Eine hete­ro­gene Gruppe

Die junge Gene­ra­tion der Juden im heu­ti­gen Deutsch­land bil­det eine in kul­tu­rel­ler sowie sprach­li­cher Hin­sicht aus­ge­spro­chen hetero­gene Gruppe. Die über­wie­gende Zahl der Ver­treter die­ser Gene­ra­tion gehört zu den Ein­wan­de­rern aus der ehe­ma­li­gen Sowjet­union, die zwi­schen den Jah­ren 1991 und 2005 im Rah­men des Kontingentflücht­lingsgesetzes nach Deutsch­land gekom­men sind. Zu­sammen mit den Enkel­kin­dern der über­le­ben­den deut­schen und ost­eu­ro­päi­schen Juden, die sich unmit­tel­bar nach dem Ende des Zwei­ten Welt­kriegs in Deutsch­land nie­der­lie­ßen, bil­de­ten sie noch vor Kur­zem den Kern der jun­gen jüdi­schen Gemein­schaft des gegen­wärtigen Deutsch­lands. Vor eini­gen Jah­ren begann zu­dem der Zuzug von haupt­säch­lich jun­gen Israe­lis in die Bun­des­re­pu­blik. Sie kamen in ers­ter Linie nach Ber­lin, in eine Stadt, die sie mit ihrem inter­na­tio­na­len Flair, der fried­li­chen Koexis­tenz zwi­schen Juden und Musli­men und den guten Bedin­gun­gen für Start-Up-Unter­­neh­men anzog. Außer­dem sind in den letz­ten Jah­ren Deutsch­lands Groß­städte wie Ber­lin, Mün­chen, Frank­furt und Ham­burg zu Magne­ten für jun­ges jüdi­sches inter­na­tio­na­les Publi­kum gewor­den, das aus New York, Los Ange­les, Lon­don oder Bue­nos Aires zum Stu­dium oder als Volon­täre für jüdi­sche Orga­ni­sa­tio­nen nach Deutsch­land zogen. Wäh­rend die ers­ten bei­den Grup­pen per­ma­nent in Deutsch­land zuhause sind, hal­ten sich israe­li­sche und andere inter­na­tio­nale Studieren­de oft nur einige Jahre hier auf und haben sich noch nicht ent­schlos­sen, ob sie blei­ben oder gehen werden.

Seit dem Zuzug jun­ger inter­na­tio­na­ler Juden, die als Ein­wan­de­rer, Stu­die­rende oder junge Künst­ler und Un­ternehmer nach Deutsch­land kamen, ist das jüdi­sche reli­giöse, kul­tu­relle und poli­ti­sche Leben hier­zu­lande viel­fäl­ti­ger gewor­den. Dank des Zuzugs jun­ger Juden konn­ten jüdi­sche reli­giöse Schu­len ver­schie­de­ner Aus­richtungen erst­mals seit dem Ende des Zwei­ten Welt­krieges die Rab­bi­ner­aus­bil­dung anbie­ten. Sowohl jüdi­sche ortho­doxe Grup­pie­run­gen wie die Ronald S. Lau­der Foun­da­tion oder Cha­bad Lubawitsch, als auch das libe­rale Abra­ham Gei­ger Kol­leg und das kon­ser­va­tive Zacha­rias Fran­kel Col­lege bie­ten seit den Nullerjah­ren wie­der eine Rab­bi­ner­aus­bil­dung in Deutsch­land an. An zwei deut­schen Hoch­schu­len, Hoch­schule für Jüdi­sche Stu­dien in Hei­del­berg und an der School of Jewish Theo­logy der Uni­ver­si­tät Pots­dam, amtie­ren inzwi­schen Hoch­schul­rab­bi­ner. Sie bie­ten jüdi­schen Stu­die­ren­den, zu denen inzwi­schen eine zah­len­mä­ßig nicht zu ver­nach­läs­si­gende Gruppe jun­ger konvertier­ter Juden gehört, Hoch­schul­got­tes­dienste an.

Für jüdi­sche Stu­die­rende und Pro­mo­vie­rende bie­tet auch der im Jahr 2013 gegrün­dete Ernst Lud­wig Ehr­lich Stu­di­en­werk eine ein­zig­ar­tige Platt­form für den inhalt­lichen Aus­tausch und die Wei­ter­bil­dung in den Berei­chen der jüdi­schen Geschichte, Lite­ra­tur und Kul­tur im Rah­men der ideel­len Sti­pen­dia­ten­för­de­rung an. Netz­werke jun­ger Juden aus unter­schied­li­chen Herkunfts­ländern ent­ste­hen auch im Rah­men jüdi­scher Studen­tenverbände, die inzwi­schen an nahezu jeder gro­ßen Uni­ver­si­täts­stadt Deutsch­lands exis­tie­ren. Unter­stützt unter ande­rem durch phil­an­thro­pi­sche US-ame­ri­ka­­ni­sche und israe­li­sche jüdi­sche Orga­ni­sa­tio­nen, fei­ern Stu­die­rende und junge Fami­lien an vie­len Orten in Deutsch­land gemein­sam jüdi­sche reli­giöse Feste und neh­men an Film­wo­chen, Semi­na­ren und Kinderpro­grammen mit jüdi­schen The­ma­ti­ken teil.

Eine der Kern­fra­gen, die junge Juden aus Deutsch­land heute in Bezug auf ihre jüdi­sche Iden­ti­tät bewegt, ist die Suche nach der Balance zwi­schen der Vergan­genheit und der Gegen­wart. Obgleich bei den meis­ten eine inten­sive Aus­ein­an­der­set­zung mit der Geschich­te der Ver­fol­gung und Ver­nich­tung der Juden durch die natio­nal­so­zia­lis­ti­schen und sta­li­nis­ti­schen Regime statt­fin­det, über­wiegt bei der jun­gen Gene­ra­tion eine beja­hende Lebens­hal­tung und ein posi­ti­ver Bezug zu Deutsch­land als ihrer per­ma­nen­ten oder tem­po­rä­ren Hei­mat. Der Ver­such, sich von der Ver­gan­gen­heit zu eman­zi­pie­ren, wurde zuletzt im Rah­men des Kongres­ses „Des­in­te­gra­tion“ unter­nom­men, der im Mai 2016 am Ber­li­ner Gorki Thea­ter statt­fand und von jun­gen jüdi­schen Autoren orga­ni­siert wurde.

Die Tat­sa­che, dass junge Juden in Deutsch­land sich nicht im „Schat­ten des Holo­caust“ sehen wol­len, son­dern aktiv ihre eigene Gegen­wart und Zukunft gestal­ten, äußert sich unter ande­rem in ihrem Ver­ständ­nis des Jüdisch-Seins. Wäh­rend eine kleine Gruppe jun­ger Juden ihr Juden­tum als Erfül­lung reli­giö­ser Vorschrif­ten defi­niert, ver­spürt die Mehr­heit eine Ver­bun­den­heit in ers­ter Linie mit jüdi­scher Kul­tur wie Musik, Cui­sine, Kunst, Film und Thea­ter. Dabei wer­den häu­fig traditi­onelle Ele­mente mit moder­nen Ein­flüs­sen ver­mischt, wie etwa ein vege­ta­ri­scher Lebens­stil, der zugleich die reli­giöse Vor­schrift der Tren­nung zwi­schen den mil­chigen und flei­schi­gen Spei­sen sowie Ver­zicht auf ein nicht koscher geschäch­te­tes Fleisch ein­hal­ten lässt.

Eine wach­sende Gruppe jun­ger Juden betrach­tet in­zwischen ihr poli­tisch-gesell­schaft­li­ches Enga­ge­ment als einen zen­tra­len Bestand­teil ihrer jüdi­schen Identi­tät. Die aus der jüdi­schen Reli­gion resul­tie­rende Ver­pflichtung, sich als Jude für eine gerechte und friedli­che Welt ein­zu­set­zen, führt vor dem Hin­ter­grund wach­sender inter­na­tio­na­ler reli­gi­ons­po­li­ti­scher Konflik­te zu einer zuneh­men­den Öff­nung jun­ger jüdi­scher Gemein­schaft gegen­über der Mehr­heits­ge­sell­schaft und ande­ren reli­giö­sen und kul­tu­rel­len Minderhei­ten in Deutsch­land. Ein Bei­spiel dafür ist die 2013 in Ber­lin-Neu­kölln gegrün­dete Salaam-Scha­lom Initiati­ve, die jüdi­sche und mus­li­mi­sche Akti­vis­ten in ihrem Kampf um die gerechte Welt ver­eint und inzwi­schen Able­ger in ande­ren deut­schen Städ­ten hat. Eine wei­tere Platt­form für Begeg­nun­gen zwi­schen jun­gen Ju­den und Mus­li­men bie­tet seit 2012 das Jüdisch-Isla­mi­­sche Forum der Aka­de­mie­pro­gramme des Jüdi­schen Muse­ums Berlin.

Wie für alle ande­ren jun­gen reli­giö­sen und nicht reli­giö­sen Com­mu­ni­ties gilt auch für junge Juden in Deutsch­land am Anfang des 21. Jahr­hun­derts die Be­obachtung, dass immer mehr jüdi­sche Orga­ni­sa­tio­nen und Initia­ti­ven ent­ste­hen, die sich außer­halb der eta­blierten reprä­sen­ta­ti­ven Struk­tu­ren, wie dem Zentral­rat der Juden in Deutsch­land oder der jüdi­schen Gemein­den, veror­ten. Der Wunsch nach unbürokra­tischen Struk­tu­ren, nied­ri­gen Ein- und Aus­tritts­gren­zen und einer nicht zu eng gefass­ten reli­giö­sen und kul­tu­rel­len Zuge­hö­rig­keit der Mit­glie­der führte in den ver­gan­ge­nen Jah­ren zu einer star­ken Aus­dif­fe­ren­zie­rung jüdi­scher bil­dungs-, kul­tur- und poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen. Immer mehr von sol­chen Ver­ei­nen und Initia­ti­ven fun­gie­ren inzwi­schen neben den eta­blier­ten jüdi­schen Orga­ni­sa­tio­nen als gleich­be­rech­tigte Stim­men jüdi­scher Gemein­schaft in Deutsch­land und tra­gen zur wach­sen­den Plu­ra­li­tät und Hete­ro­ge­ni­tät des reli­giö­sen und poli­ti­schen jü­dischen Lebens in Deutsch­land bei.

Neben der sich ver­stär­ken­den Soli­da­ri­tät mit an­deren reli­giö­sen und kul­tu­rel­len Com­mu­ni­ties bleibt die Sorge der jun­gen jüdi­schen Gemein­schaft um den Anti­se­mi­tis­mus in Deutsch­land. Seit der PEGIDA-Be­­we­gung und nach dem Ein­zug der AfD in das zehn­te Lan­des­par­la­ment nach den Ber­lin-Wah­len suchen junge Juden zuneh­mend nach Wegen, ihr Enga­ge­ment für eine demo­kra­ti­sche Welt mit ande­ren reli­giö­sen Gemein­schaf­ten, vor allem mit der Gemein­schaft der Mus­lime in Deutsch­land, zu ver­ei­nen, um gemein­sam gegen Ras­sis­mus, Into­le­ranz und Aus­gren­zung zu agie­ren. Gerade, weil sich ein Teil jun­ger jüdi­scher Com­munities um die Fol­gen des soge­nann­ten „importier­ten Anti­se­mi­tis­mus“ der Flücht­linge aus mus­li­misch gepräg­ten Län­dern heute sorgt, gibt es eine wachsen­de Zahl von Initia­ti­ven, die von jüdi­schen Gemein­den und ande­ren jüdi­schen Initia­ti­ven stam­men. Sie set­zen sich für die Wert­schät­zung und Aner­ken­nung ge­genseitiger his­to­ri­scher Erfah­run­gen und Trau­mata von Gene­ra­tio­nen von Juden und Mus­li­men ein, in­dem sie sich in der Flücht­lings­ar­beit enga­gie­ren. So­mit trägt die junge jüdi­sche Gemein­schaft stark dazu bei, dass eine gemein­same ethi­sche und demokrati­sche Grund­lage ent­steht, die sowohl von verschiede­nen reli­giö­sen Grup­pen als auch von der nicht religiö­sen Gesell­schaft im Rah­men der gewalt­freien Dialog­arbeit getra­gen wird.

Der Text ist zuerst erschie­nen in Kippa, Koscher, Klez­mer? – Dos­sier „Juden­tum und Kul­tur“.

Von |2019-06-17T11:04:02+02:00Januar 18th, 2017|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für Eine hete­ro­gene Gruppe
Alina Gromova ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin für die Akademieprogramme des Jüdischen Museums Berlin.