Alina Gromova 18. Januar 2017 Logo_Initiative_print.png

Eine hete­ro­gene Gruppe

Die junge Generation der Juden im heutigen Deutschland bildet eine in kultureller sowie sprachlicher Hinsicht ausgesprochen hetero­gene Gruppe. Die überwiegende Zahl der Ver­treter dieser Generation gehört zu den Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, die zwischen den Jah­ren 1991 und 2005 im Rahmen des Kontingentflücht­lingsgesetzes nach Deutschland gekommen sind. Zu­sammen mit den Enkelkindern der überlebenden deut­schen und osteuropäischen Juden, die sich unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutsch­land niederließen, bildeten sie noch vor Kurzem den Kern der jungen jüdischen Gemeinschaft des gegen­wärtigen Deutschlands. Vor einigen Jahren begann zu­dem der Zuzug von hauptsächlich jungen Israelis in die Bundesrepublik. Sie kamen in erster Linie nach Berlin, in eine Stadt, die sie mit ihrem internationalen Flair, der friedlichen Koexistenz zwischen Juden und Musli­men und den guten Bedingungen für Start-Up-Unter­nehmen anzog. Außerdem sind in den letzten Jahren Deutschlands Großstädte wie Berlin, München, Frank­furt und Hamburg zu Magneten für junges jüdisches internationales Publikum geworden, das aus New York, Los Angeles, London oder Buenos Aires zum Studium oder als Volontäre für jüdische Organisationen nach Deutschland zogen. Während die ersten beiden Grup­pen permanent in Deutschland zuhause sind, halten sich israelische und andere internationale Studieren­de oft nur einige Jahre hier auf und haben sich noch nicht entschlossen, ob sie bleiben oder gehen werden.

Seit dem Zuzug junger internationaler Juden, die als Einwanderer, Studierende oder junge Künstler und Un­ternehmer nach Deutschland kamen, ist das jüdische religiöse, kulturelle und politische Leben hierzulande vielfältiger geworden. Dank des Zuzugs junger Juden konnten jüdische religiöse Schulen verschiedener Aus­richtungen erstmals seit dem Ende des Zweiten Welt­krieges die Rabbinerausbildung anbieten. Sowohl jüdi­sche orthodoxe Gruppierungen wie die Ronald S. Lau­der Foundation oder Chabad Lubawitsch, als auch das liberale Abraham Geiger Kolleg und das konservative Zacharias Frankel College bieten seit den Nullerjah­ren wieder eine Rabbinerausbildung in Deutschland an. An zwei deutschen Hochschulen, Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg und an der School of Jewish Theology der Universität Potsdam, amtieren inzwischen Hochschulrabbiner. Sie bieten jüdischen Studierenden, zu denen inzwischen eine zahlenmäßig nicht zu vernachlässigende Gruppe junger konvertier­ter Juden gehört, Hochschulgottesdienste an.

Für jüdische Studierende und Promovierende bietet auch der im Jahr 2013 gegründete Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk eine einzigartige Plattform für den inhalt­lichen Austausch und die Weiterbildung in den Berei­chen der jüdischen Geschichte, Literatur und Kultur im Rahmen der ideellen Stipendiatenförderung an. Netz­werke junger Juden aus unterschiedlichen Herkunfts­ländern entstehen auch im Rahmen jüdischer Studen­tenverbände, die inzwischen an nahezu jeder großen Universitätsstadt Deutschlands existieren. Unterstützt unter anderem durch philanthropische US-amerika­nische und israelische jüdische Organisationen, fei­ern Studierende und junge Familien an vielen Orten in Deutschland gemeinsam jüdische religiöse Feste und nehmen an Filmwochen, Seminaren und Kinderpro­grammen mit jüdischen Thematiken teil.

Eine der Kernfragen, die junge Juden aus Deutsch­land heute in Bezug auf ihre jüdische Identität bewegt, ist die Suche nach der Balance zwischen der Vergan­genheit und der Gegenwart. Obgleich bei den meisten eine intensive Auseinandersetzung mit der Geschich­te der Verfolgung und Vernichtung der Juden durch die nationalsozialistischen und stalinistischen Regime stattfindet, überwiegt bei der jungen Generation eine bejahende Lebenshaltung und ein positiver Bezug zu Deutschland als ihrer permanenten oder temporären Heimat. Der Versuch, sich von der Vergangenheit zu emanzipieren, wurde zuletzt im Rahmen des Kongres­ses „Desintegration“ unternommen, der im Mai 2016 am Berliner Gorki Theater stattfand und von jungen jüdischen Autoren organisiert wurde.

Die Tatsache, dass junge Juden in Deutschland sich nicht im „Schatten des Holocaust“ sehen wollen, son­dern aktiv ihre eigene Gegenwart und Zukunft gestal­ten, äußert sich unter anderem in ihrem Verständnis des Jüdisch-Seins. Während eine kleine Gruppe junger Juden ihr Judentum als Erfüllung religiöser Vorschrif­ten definiert, verspürt die Mehrheit eine Verbundenheit in erster Linie mit jüdischer Kultur wie Musik, Cuisine, Kunst, Film und Theater. Dabei werden häufig traditi­onelle Elemente mit modernen Einflüssen vermischt, wie etwa ein vegetarischer Lebensstil, der zugleich die religiöse Vorschrift der Trennung zwischen den mil­chigen und fleischigen Speisen sowie Verzicht auf ein nicht koscher geschächtetes Fleisch einhalten lässt.

Eine wachsende Gruppe junger Juden betrachtet in­zwischen ihr politisch-gesellschaftliches Engagement als einen zentralen Bestandteil ihrer jüdischen Identi­tät. Die aus der jüdischen Religion resultierende Ver­pflichtung, sich als Jude für eine gerechte und friedli­che Welt einzusetzen, führt vor dem Hintergrund wach­sender internationaler religionspolitischer Konflik­te zu einer zunehmenden Öffnung junger jüdischer Gemeinschaft gegenüber der Mehrheitsgesellschaft und anderen religiösen und kulturellen Minderhei­ten in Deutschland. Ein Beispiel dafür ist die 2013 in Berlin-Neukölln gegründete Salaam-Schalom Initiati­ve, die jüdische und muslimische Aktivisten in ihrem Kampf um die gerechte Welt vereint und inzwischen Ableger in anderen deutschen Städten hat. Eine wei­tere Plattform für Begegnungen zwischen jungen Ju­den und Muslimen bietet seit 2012 das Jüdisch-Islami­sche Forum der Akademieprogramme des Jüdischen Museums Berlin.

Wie für alle anderen jungen religiösen und nicht religiösen Communities gilt auch für junge Juden in Deutschland am Anfang des 21. Jahrhunderts die Be­obachtung, dass immer mehr jüdische Organisationen und Initiativen entstehen, die sich außerhalb der eta­blierten repräsentativen Strukturen, wie dem Zentral­rat der Juden in Deutschland oder der jüdischen Gemeinden, veror­ten. Der Wunsch nach unbürokra­tischen Strukturen, niedrigen Ein- und Austrittsgrenzen und einer nicht zu eng gefassten religiösen und kulturellen Zugehörigkeit der Mitglieder führte in den vergangenen Jahren zu einer starken Ausdifferenzierung jüdischer bildungs-, kultur- und politischen Organisationen. Immer mehr von sol­chen Vereinen und Initiativen fungieren inzwischen neben den etablierten jüdischen Organisationen als gleichberechtigte Stimmen jüdischer Gemeinschaft in Deutschland und tragen zur wachsenden Pluralität und Heterogenität des religiösen und politischen jü­dischen Lebens in Deutschland bei.

Neben der sich verstärkenden Solidarität mit an­deren religiösen und kulturellen Communities bleibt die Sorge der jungen jüdischen Gemeinschaft um den Antisemitismus in Deutschland. Seit der PEGIDA-Be­wegung und nach dem Einzug der AfD in das zehn­te Landesparlament nach den Berlin-Wahlen suchen junge Juden zunehmend nach Wegen, ihr Engagement für eine demokratische Welt mit anderen religiösen Gemeinschaften, vor allem mit der Gemeinschaft der Muslime in Deutschland, zu vereinen, um gemeinsam gegen Rassismus, Intoleranz und Ausgrenzung zu agie­ren. Gerade, weil sich ein Teil junger jüdischer Com­munities um die Folgen des sogenannten „importier­ten Antisemitismus“ der Flüchtlinge aus muslimisch geprägten Ländern heute sorgt, gibt es eine wachsen­de Zahl von Initiativen, die von jüdischen Gemeinden und anderen jüdischen Initiativen stammen. Sie set­zen sich für die Wertschätzung und Anerkennung ge­genseitiger historischer Erfahrungen und Traumata von Generationen von Juden und Muslimen ein, in­dem sie sich in der Flüchtlingsarbeit engagieren. So­mit trägt die junge jüdische Gemeinschaft stark dazu bei, dass eine gemeinsame ethische und demokrati­sche Grundlage entsteht, die sowohl von verschiede­nen religiösen Gruppen als auch von der nicht religiö­sen Gesellschaft im Rahmen der gewaltfreien Dialog­arbeit getragen wird.

Der Text ist zuerst erschienen in Kippa, Koscher, Klezmer? – Dossier „Judentum und Kultur“.

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