. Seit über zehn Jahren erfasst das Statistische Bundesamt, wer einen Migrationshintergrund hat. Ohne Aussiedler haben rund 17 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund – das entspricht 21 Prozent der Bevölkerung, also jeder Fünfte. Was viele nicht wissen: Die Mehrheit von ihnen sind Deutsche. Denn 9,3 Millionen von ihnen haben einen deutschen Pass. Blickt man auf die jüngere Generation, sind es noch mehr: In der Bevölkerung unter zehn Jahren haben 36 Prozent einen Migrationshintergrund. Mit anderen Worten: Jedes dritte Kind in Deutschland zählt zu den „neuen Deutschen“. Das Problem ist, dass Medien und Politik diesen Umstand kaum berücksichtigen.
Wieso brauchen wir Organisationen von Minderheiten? Migranten sowie ihre Nachkommen müssen sich selbst organisieren und sich eine Stimme verschaffen, solange Vielfalt nicht als Normalität anerkannt wird. Das ist z. B. der Fall, wenn Zuschreibungen zu Benachteiligung, Ausgrenzung und im schlimmsten Fall sogar zu Übergriffen führen. So setzen sich die „Neuen Deutschen Organisationen“ unter anderem dafür ein, dass der Diskriminierungsschutz ausgebaut wird, Rassismus ausnahmslos sanktioniert und Sorgen der eingewanderten Communities vor Übergriffen ernst genommen werden. In diesem Zusammenhang ist es auch immer wieder wichtig, die Lebenswirklichkeiten von marginalisierten Gruppen öffentlich zu machen. Dazu gehören auch die Expertisen, die Menschen mit Migrationsgeschichte haben und alltäglich in die Gesellschaft einbringen. Dadurch wird deutlich gemacht, was in der breiten Öffentlichkeit wenig behandelt wird: Menschen mit Migrationsgeschichte haben Werte und Fähigkeiten, mit denen sie tagtäglich zum Gelingen der Gesellschaft beitragen. Indem sich migrantische Communities wie die „Neuen Deutschen Organisationen“ zusammenschließen, können sie sich über gemeinsame Erfahrungen austauschen, sich unterstützen und gemeinsame Forderungen erarbeiten. Damit werden sie zu typischen Interessenvertretungen, die in einer gelebten Demokratie unabdingbar sind und in anderen Einwanderungsländern wie den USA, England und Frankreich die Debatten deutlich mitprägen. Angesichts der hitzigen Auseinandersetzungen um Migration und Integration, die nicht zuletzt angesichts der US-Wahl an Aggressivität zugenommen haben, hat der Einsatz der Neuen Deutschen und von klassischen Migrantenorganisationen an Bedeutung gewonnen.
Welche Rolle spielen die Neuen Deutschen Organisationen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Als „Neue Deutsche Organisationen“ sind wir der Auffassung, dass Identitäten – auch die deutsche Identität – hybrid sind, sich also aus mehreren Facetten zusammensetzen. Eine Aufteilung der Gesellschaft in ein „wir“ und die „anderen“ lehnen wir daher ab. Vor diesem Hintergrund geht es uns auch nicht um eine einseitige Integrationspolitik. Was wir brauchen, ist eine Gesellschaftspolitik für alle. Wir glauben daran, dass in allen gesellschaftspolitischen Bereichen gleichberechtigte Teilhabemöglichkeiten geschaffen werden müssen. Für alle. Um dies zu erreichen, müssen Barrieren identifiziert und gegebenenfalls beseitigt werden. Das gilt für Menschen mit und ohne Migrationserfahrung gleichermaßen. Mit diesem inklusiven Gedanken tragen die „Neuen Deutschen Organisationen“ zu einer Gesellschaft bei, in der Barrieren – wie Rassismus und Diskriminierung – nicht verschwiegen werden und Integrationspolitik als Integration von allen verstanden wird. Sollte dies gelingen, kann Deutschland endlich ein Land werden, in dem Vielfalt wertgeschätzt und Teilhabe für alle gleichermaßen möglich ist.