Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich für die jüdische Gemeinschaft einiges verändert, leider nicht gerade zum Guten. Aber um mit dem Positiven zu beginnen: In der Bundeswehr hat sich an der Solidarität gegenüber Jüdinnen und Juden absolut nichts verändert. Das erlebe ich so, und darüber berichten auch jüdische Militärangehörige.
Das hat natürlich eine positive Auswirkung auf die Arbeit der Jüdischen Militärseelsorge. Dass so erstmals nach rund 100 Jahren und 75 Jahre nach der Shoah wieder jüdische Soldatinnen und Soldaten im Dienste Deutschlands durch Rabbinerinnen und Rabbiner betreut werden, ist für mich ein Schritt hin zur Normalität.
Und genau darin sehe ich als Militärbundesrabbiner auch eine meiner Aufgaben: Brücken zu bauen zwischen der Bundeswehr und der jüdischen Gemeinschaft. Denn nach dem Zivilisationsbruch der Shoah und der Nazi-Diktatur war lange Zeit für viele jüdische Jugendliche die Vorstellung, in einer deutschen Armee zu dienen, alles andere als normal. Doch nun sehen wir bereits die ersten Früchte dieser Annäherung: Während die Leistungen der Militärseelsorge und der Bundeswehr innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zunehmend Anerkennung finden, ist die Jüdische Militärseelsorge seit ihrer Einrichtung vor gut drei Jahren inzwischen integraler Bestandteil der Bundeswehr, und wir sind hoch erfreut über die hervorragende Zusammenarbeit mit unseren Schwesterseelsorgen.
Als Militärbundesrabbiner obliegt mir die religiöse Leitung der Jüdischen Militärseelsorge. Damit bin ich religiöses Oberhaupt der bis zu zehn (derzeit fünf) Militärrabbinerinnen und -rabbiner, die bundesweit ihren Dienst tun und unterschiedlichen Strömungen des Judentums angehören. Sie begleiten jüdische Soldatinnen und Soldaten und ihre Angehörigen im In- und Ausland und ermöglichen ihnen die Religionsausübung. Darüber hinaus unterstützen sie als Seelsorgerinnen und Seelsorger alle Soldatinnen und Soldaten und deren Familien – ganz unabhängig von deren Religionszugehörigkeit.
Darüber hinaus wirken die Militärrabbinerinnen und Militärrabbiner auch am sogenannten Lebenskundlichen Unterricht mit. Das ist kein Religions-, sondern ein Werteunterricht, bei dem es vor allem um die Stärkung des Demokratieverständnisses geht. Er wird in der Regel durch die Militärseelsorgerinnen und Militärseelsorger der Bundeswehr erteilt und ist verpflichtend für alle Soldatinnen und Soldaten. Diesen Unterricht mitzugestalten, ist für uns eine wichtige Aufgabe – sowohl beim Lehrplan als auch in der Lehrtätigkeit.
Die Militärseelsorge ist ein ziviler Organisationsbereich der Bundeswehr, das heißt, dass die Militärrabbinerinnen und -rabbiner wie ihre christlichen Pendants Zivilisten sind. Im religiösen Auftrag sind sie nur gegenüber dem Militärbundesrabbiner weisungsgebunden und insoweit von staatlichen Weisungen unabhängig. Sie sind vor allem nicht in die militärische Befehlskette der Bundeswehr eingebunden. Das ist notwendig, damit sie ihre seelsorgerische Tätigkeit unabhängig und vertrauensvoll ausüben können. Die Militärrabbinerinnen und -rabbiner unterliegen der religiösen Schweigepflicht.
Militärrabbinerinnen und -rabbiner sind eine Chance für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland. Es ist davon auszugehen, dass das Angebot eines Militärrabbinats das Interesse an der Bundeswehr innerhalb der jüdischen Gemeinschaft steigern wird. Neben dem möglichen Freiwilligen Wehrdienst und dem beruflichen Engagement im militärischen oder zivilen Bereich wird auch das Studium an Einrichtungen der Bundeswehr attraktiver. Es ist im Interesse der Gesamtgesellschaft, wenn sich diese in der Zusammensetzung der Bundeswehr in Teilen widerspiegelt und auch Minderheiten verstärkt vertreten sind.
Letzteres gewinnt gerade vor dem Hintergrund des 7. Oktober 2023 eine besondere Bedeutung. Seit dem brutalen Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel verspüre ich auch hierzulande eine hochgradige Unsicherheit. Es ist sehr schwer, mit dieser ambivalenten Situation umzugehen, also trotz dieses Unsicherheitsgefühls erhobenen Hauptes weitergehen zu können. Noch sind wir zuversichtlich und hoffen, diese große Herausforderung bewältigen zu können, auch als deutsche Gesellschaft insgesamt. Jedoch hat sich die Lage auch auf internationaler Ebene verschlechtert, weshalb es von enormer Bedeutung ist, vielleicht sogar mehr als 2021, als ich dieses Amt angetreten habe, dass die Stimme des Judentums und der jüdischen Ethik im Alltag der Bundeswehr und in der Verteidigung Deutschlands hörbar wird.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2024-1/2025.