Viele von denen, die im Herbst 2015 nach Deutschland gekommen sind, werden bleiben, für lange Zeit, wenn nicht auf Dauer. Andere hingegen werden in ihre Heimat zurückkehren, weil die Lage dort das erlaubt; manche müssen zurückkehren, weil sie die rechtlichen Voraussetzungen für den Verbleib in Deutschland nicht erfüllen, wieder andere werden weiterziehen, und Deutschland wird für sie nur die Zwischenetappe einer längeren Migrationsgeschichte sein. Wir wissen nicht, wer auf Dauer bleiben wird, und die Flüchtlinge wissen das in der Regel auch nicht. Es gehört zu den Wesensmerkmalen der Flucht, dass man nicht mit Sicherheit sagen kann, wie die eigene Zukunft aussehen wird.
Dieser Ungewissheit auf Seiten der Migranten steht die juristische Sortiermaschine des Aufnahmelandes gegenüber, von der die ins Land Gekommenen kategorisiert werden: In solche mit und solche ohne Asylanspruch, in solche, die subsidiären Schutz erhalten, und solche, die eigentlich ausreisen müssen, vorerst aber geduldet werden. Mit dieser Sortierung sind unterschiedliche Ansprüche auf Integrationsmaßnahmen verbunden, von Sprachkursen bis zum Recht, in Deutschland arbeiten zu dürfen. Die Ordnung, die solcherart geschaffen wird, ist jedoch allenfalls provisorisch, und oft entspricht sie nicht dem, was dann gesellschaftliche Realität wird. Die Sortiermaschine verspricht Kostenbegrenzung, was sie aber tatsächlich produziert, sind große Fehlallokationen. Flüchtlinge, denen kein dauerhaftes Bleiberecht zugestanden wurde, können häufig – aus welchen Gründen auch immer – nicht abgeschoben werden, haben aber kein Deutsch gelernt, sich nicht um die Anerkennung ihrer Bildungsabschlüsse bemüht, auch keine berufsqualifizierende Aus- oder Weiterbildung erhalten, sondern sind durch monate- und oft jahrelange Unterbringung in Massenunterkünften in die Passivität gedrängt worden – und leben nun mehr schlecht als recht von den Leistungen des Sozialstaats. Entgegen einem verbreiteten Vorurteil ist das nicht das Ergebnis ihrer Faulheit, sondern das unserer eigenen Sortiermaschine. Die muss entweder intelligenter werden, oder die Integrationsmaßnahmen müssen vom Rechtsstatus der Flüchtlinge entkoppelt werden, sodass jeder so behandelt wird, als würde er auf Dauer in Deutschland bleiben.
Das sei ein Pullfaktor, der nur zur Vergrößerung des Flüchtlingsstromes nach Deutschland führe, lautet ein Einwand. Als ob die Flüchtlinge sich auf den gefährlichen Weg machen würden, weil sie unbedingt Deutsch lernen wollten. Integrationsmaßnahmen sind zu behandeln wie Impfungen: weil man im Vorhinein nicht weiß, wer sich infiziert, wendet sich das Angebot an alle. Und in einigen Fällen ist es nicht bloß ein Angebot, sondern sogar eine Pflicht. In unserem Fall heißt das: Verpflichtende Deutschkurse für alle, die einen Asylantrag stellen, ohne dass klar ist, wie der beschieden wird. Auf Dauer ist das für die aufnehmende Gesellschaft günstiger, als wenn die Menschen dauerhaft passiviert werden. Und bei den Flüchtlingen sind es oft die besten Jahre, in denen sie zur Untätigkeit verurteilt sind. Wieviel vernünftiger wäre es, die Aufnahmebereitschaft unserer Gesellschaft mit den Integrationsanstrengungen der Hierhergekommenen zu verkoppeln. Vermutlich würde dann auch die Akzeptanz der Migranten bei denen wachsen, die ihnen gegenwärtig skeptisch gegenüberstehen. Dazu muss sichtbar sein, dass Flüchtlinge aus einer zeitweiligen Belastung unserer Gesellschaft zu einer dauerhaften Bereicherung werden können. Ein Blick zurück zeigt im Übrigen, dass das in Deutschland seit etwa eineinhalb Jahrhunderten immer wieder der Fall gewesen ist.
Im 19. Jahrhundert war Deutschland über die längste Zeit ein Auswanderungsland. Es exportierte Menschen, für die es keine Arbeit hatte und die es nicht ernähren konnte. Etwa eine Million Deutsche wanderten damals in die »neue Welt« aus. Das änderte sich mit dem Beginn der Industrialisierung, als der Arbeitskräftebedarf sprunghaft nach oben schnellte und Deutschland zu einem Importland von Menschen aus Mittel- und Osteuropa wurde. Statt Menschen exportierte es nunmehr Waren; der gesellschaftliche Reichtum wuchs. Trotz zweier furchtbarer Kriege, in deren Verlauf die Deutschen im Übrigen zum Zwangsimport von Arbeitskräften übergingen, ist das bis heute so geblieben; als Mitte des 20. Jahrhunderts der »eiserne Vorhang« die Arbeitskräftewanderung aus dem Osten unterbrach, warb man in Südeuropa und andernorts Arbeitskräfte an. Deutschland ist in den zurückliegenden eineinhalb Jahrhunderten durchgängig ein Einwanderungsland gewesen; nur die DDR war das in den vier Jahrzehnten ihres Bestehens nicht – und demensprechend war es auch um deren ökonomische Prosperität bestellt. Die von konservativen Politikern verbreitete Formel, Deutschland sei kein Einwanderungsland, ist seit Beginn der Industrialisierung schlichtweg falsch.
Die Ursachen der Einwanderung legten auch die Art der Integration fest. Sie erfolgte in Deutschland über Arbeit, von den Polen an der Ruhr bis zu den Italienern, Jugoslawen und Türken in der alten Bundesrepublik. Zumeist war das eine kulturell wenig anspruchsvolle Integration, die weder auf gesellschaftliche Partizipation, noch auf sozialen Aufstieg ausgelegt war. Nichtsdestotrotz haben eine ganze Reihe von Zuwanderern es doch geschafft, sich zu integrieren, wobei das manchen Herkunftsgruppen leichter gefallen ist als anderen. Immer wieder ist es dabei zur gesellschaftlichen »Unterschichtung« gekommen, also einem Festsitzen der Zugewanderten auf den untersten Ebenen der Gesellschaft, aber mit den Jahrzehnten haben sich diese Unterschichtungsstrukturen aufgelöst, und die zweite und dritte Generation der Zugewanderten ist in die Prozesse der gesellschaftlichen Zirkulation eingestiegen. Man kann das, was zunächst eine Beschreibung der sozio-ökonomischen Realität ist, auch als eine Normstruktur beschreiben, die beiden Seiten gerecht werden soll, der aufnehmenden Gesellschaft wie den in sie Eingewanderten: Danach ist die Erwartung, dass die Zugewanderten, sofern sie bleiben, nach einiger Zeit sich und ihre Familie durch eigene Arbeit versorgen und dass sie, wenn sie das tun, alle Möglichkeiten des Aufstiegs haben, ohne dabei durch Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder den Namen benachteiligt zu werden.
Diese beiderseitige Erwartung bringt eine Norm zum Ausdruck, an der sich Gesellschaft und Neuankömmlinge immer wieder messen lassen müssen, und bei der nachgesteuert werden muss, wenn sie diesen Anforderungen nicht genügen. Wo diese Norm zur gesellschaftlichen Normalität wird, entsteht eine Win-Win-Situation, bei der sowohl die Neuankömmlinge als auch die aufnehmende Gesellschaft die Profiteure sind. Dementsprechend sind die einzuleitenden Integrationsprozesse so zu organisieren, dass diese Win-Win-Situation entstehen kann. Wo das der Fall ist, schwinden die Ressentiments, und die Fremdenfeindlichkeit in der aufnehmenden Gesellschaft geht zurück. Wohlgemeint, sie verschwindet nicht, aber sie verliert an politischer Brisanz.
Ist der Umstand, dass die meisten der zuletzt Gekommenen aus einer islamisch geprägten Kultur stammen, ein Hinderungsgrund für erfolgreiche Integration? Das ist zumindest der Haupteinwand gegen die Zuversicht, dass die deutsche Gesellschaft die Herausforderung, mit der sie nun konfrontiert ist, bewältigen wird. Freilich können die Skeptiker keine Alternative im Umgang mit den Flüchtlingen anbieten und verharren in missmutigem Zweifel. Sie trauen unserer Gesellschaft nicht viel zu, und weil sie das nicht eingestehen wollen, suchen sie bei den Neuankömmlingen nach Gründen, warum das Integrationsprojekt dieses Mal nicht klappen werde. Dazu dient der ständige Verweis auf den Islam. Abgesehen davon, dass es »den« Islam nicht gibt, werden viele von denen, die so angesprochen werden, dadurch in eine Identität bzw. Identifikation hineingedrängt, die für sie zunächst gar nicht gegeben ist.
Bleiben wir also bei der sonst üblichen Bezeichnung nach nationaler Herkunft, wie wir selbst das erwarten, wenn wir uns in anderen Ländern befinden, und behandeln wir die Religionszugehörigkeit der Neuankömmlinge zunächst einmal so, wie sie bei uns behandelt wird: als eine private Angelegenheit. Das heißt nicht, dass es unter den Neuen keine Islamisten gäbe, die aus der Religion eine politische Ideologie machen und diese aggressiv zur Geltung bringen wollen. Gegen sie muss der Rechtsstaat entschlossen vorgehen, was er bislang nicht immer oder nur unzulänglich getan hat. Es ist jedoch ein verhängnisvoller Fehler, alle, die aus islamischen Ländern kommen, unter Generalverdacht zu stellen. Derlei blockiert die Integration bzw. macht sie langwieriger und damit teurer, als sie sonst wäre. Zuversicht in die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft ist eine wesentliche Voraussetzung ihrer Selbstbehauptungsfähigkeit. Wer sie fortgesetzt anzweifelt und infrage stellt, trägt tatsächlich zu ihrer Erosion bei. Insofern steht in der gegenwärtigen Debatte mehr infrage als bloß die Integration der Neuankömmlinge. Es geht auch um unser Zutrauen zu uns selbst.