Der Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019 war Anlass für die Initiative kulturelle Integration, in den Folgejahren an das verheerende Attentat zu erinnern. Die Initiative mit ihren insgesamt 28 Mitgliedern, Spitzenverbänden aus wichtigen gesellschaftlichen Bereichen, befasst sich – unter der Moderation des Deutschen Kulturrates – mit der Frage, welchen Beitrag Kultur zur Integration leisten kann. Gemeinsam mit der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus und dem Zentralrat der Juden in Deutschland veranstaltet die Initiative seit 2020 rund um den 9. Oktober einen gemeinsamen Aktionstag. In den Jahren 2020, 2022 und 2023 wurde der Aktionstag in Form eines Wettbewerbs begangen. 2023 war dies ein Poetry-Slam Wettbewerb: „Slammt Tacheles! Poetry-Slam zum jüdischen Leben in Deutschland!“ Ziel des Wettbewerbs war es, die Lebendigkeit und Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland aufzuzeigen und den Zusammenhalt zu stärken. Die preisgekrönten sowie weitere Beiträge wurden jetzt in einer Anthologie veröffentlicht. „Mit der Auslobung des Poetry-Slam-Wettbewerbs haben wir uns (…) noch ein Stückchen weiter hinausgewagt, denn Poetry Slam ist eine besondere Kür: Schließlich gilt es hier, gedichtete, verdichtete Texte und sprachliche Finesse mit einer Performance derselben in Einklang zu bringen“, schreiben die Herausgeber Denise Bretz, Henrik Szántó und Olaf Zimmermann in ihrem Vorwort. Zugleich habe das Format in seiner Unmittelbarkeit auch bei der Jury großen Eindruck gestiftet. Sie habe schwer gerungen, bei der Vielzahl von überzeugenden Beiträgen lediglich zehn Preisträgerinnen und Preisträger auswählen zu dürfen. Zwei Wettbewerbsbeiträge drucken wir hier ab. Weitere finden sich in der Publikation „Slammt Tacheles. Poetry Slam zum jüdischen Leben in Deutschland“, erschienen im Lektora Verlag.
Identitätensalat
Liel Droste
Was Halbes und nichts Ganzes.
Nichts Ganzes, sondern was Halbes.
„Woher kommst du wirklich?“
So wirklich wusste ich das nie.
Um ehrlich zu sein, fühle ich mich wie eine weiße Frau
gefangen im Körper einer Asiatin.
Ich vergesse oft, dass ich das ja bin.
„Ching, Chang, Chong, Chinese im Karton.“
Ach ja. Stimmt. Total vergessen.
Was Halbes und nichts Ganzes.
Nichts Ganzes, sondern was Halbes.
Jüdisches Europa, jüdisches Deutschland, jüdisches Berlin.
Fragen, die sich in meine Seele brennen.
„Wessen Freundin bist du?“
„Wie kannst du jüdisch sein?“
„Aber deine Eltern, sind doch nicht deutsch, oder?“
„Wie hast du denn das Judentum entdeckt?“
Was Halbes und nichts Ganzes.
Nichts Ganzes, sondern was Halbes.
Nein, ich bin keine Vietnamesin, ich bin Deutsche.
Ja, ich wurde in Vietnam geboren, und nein, ich spreche die Sprache nicht.
Und: Ja, ich weiß, das ist sehr schade.
Wie ich das Judentum entdeckt habe?
Grundsätzlich musste ich sehr früh entdecken,
dass ich mich immer und überall rechtfertigen
und erklären muss.
Ich bin müde, weil ich bin …
was Halbes und nichts Ganzes.
Nichts Ganzes, sondern was Halbes.
Wie ich es entdeckt habe?
„Also bist du nicht jüdisch. Deine Mutter ist nicht jüdisch.“
Ah ja, klar. Wie hätte ich das vergessen können. Ist ja ein täglicher Begleiter.
Ich bin nicht wirklich jüdisch – eigentlich überhaupt nicht.
„Du bist nicht jüdisch, höchstens nach Nürnberger Gesetzen. Die Nazis bestimmen nicht mehr, wer Jude ist.“
Wie mit einem Messer stechen die Worte in mein Herz.
Trauern wir also nur um die ermordeten Juden, die es auch wirklich von der richtigen Seite waren?
Was Halbes und nichts Ganzes.
Nichts Ganzes, sondern was Halbes.
Dieses verflixte Vaterjudentum!
Das ist, als spränge man in ein Schwimmbad, aber das Becken ist leer.
Gefolgt von einem schmerzhaften Aufprall der Realität.
Das ist wie der wiederkehrende Mitgliedsbeitrag im Fitnessstudio.
Aber die Karte ist kaputt. Kein Eintritt.
Das ist wie drei hintereinanderliegende Türen, die einem regelmäßig vor der Nase zugeknallt werden.
Dieses verflixte Vaterjudentum!
Jüdisch, nicht jüdisch genug. Asiatisch, nicht asiatisch
genug. Deutsch, deutsch genug.
Aber woher kommst du wirklich?
50 % Ashkenazi. 50 % jüdisch. 50 % asiatisch. 50/50.
Denn ich bin …
was Halbes und nichts Ganzes.
Nichts Ganzes, sondern was Halbes.
2020 – ich will jetzt richtig jüdisch sein.
Das geht nur
mit Giur, Übertritt, Konversion.
Der gefühlt unendlich lange Marathon beginnt. Eine Reise geprägt von Ablehnung, Niederschlägen und trotzdem voller Hoffnung.
Für dich, liebe Jiddischkeit, würde ich alles geben.
2022 – mit zitternden Knien stehe ich vor dem
Rabbinergericht.
Mein Leben würde ich für dich geben, meine geliebte
Jiddischkeit.
Shema Israel, Hashem Elokeinu, Hashem Echad.
Es ist vollbracht. Ich bin Jüdin.
Für immer. Für immer Jüdin,
Jüdin, die sich nie wieder erklären will.
Wenn sie aufsteht, wenn sie sich schlafen legt. Auf dem
Weg, zuhause und auf der Arbeit.
Auch wenn ich …
was Halbes und nichts Ganzes bin.
Ich bin was ganzes Halbes.
Shema Israel, Hashem Elokeinu, Hashem Echad.
Baruch shem kevod malchulto leolam vaed.
Für immer. Für immer Jüdin.
Nie wieder 50/50.
Ich bin 100 % jüdisch, 100 % deutsch, 100 % asiatisch.
Obwohl ich
was Halbes und nichts Ganzes bin,
bin ich nichts Halbes, sondern was Ganzes.
Ich bin was Ganzes.
Dazwischen
Anna Syrkina
Zwischen Familien
Und Zuhausen,
Zwischen Kulturen und vielen Sprachen,
Zwischen Ländern, Identitäten
Bin ich aufgewachsen – dazwischen.
Stets im Inneren die Fragen,
So wenig lag davon im Klaren,
Und keine, die mir Antwort gaben,
Das Hier und Jetzt – bin ich hier richtig?
Karussell im Kopf, im Herzen,
Das, was ich tue, ist es wichtig?
Das, wo ich lebe, bin auch ich das?
An was ich glaube, pass ich hier rein?
Zwischen Traditionen und Postmoderne,
Lautem Techno und Gebeten,
Fotografien ferner Welten
Und mit der Club-Mate auf dem Tisch
Ich sitze hier und denke nach.
Zwischen Wurzeln und Neuerschaffung,
Zwischen Grenzen und Verwandlung,
Zwischen Erinnerungen und Hoffnung,
Was einmal war und vielleicht noch wird …
Zwischen Geschichten meiner Ahnen,
Auf die nur wenige Rücksicht nahmen,
Doch deren tiefe Schätze ich in mir trage,
Und das Für-Immer, zu jeder Zeit.
Zwischen all dem schon Erlebten
Und den unzähligen Momenten,
Zwischen lauten, leisen Träumen
und gesellschaftlichen Normen
Auf vielen Bühnen tanze ich,
Nicht immer einfach,
Meistens schwer.
Und viele, die das nicht verstehen
Und solche Fragen niemals stellen
Und oft verwundert mich ansehen,
Wieso ich mich damit befasse …
Muss ich mich klar für was entscheiden?
Bin ich das eine oder andere?
Kann ich nicht alles gleichzeitig sein?
Zwischen dem, was einmal war, und dem stets
aufs Neue Werdende,
Zwischen dem, was neu geboren, und auch wieder Gehende,
Zwischen dem, an was wir glaubten und auch weiter leben lassen,
Zwischen dem, was uns verbindet und im Zeitgeist mit verblasste …
Kann ich anderes gar nicht tun,
Als meine eigenen Antworten zu finden,
Meine Sehnsucht, mich im Ganzen,
zu verstehen, zu akzeptieren.
Was früher war und uns geprägt und
Heute wie wir Zukunft prägt,
Was mir erzählt und ich erinner,
Und worauf ich mich nun besinne.
Auf all die Worte, die gegeben
Und welche ich mir selber gebe,
Auf all die Wege, die bekannt sind
Und welche ich allein beschreite.
Was ich erlebte und noch will,
Wovon ich träume, häufig still,
Was mich zu der prägt, die ich bin,
Und an Später reichen will.
Hat Zeit gebraucht und braucht noch Zeit,
Doch lass mich nicht davon beirren,
Bin viel mehr Brücke und Transmitter,
im Außen als auch meinem Innern.
Wir sind gemacht aus vielen Schichten,
Sind gemacht aus vielen Geschichten,
Sind gemacht aus unzähligen Erlebnissen
Und zeitlosen Gedächtnissen.
Ich sitze hier und denke nach.
Ich kann nicht eine Antwort finden,
Auch nicht eine Heimat haben.
Ich kann nicht einer Weisheit folgen
Nicht von einer Geschichte stammen.
Manchmal Fluch, doch häufig Segen, schreite ich auf vielen Wegen.
Es steht nichts im Singular.
Ich stehe dazwischen, atme dazwischen, lebe dazwischen.
03.06.2023, Jerusalem
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2024-1/2025.
Der Wettbewerbsbeitrag „Identitätensalat“ stammt von Liel Droste. „Dazwischen“ wurde von Anna Syrkina verfasst.