Wir haben alle die glei­chen Schmerzen

Ser­pil Temiz Unvar im Gespräch

Am 19. Februar die­ses Jah­res jährte sich zum fünf­ten Mal der ras­sis­tisch moti­vierte Anschlag in Hanau, bei dem neun Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund ermor­det wur­den. Mit einer jähr­li­chen Ver­an­stal­tung trägt die Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion dazu bei, dass die­ses Ver­bre­chen nicht in Ver­ges­sen­heit gerät. In die­sem Jahr gab es in Zusam­men­ar­beit mit dem Bun­des­ver­band Musik­un­ter­richt einen Wett­be­werb, an dem sich Schu­len betei­li­gen konn­ten, und ein Begeg­nungs­kon­zert der aus­ge­wähl­ten Musik­bei­träge. Ser­pil Temiz Unvar ist die Mut­ter von Fer­hat Unvar, einem der neun Opfer des Anschlags. Im Inter­view spricht sie dar­über, wie sie das Kon­zert erlebt hat und über die von ihr gegrün­dete Bil­dungs­in­itia­tive Fer­hat Unvar.

Bar­bara Haack: Sie haben am 19. Februar den fünf­ten Jah­res­tag des schreck­li­chen Anschlags von Hanau began­gen. Wie haben Sie den Tag ver­bracht, und wie haben Sie ihn erlebt?

Ser­pil Temiz Unvar: Es war ein sehr vol­ler Tag, es ging von mor­gens bis abends. Bun­des­prä­si­dent Stein­meier ist zu uns gekom­men, das hatte ich mir gewünscht. Das brau­chen die jun­gen Men­schen, mit denen ich arbeite: dass sie sicht­bar sind und dass ihre Arbeit geschätzt wird. Wir haben ein gutes Gespräch geführt. Herr Stein­meier hat sich sehr für unsere Arbeit inter­es­siert und viel nach­ge­fragt. Natür­lich war auch die Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­be­auf­tragte Ferda Ata­man dabei und die Anti­ras­sis­mus­be­auf­tragte Reem Ala­bali-Rado­van. Danach gab es eine Trau­er­feier. Ins­ge­samt hat­ten wir viel Auf­merk­sam­keit an die­sem Tag. Das ist für Hanau und für uns wich­tig. Schon, als ich Herrn Stein­meier zum ers­ten Mal gehört habe, habe ich Gefühl und Mensch­lich­keit bei ihm wahrgenommen.

Ich habe gele­sen, dass die Fami­lie eines der Anschlags­op­fer nicht zu der Ver­an­stal­tung gekom­men ist. Ver­ste­hen Sie deren Skepsis?

Ich habe in mei­ner Rede gesagt: Wir sind neun Fami­lien. Für einige Dinge haben wir zusam­men gekämpft, z. B. für den Unter­su­chungs­aus­schuss. Aber im Grunde sind wir ganz unter­schied­li­che Fami­lien, unter­schied­li­che Iden­ti­tä­ten und Ver­gan­gen­hei­ten. Und jeder geht mit sei­nem Trauma anders um. Mein Thema war von Anfang an ein gesell­schaft­li­ches. Ich gehe vol­ler Liebe und Ver­ständ­nis mit mei­ner Trauer um und will dabei nicht alleine bleiben.

Stich­wort Liebe und Ver­ständ­nis: Sie haben neun Monate nach dem Anschlag die Bil­dungs­in­itia­tive Fer­hat Unvar ins Leben geru­fen. Was war der Impuls, und wel­che Ziele ver­fol­gen Sie?

Ich hatte nie dar­über nach­ge­dacht, dass ich selbst eine Initia­tive oder einen Ver­ein grün­den könnte. Aber ich habe nach dem Anschlag wahr­ge­nom­men, wie viele Men­schen hier­her­ge­kom­men sind, Fotos gemacht haben – nicht nur Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker, auch Akti­vis­tin­nen und Akti­vis­ten, Initia­ti­ven, ein­fach viele Men­schen. Aber sie kom­men für sich selbst, und dann las­sen sie uns allein. Kei­ner von denen ist jetzt noch hier. Das hat mich sehr wütend gemacht.

Ich bin Kur­din. Ich weiß, wie wich­tig Bil­dung für junge Men­schen ist. Ich habe gesagt, ich mache selbst etwas, egal, ob ich es schaffe oder nicht. Ich habe an mich selbst geglaubt und die Initia­tive gegrün­det. Zwei Tage nach der Grün­dung kamen ein paar junge Men­schen zu mir, mit einem Brief­um­schlag, in dem 125 Euro waren. Sie haben gesagt: Wir wol­len mit­ma­chen, wir sind dabei. Wir haben uns unge­fähr ein­ein­halb Jahre lang bei mir zu Hause getrof­fen. Viele die­ser jun­gen Men­schen kamen aus dem Freun­des­kreis von Fer­hat. Sie hat­ten selbst so eine große Wut und wuss­ten nicht, in wel­che Kanäle sie diese Wut len­ken soll­ten. Die Bil­dungs­in­itia­tive war dabei auch für sie eine große Hilfe.

Was sind Inhalte und Pro­jekte die­ser Initiative?

Von Anfang an habe ich gesagt: Es geht nicht nur um Ras­sis­mus. Ras­sis­mus ist das wich­tigste Thema, aber es geht auch um andere men­schen­feind­li­che Ideo­lo­gien. Alle men­schen­feind­li­chen Ideo­lo­gien sind gefährlich.

Wir haben im letz­ten Jahr in Hanau eine inter­na­tio­nale Kon­fe­renz orga­ni­siert. Ich bin zuvor zwei Jahre lang gereist und habe viel recher­chiert. Es sind viele Betrof­fene von ras­sis­ti­schen, aber auch z. B. von que­er­feind­li­chen Anschlä­gen zu der Kon­fe­renz gekom­men, die in ihren Län­dern eigene Initia­ti­ven gegrün­det haben. Wir haben alle die glei­chen Schmer­zen. Wir haben auch Exper­tin­nen und Exper­ten ein­ge­la­den, die seit Jah­ren zur Auf­ar­bei­tung von Anschlä­gen, zu Ras­sis­mus und men­schen­feind­li­chen Ideo­lo­gien jeder Art for­schen. Diese inter­na­tio­nale Ver­net­zung ist ein Bau­stein unse­rer Arbeit. Nor­we­gen ist dabei ein Vor­bild für Deutsch­land. Dort weiß man schon, dass die jun­gen Men­schen die Zukunft sind, und die Behör­den set­zen sich mehr für Auf­klä­rung und Prä­ven­tion ein.

Das hat natür­lich, wie alles andere, mit Geld zu tun. Aber ich will auf jeden Fall wei­ter­rei­sen und Men­schen zusam­men­brin­gen. Ich sehe das als eine Auf­gabe, die mir von mei­nem Sohn geblie­ben ist: viele Men­schen zusam­men­zu­brin­gen für Demo­kra­tie und Zusammenhalt.

In Deutsch­land gehen Sie mit der Bil­dungs­in­itia­tive in die Schulen. 

Ja, wir ver­an­stal­ten jähr­lich 80 bis 90 Work­shops in ganz Deutsch­land. Gelei­tet wer­den sie von jun­gen Men­schen, ab 16 bis Mitte 20 Jahre alt – nach einem Peer-to-Peer-Kon­zept. Die jun­gen Leute wer­den natür­lich von Exper­tin­nen und Exper­ten aus­ge­bil­det, sie hos­pi­tie­ren, bevor sie selbst deutsch­land­weit Work­shops durch­füh­ren. Wir empowern sie dadurch, sie bekom­men Selbst­ver­trauen – und sie tun das für die Gesell­schaft. Ich glaube, dass diese jun­gen Men­schen sehr viel erreicht haben. Wir bekom­men sehr gutes Feedback.

Wir arbei­ten jetzt auch an Kon­zep­ten für Grund­schu­len. Man muss früh anfan­gen, aber das ist eine ganz andere päd­ago­gi­sche Arbeit.

Wie finan­zie­ren Sie diese Arbeit?

Lei­der haben wir nicht sehr viel Geld. Wir arbei­ten mit Spen­den und bekom­men För­der­gel­der von der Bun­des­zen­trale für poli­ti­sche Bil­dung und vom Bun­des­pro­gramm „Demo­kra­tie leben“, müs­sen aber immer wie­der neue Anträge stel­len. Wir haben nur wenige Mit­ar­bei­ter. Es ist schwer, Geld zu fin­den, aber wir arbei­ten mit unse­rer gan­zen Kraft daran.

Am 12. Februar haben Sie in Ber­lin das Kon­zert „Ohren auf für Hanau!“, initi­iert von der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion, besucht, waren auch beim Begeg­nungs­abend am Tag zuvor dabei. Wie waren Ihre Eindrücke?

Alle diese Ver­an­stal­tun­gen zum Geden­ken an Hanau waren bis­her sehr gut und wich­tig. In die­sem Jahr war das Thema Musik. Musik ist für mich beson­ders wich­tig. Ich bin Kur­din. Wir erzäh­len der nächs­ten Gene­ra­tion unsere Geschichte, unsere Liebe, unsere Schmer­zen mit Musik. Was die jun­gen Men­schen in die­sem Kon­zert geschafft haben, war unglaub­lich. Ich glaube, ich habe den gan­zen Abend lang geweint. Es waren auch Grund­schul­kin­der dabei. Ein Mäd­chen, etwa acht oder neun Jahre alt, kam hin­ter­her zu mir und sagte: „Ich kenne Sie, ich habe einen Arti­kel über Sie gele­sen.“ Das ist posi­tive Erin­ne­rungs­ar­beit. Und es zeigt, dass wir mit dem, was wir machen, unsere Ziele errei­chen. Ich habe an dem Abend mit fast jedem die­ser jun­gen Men­schen gespro­chen. Ich denke, sie füh­len sich nicht mehr allein.

Die Jugend­li­chen, die dort mit­ge­macht haben, haben dadurch, dass sie sich mit dem Thema beschäf­tig­ten, auch etwas für sich gelernt. 

Ja, mit die­sem Pro­jekt fan­gen viele Schu­len an zu recher­chie­ren, sich damit zu beschäf­ti­gen und zu ler­nen. Kei­ner von denen, die da mit­ge­macht haben, wird ein Ras­sist oder Extre­mist wer­den. Das Pro­gramm soll bitte wei­ter­ge­hen, denn es ist nicht ein­fach nur ein Wett­be­werb. Wir errei­chen viele damit.

Was kann aus Ihrer Sicht Kul­tur, was kann spe­zi­ell Musik für eine Rolle spie­len im Kampf gegen Rassismus?

Musik spielt eine sehr wich­tige Rolle, aber sie kann nega­tiv oder posi­tiv wir­ken. Das muss man beto­nen. In mei­ner Welt ver­mit­telt Musik Mensch­lich­keit, Demo­kra­tie, Zusam­men­halt, Empa­thie. Und Musik kann dort etwas errei­chen, wo Worte nichts errei­chen. Musik kann auch ras­sis­ti­sche Men­schen sen­si­bi­li­sie­ren, wo wir es nicht kön­nen. Deutsch­land muss Musik auch in der Schule erns­ter nehmen.

Auch bei uns in der Bil­dungs­in­itia­tive spielt Musik eine große Rolle. Nach einer Kund­ge­bung am 15. Februar haben wir uns getrof­fen, viele junge Men­schen waren da. Eine Gruppe hat kur­di­sche Musik gespielt, das hat uns zusam­men­ge­bracht. Einige von denen, die dort waren, haben kein Wort ver­stan­den, aber sie haben die Mensch­lich­keit gespürt.

Manch­mal ver­ste­hen Poli­ti­ker nicht, wie wich­tig diese Dinge für junge Men­schen sind. Wir müs­sen das immer wie­der ver­mit­teln. Ent­we­der gewin­nen oder ver­lie­ren wir.

Wenn Sie von „gewin­nen oder ver­lie­ren“ spre­chen: Wie erle­ben Sie aktu­ell die zuneh­mende Feind­lich­keit gegen­über Men­schen mit Migrationsgeschichte?

Das ist ein gro­ßes Pro­blem. Ras­sis­ten wis­sen ja gar nicht, was sie tun. Hass gegen Aus­län­der, Fremde, Migran­tin­nen oder Migran­ten macht blind. Wenn es so wei­ter­geht, spal­tet es die Gesell­schaft. Auch die Poli­tik spal­tet lei­der die Gesell­schaft und för­dert Radi­ka­lis­mus. Aber wir sehen auch, dass es viele junge Men­schen gibt, nicht nur migran­ti­sche junge Men­schen, die sich stär­ker poli­tisch enga­gie­ren, mensch­li­cher, sen­si­bler wer­den und für den Zusam­men­halt, für die Zukunft kämpfen.

Sie sor­gen auch mit Ihrer Arbeit für mehr Zusammenhalt. 

Ich sage das in der letz­ten Zeit öfter: Ja, ein deut­scher Ras­sist hat mei­nen Sohn getö­tet. Aber ich habe nie gesagt, alle Deut­schen sind Ras­sis­ten. So wie es deut­sche Täter, deut­sche Ras­sis­ten, deut­sche Extre­mis­ten gibt, gibt es in der migran­ti­schen Com­mu­nity Extre­mis­ten. Und sol­che Men­schen unter­stüt­zen wir nicht. Im Gegen­teil, wir sind bereit, mit Poli­ti­kern gemein­sam gegen sol­che Men­schen zu kämp­fen, egal, ob Deut­sche oder Migran­ten. Wir sind bereit mitzukämpfen.

Vie­len Dank.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 3/2025.

Von |2025-04-16T14:50:56+02:00April 16th, 2025|Bürgerschaftliches Engagement, Heimat|Kommentare deaktiviert für

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Ser­pil Temiz Unvar im Gespräch

Serpil Temiz Unvar ist die Gründerin der Bildungsinitiative Ferhat Unvar. Barbara Haack ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.