„On The Same Page“

Unsere Gesell­schaft braucht das freie Wort!

Im Jahr 1948 haben die Ver­ein­ten Natio­nen die All­ge­meine Erklä­rung der Men­schen­rechte ver­kün­det. Damit hat die kurz nach Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges gegrün­dete Orga­ni­sa­tion zur Siche­rung des Frie­dens der eige­nen Charta, die die völ­ker­recht­li­chen Bezie­hun­gen zwi­schen den Staa­ten regelt, ein Doku­ment zur Seite gestellt, das unter der Prä­misse des ers­ten Arti­kels – „Alle Men­schen sind frei und gleich an Würde und Rech­ten gebo­ren“ – die grund­le­gen­den trans­na­tio­na­len Rechte eines jeden ein­zel­nen Men­schen festlegt.

Wie wich­tig demo­kra­ti­sche Staa­ten die Men­schen­rechte neh­men, zeigt sich vor allem darin, dass sie in zahl­rei­chen Ver­fas­sun­gen den – wie es die dies­jäh­rige Frie­dens­preis­trä­ge­rin Aleida Ass­mann aus­drückt – „mora­li­schen Kern“ bil­den, indem sie den ande­ren, das Staats­we­sen defi­nie­ren­den Para­gra­fen vor­an­ge­stellt wer­den. Die UN-Men­schen­rechts­charta, wie die Erklä­rung auch genannt wird, ist aber – denn dar­auf konn­ten sich die dama­li­gen Ver­hand­lungs­part­ner nicht eini­gen – kein rechts­ver­bind­li­cher Ver­trag. Es ist jedoch ein Ver­spre­chen, dem sich in den ver­gan­ge­nen 70 Jah­ren immer mehr Staa­ten ange­schlos­sen haben. Dadurch hat die Charta ihre welt­weite Rele­vanz zwar immer wei­ter aus­bauen kön­nen, ihre Ein­hal­tung muss des­we­gen aber auch immer wie­der ein­ge­for­dert werden.

Auf der Frank­fur­ter Buch­messe 2018 wol­len wir mit der Kam­pa­gne „On The Same Page“ auf die Ver­kün­dung der Men­schen­rechte vor 70 Jah­ren auf­merk­sam machen und daran erin­nern, dass sie welt­weit immer wie­der ver­letzt und miss­ach­tet wer­den. Und selbst in ver­meint­lich freien Gesell­schaf­ten, die sich der Ein­hal­tung der Men­schen­rechte ver­pflich­tet haben, gera­ten sie der­zeit immer wie­der in Gefahr.

Das gilt auch für das Recht auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung, das für uns als Buch­bran­che von beson­de­rer Bedeu­tung ist, bil­det es doch die Grund­lage künst­le­ri­schen und publi­zis­ti­schen Schaf­fens. Mei­nungs­frei­heit ist nicht nur für Autoren, Ver­lage und Buch­hand­lun­gen exis­ten­zi­ell, sie ist für Demo­kra­tien über­haupt unab­ding­bar. Sie garan­tiert Mit­spra­che bei den gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Mei­nungs­bil­dungs­pro­zes­sen und sorgt für die Mög­lich­keit der Teil­nahme an der Dis­kus­sion, wie wir unter­ein­an­der und mit­ein­an­der leben wol­len. Eine freie Demo­kra­tie ist ohne gelebte Mei­nungs­frei­heit nicht denkbar.

Mei­nungs­frei­heit – welt­weit unter Druck
Das Recht auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung wird in wei­ten Tei­len der Welt nicht beach­tet oder ist zumin­dest stark bedroht. In nicht­de­mo­kra­ti­schen Län­dern wie China oder Saudi-Ara­bien kann man sehen, wie gegen Men­schen vor­ge­gan­gen wird, die es wagen, von die­sem Men­schen­recht Gebrauch zu machen. Der chi­ne­si­sche Dis­si­dent und Frie­dens­no­bel­preis­trä­ger Liu Xia­obo, der mit ande­ren Intel­lek­tu­el­len in der Charta 08 mehr Frei­heits­rechte für chi­ne­si­sche Bür­ger gefor­dert hat, ist 2009 zu elf Jah­ren Haft ver­ur­teilt wor­den. Im ver­gan­ge­nen Jahr ist er in Haft ver­stor­ben. Der sau­di­sche Blog­ger Raif Bad­awi hat 2015 die ers­ten 50 der 1.000 Peit­schen­hiebe, zu denen er neben zehn Jah­ren Haft und einer hohen Geld­strafe ver­ur­teilt wurde, nur knapp über­lebt. Er hat in sei­nen Tex­ten das Men­schen­recht auf Reli­gi­ons­frei­heit ein­ge­for­dert. Die Gleich­stel­lung des Islam mit dem Chris­ten­tum, dem Juden­tum und athe­is­ti­schen Ansich­ten hat das Gericht als „Belei­di­gung des Islam“ bewertet.

Sogar in Staa­ten, die sich einem demo­kra­ti­schen Gesell­schafts­sys­tem ver­schrie­ben haben, kommt es zu Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen. In man­chen Fäl­len sind diese so extrem, dass man die Demo­kra­tie­fä­hig­keit des Lan­des hin­ter­fra­gen muss. Unter dem von vie­len als Deck­man­tel bezeich­ne­ten Aus­nah­me­zu­stand ist es dem tür­ki­schen Staats­prä­si­den­ten Recep Tayyip Erdoğan nach einem geschei­ter­ten Putsch­ver­such im Juni 2016 gelun­gen, einen gesell­schaft­li­chen Zustand her­bei­zu­füh­ren, in dem sich kaum noch jemand traut, öffent­lich Kri­tik zu äußern. Tau­sende von Men­schen, die seine Poli­tik nicht unter­stüt­zen, wur­den ver­haf­tet, dar­un­ter viele Kul­tur- und Medi­en­schaf­fende. Die Mei­nungs­frei­heit wurde hier in ihrer Wir­kungs­fä­hig­keit stark beschnit­ten. Wenn man das ver­meint­li­che Wohl des Vol­kes – in die­sem Fall des Staa­tes oder sei­nes höchs­ten Ver­tre­ters – über die Frei­heit und das Recht des Ein­zel­nen stellt, wird aus einer Demo­kra­tie zwangs­läu­fig eine Auto­kra­tie. Die Tür­kei ver­dient die Bezeich­nung Rechts­staat und Demo­kra­tie nicht mehr.

Gerade hier ist unsere Regie­rung gefor­dert, nicht nur in Gesprä­chen und mit Sank­tio­nen das Recht auf Mei­nungs­frei­heit und die wei­te­ren Men­schen­rechte ein­zu­for­dern, son­dern sie – im Auf­trag der Bür­ger, deren trans­na­tio­nale Men­schen­rechte sie gemäß der Ver­fas­sung zu schüt­zen hat – end­lich jus­ti­zia­bel zu machen. Das gilt auch für Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen außer­halb unse­rer Staats­gren­zen und im Beson­de­ren für die­je­ni­gen, die wie inves­ti­ga­tive Jour­na­lis­ten auf Miss­stände auf­merk­sam machen, sei es in der Tür­kei, in Mexiko oder auch inner­halb der Euro­päi­schen Union. Wenn Jour­na­lis­ten wie Ján Kuciak in der Slo­wa­ki­schen Repu­blik oder Daphne Caru­ana Gali­zia in Malta der orga­ni­sier­ten Kri­mi­na­li­tät zum Opfer fal­len, besteht drin­gen­der Handlungsbedarf.

Auch und gerade im digi­ta­len Zeit­al­ter, das die Men­schen auf der Welt mehr und mehr zusam­men­führt und staat­li­che Gren­zen über­win­det, brau­chen wir klare und rechts­ver­bind­li­che Regeln zur Ein­hal­tung der Men­schen­rechte wie Mei­nungs- oder Publi­ka­ti­ons­frei­heit, weil die digi­tale Tech­nik lei­der auch die Mög­lich­kei­ten zur Mani­pu­la­tion von Mei­nungs­bil­dung extrem erhöht hat. Es darf bei­spiels­weise nicht sein, dass Men­schen­rechte igno­riert wer­den, wenn es um die Erschlie­ßung neuer Märkte geht. Das jüngst bekannt gewor­dene Vor­ha­ben von Google, wie­der in China tätig zu wer­den und dafür Such­be­griffe wie Men­schen­rechte oder Mei­nungs­frei­heit ein­fach zu sper­ren und damit die kri­ti­schen Stim­men zu benach­tei­li­gen, ist inak­zep­ta­bel, zumal es keine kon­kur­rie­ren­den Unter­neh­men gibt, die dem ent­ge­gen­wir­ken könnten.

Lei­der lässt sich in die­sem Zusam­men­hang auch fest­stel­len, dass nahezu alle Regie­run­gen welt­weit, die Bun­des­re­gie­rung mit ein­ge­schlos­sen, wirt­schaft­li­chen und geo­stra­te­gi­schen Über­le­gun­gen und Inter­es­sen am Ende des Tages den Vor­zug vor dem Ein­ste­hen für die Frei­heits­rechte der Men­schen geben. Es ist nahezu uner­träg­lich, dass Rüs­tungs­ge­schäfte z. B. mit Saudi-Ara­bien gemacht wer­den, obwohl dort die Frei­heit des Men­schen mit Füßen getre­ten wird. Wie beschä­mend ist es, dass nach der Äuße­rung der kana­di­schen Außen­mi­nis­te­rin Chrys­tia Free­land zu den jüngs­ten Vor­fäl­len in Saudi-Ara­bien sich bis­lang kein ein­zi­ger Staat in die­ser Frage enga­giert hat.

Ein demo­kra­ti­scher Mei­nungs­bil­dungs­pro­zess braucht eine Debattenkultur
Eine freie und demo­kra­ti­sche Gesell­schaft schränkt die Mei­nungs­äu­ße­run­gen ihrer Bür­ger nicht ein. Der Staat muss im Gegen­teil dafür sor­gen, dass jeder Mensch seine Stimme kri­tisch erhe­ben kann. Für bestimmte Grup­pen wie Jour­na­lis­ten und Künst­ler gilt das in ganz beson­de­rem Maße. Nur eine freie und unab­hän­gige Presse garan­tiert Mei­nungs­viel­falt und einen demo­kra­ti­schen Mei­nungs­bil­dungs­pro­zess. Nur die Frei­heit der Kunst gewähr­leis­tet eine krea­tive und viel­schich­tige Aus­ein­an­der­set­zung mit gesell­schaft­lich rele­van­ten The­men. Die Gesell­schaft kann und muss dar­aus ent­ste­hende extreme Stand­punkte nicht nur aus­hal­ten, son­dern sich mit ihnen auseinandersetzen.

Aleida Ass­mann for­dert, dass den Men­schen­rech­ten eine Art von Gesell­schafts­ver­trag zur Seite gestellt wird, mit dem die Men­schen ver­pflich­tet wer­den, die Rechte ande­rer nicht nur zu respek­tie­ren, son­dern auch für sie ein­zu­tre­ten. Das freie Wort nicht nur als Ange­bot, son­dern als Ver­pflich­tung. Das bedeu­tet auch, dass man seine Stimme nicht nur erhe­ben kann, son­dern sogar erhe­ben muss, wenn man der Mei­nung ist, dass gewisse Ent­wick­lun­gen auf der Welt und in unse­rer Gesell­schaft in die fal­sche Rich­tung füh­ren. Gerade darin liegt das Poten­zial einer freien demo­kra­tisch ver­fass­ten Gesellschaft.

Zuge­ge­be­ner­ma­ßen ist dies nicht immer ein­fach. Die gegen­wär­ti­gen gesell­schaft­li­chen Dis­kus­sio­nen sind von einer star­ken Pola­ri­sie­rung gekenn­zeich­net, die es für viele Men­schen pro­ble­ma­tisch macht, sich zu betei­li­gen. Anstelle von Argu­men­ten wer­den Belei­di­gun­gen aus­ge­tauscht, wer am lau­tes­ten schreit, glaubt sich im Recht. Das Selbst­ver­ständ­nis, sich in Dis­kus­sio­nen oder Dis­kur­sen aus­zu­tau­schen und zu über­zeu­gen, ohne dem ande­ren die Mei­nung zu neh­men, ist in vie­len Situa­tio­nen einer Hal­tung des gegen­sei­ti­gen Über­schrei­ens gewi­chen. Hier gegen­zu­steu­ern, diese Not­wen­dig­keit wird mitt­ler­weile von vie­len gese­hen. Der Deut­sche Bun­des­tag hat es sich nach der Bun­des­tags­wahl im ver­gan­ge­nen Jahr bei­spiels­weise zur Pflicht gemacht, dem Popu­lis­mus vor allem mit Sach­lich­keit und der Kraft der Argu­mente zu begeg­nen. Das ent­larvt Pro­pa­ganda und för­dert einen kon­struk­ti­ven Mei­nungs­aus­tausch. Wenn die­ser nicht mehr statt­fin­den kann, stirbt die Mei­nungs­frei­heit und die Demo­kra­tie wird geschwächt. Des­halb brau­chen wir eine neue Debat­ten­kul­tur, die diese Vor­aus­set­zun­gen erfüllt.

Mei­nun­gen, die uns nicht nur fremd, son­dern sogar gefähr­lich erschei­nen, bil­den dabei eine beson­dere Her­aus­for­de­rung. Die Frage nach dem Umgang mit Posi­tio­nen aus den extre­men Rän­dern des poli­ti­schen Spek­trums hat mit der leb­haf­ten Debatte um die Prä­senz rech­ter Ver­lage auf der letz­ten Frank­fur­ter Buch­messe eine für unsere Bran­che neue Dring­lich­keit erreicht.

Die Hal­tung des Bör­sen­ver­eins und der Buch­messe dazu war und ist glas­klar: Die ein­zige Instanz, die in einer demo­kra­ti­schen Gesell­schaft Mei­nungs­äu­ße­run­gen ver­bie­ten darf, ist das unab­hän­gige Gerichts­we­sen. Des­halb dür­fen Ver­lage, Autoren oder Buch­ti­tel, solange sie nicht gegen Gesetze ver­sto­ßen, auf der Buch­messe prä­sent sein.

Das bedeu­tet nicht, dass wir schwei­gen müs­sen, wenn Men­schen diese Platt­form dazu nut­zen, um die Grund­werte unse­rer Gesell­schaft anzu­grei­fen. Im Gegen­teil wol­len bzw. müs­sen wir ihnen die Werte der All­ge­mei­nen Erklä­rung der Men­schen­rechte, für die wir als Demo­kra­ten sowie als Buch- und Medi­en­bran­che ste­hen, ent­ge­gen­hal­ten – Werte wie Frei­heit, Viel­falt und Toleranz.

Und gerade des­we­gen ist es uns mit „On The Same Page“ ein Anlie­gen, das 70-jäh­rige Bestehen der UN-Men­schen­rechts­charta in den Mit­tel­punkt der dies­jäh­ri­gen Frank­fur­ter Buch­messe zu stel­len, dem welt­weit größ­ten Treff­punkt für Men­schen, die Inhalte ver­öf­fent­li­chen und verbreiten.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 5/2018.

Von |2019-06-17T10:22:52+02:00September 4th, 2018|Menschenrechte|Kommentare deaktiviert für

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Alexander Skipis ist Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.