Wie steht es um das jüdisch-muslimische Verhältnis in Deutschland? Geht es nur nach der Anzahl der Initiativen, scheint der Dialog voll entwickelt: Es gibt den jüdisch-muslimischen Gesprächskreis der Blumenthal-Akademie des Jüdischen Museums Berlin, den jüdisch-muslimischen Thinktank Karov-Qareeb oder das von der Bundesregierung initiierte Projekt Schalom-Aleikum. Auch die Bildungsstätte Anne Frank ist auf diesem Gebiet aktiv: zuletzt im Rahmen der Fokustage „Let’s talk“ im September 2024, mit dem Dialogforum „Sparkle of Hope“ und einem „Blindcast“-Videoformat.
Jüdinnen, Juden, Musliminnen und Muslime in Deutschland sind von spezifischen Diskriminierungsformen betroffen, die oft als gegenseitige Konkurrenz wahrgenommen werden, was wiederum zu Spannungen führt. Hinzu kommt, dass solche Diskussionen häufig von populistischen Kräften instrumentalisiert werden. Der Nahostkonflikt beeinflusst die Beziehungen stark, insbesondere durch soziale Netzwerke wie TikTok, wo antisemitische und antimuslimische Inhalte große Reichweiten erhalten. Die mediale Darstellung beider Gruppen neigt dazu, Vorurteile zu verstärken, indem Musliminnen und Muslime oft mit Fundamentalismus und Terror, Jüdinnen und Juden mit Macht oder Verschwörungen assoziiert werden.
Der 7. Oktober 2023 – der antisemitische Terrorangriff der Hamas auf Israel – stellte eine Zäsur dar. In sozialen Netzwerken, besonders auf Plattformen wie TikTok, verbreiten sich seit dem Angriff und dem darauffolgenden Gaza-Krieg antisemitische Narrative, Verschwörungstheorien und Hassrede in einem beispiellosen Ausmaß. Auch der jüdisch-muslimische Dialog ist leider an vielen Stellen abgerissen.
Für die beiden Communitys in Deutschland sind solche Ereignisse ein doppeltes Problem. Einerseits, weil der Krieg in die lokale Gesellschaft getragen wird. Deutsche Jüdinnen und Juden, Musliminnen und Muslime werden mit den Konfliktparteien identifiziert und dadurch oft in einen vermeintlichen Gegensatz gedrängt. Andererseits erzeugen diese Spannungen ein Klima der Unsicherheit und Angst. Es gibt Berichte darüber, wie gerade junge Menschen verstärkt mit feindlichen Kommentaren oder sogar physischen Angriffen konfrontiert wurden.
Erstaunlich ist, wie selten die Gemeinsamkeiten beider Communitys benannt werden. Beide haben Migrationserfahrungen in die deutsche Gesellschaft eingebracht. Viele Jüdinnen und Juden kamen nach dem Krieg als Überlebende der Shoah oder als Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland (zurück). Musliminnen und Muslime kamen vermehrt ab den 1960er Jahren als „Gastarbeiter“ oder später als Geflüchtete. Angehörige beider Gruppen haben ein erhöhtes Armutsrisiko. Und beide Gruppen teilen die Erfahrung, als Minderheit in der deutschen Gesellschaft Vorurteilen und Diskriminierung ausgesetzt zu sein.
Der Holocaust hat die jüdische Gemeinschaft in Deutschland zutiefst geprägt und stellt einen zentralen Referenzpunkt der Erinnerungs- und Bildungsarbeit dar. Gleichzeitig rücken postkoloniale Perspektiven zunehmend die rassistischen Strukturen in den Fokus, die durch den deutschen Kolonialismus geformt wurden und bis heute Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Muslimen haben. Politische Debatten über Integration, Migration und Sicherheitspolitik verstärken oft Spannungen zwischen den Gruppen. Während Antisemitismus vielfach als gesellschaftliches Problem anerkannt ist, wird antimuslimischer Rassismus oft als weniger dringlich wahrgenommen. Ein kritisches Spannungsfeld entsteht, wenn Erinnerungsdiskurse miteinander konkurrieren, etwa wenn postkoloniale Kritik antisemitische Narrative reproduziert.
Für die jüdische Community in Deutschland ist es ein häufiges Phänomen, pauschal für die Handlungen der israelischen Regierung verantwortlich gemacht zu werden. Sekundärer Antisemitismus äußert sich in der Relativierung oder Leugnung der Shoah („Was ihr heute in Israel macht, ist nicht anders“) oder in Aussagen wie „Die Jüdinnen und Juden profitieren von ihrer Opferrolle“. Umgekehrt sehen sich Vertreter der muslimischen Community rasch als Terror-Apologeten denunziert. Der Konflikt wird in Deutschland symbolisch mit ausgetragen – was durch mediale Stereotypisierung noch verstärkt wird.
Interessanterweise finden sich beide Communitys gleichermaßen mit Stereotypen über Loyalität und Zugehörigkeit konfrontiert: Jüdinnen und Juden werden zu Positionierungen zu Israel genötigt, auch wenn sie keine Beziehung zu dem Land haben. Sie sollen sich eindeutig distanzieren und nicht mit Hinweisen auf die komplexen Realitäten vor Ort irritieren. Musliminnen und Muslimen in Deutschland wird häufig unterstellt, eher anderen Ländern oder Gemeinschaften verpflichtet zu sein als der deutschen Gesellschaft.
Bildung als Schlüssel
Bildung spielt im jüdisch-muslimischen Verhältnis eine Schlüsselrolle, da sie sowohl Spannungen abbauen als auch solidarische Beziehungen fördern kann. Dabei wirkt Bildung auf mehreren Ebenen: als Werkzeug zur Sensibilisierung, zur Dekonstruktion von Vorurteilen und zur Förderung von Empathie und gegenseitigem Verständnis.
Bildungseinrichtungen bieten idealerweise sichere Räume, in denen Jüdinnen und Juden, Musliminnen und Muslime in den Austausch treten können. Projekte wie interreligiöse Workshops oder Begegnungsprogramme betonen Gemeinsamkeiten und eröffnen Perspektiven, die über Stereotype hinausgehen. Die Vermittlung von Wissen über den Holocaust und den Kolonialismus schafft ein Verständnis für die jeweiligen Traumata beider Gruppen. Eine grundsätzliche Multiperspektivität in der Bildungsarbeit muss dabei bedeuten, die Singularität der Shoah zu bewahren und gleichzeitig die Auswirkungen kolonialer Unterdrückung sichtbar zu machen.
Bildungsprogramme müssen darauf setzen, die Mechanismen beider Formen der Diskriminierung zu analysieren und auf Ähnlichkeiten hinzuweisen. Dies hilft, den „Wettbewerb der Opferrollen“ zu überwinden. Dabei muss politische Bildung immer auch als postdigitale Medienbildung gedacht werden: Vertreter beider Communitys müssen für die Verbreitung von Hassrede, Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus sensibilisiert werden und geeignete Werkzeuge zur kritischen Mediennutzung erhalten.
Gerade die sozialen Medien leben davon, die eigene Gruppe als verfolgt und bedrängt darzustellen – und dabei viel zu oft die eigene Identität durch die Abwertung anderer Gruppen zu konstruieren. Hier gilt es, mit Narrativen der gemeinsamen Verantwortung gegenzusteuern: Das Teilen von persönlichen Erfahrungen kann Solidarität fördern. In der Bildungsarbeit der Bildungsstätte Anne Frank erleben wir z. B. immer wieder, wie engagiert das Exil der Familie Frank von jungen Menschen mit Fluchterfahrung rezipiert wird.
In Bezug auf den Gaza-Krieg muss Bildungsarbeit darauf achten, die Anliegen beider Gemeinschaften gleichwertig zu behandeln, um Ressentiments zu vermeiden und Vertrauen aufzubauen. Auf keinen Fall darf der Konflikt auf simple Dichotomien wie „Gut gegen Böse“ reduziert werden, vielmehr gilt es, die komplexen geopolitischen, kulturellen und religiösen Hintergründe aufzuzeigen. Lernräume müssen so gestaltet sein, dass Teilnehmende ihre Emotionen äußern können, ohne andere zu verletzen. Pädagoginnen und Pädagogen sollten darauf vorbereitet sein, kontroverse Diskussionen moderierend zu begleiten, Lösungen und Wege zur Verständigung aufzuzeigen, statt Schuld zu verteilen, und im Auge zu behalten, dass diese prinzipielle Offenheit nicht für die Verbreitung von Hass missbraucht wird.
Der Konflikt sollte in seiner historischen Tiefe behandelt werden, angefangen bei der Kolonialgeschichte, dem britischen Mandat und der Gründung des Staates Israel bis hin zu den aktuellen Entwicklungen. Auch die Vielschichtigkeit des Projekts „Zionismus“ muss behandelt werden – gerade in den Sozialen Medien wird der Begriff inzwischen fast ausschließlich pejorativ gebraucht. Beim Blick auf die Gegenwart können Narrative von Israelis und Palästinenserinnen und Palästinensern, die Frieden und Dialog suchen, helfen. In unserer Erfahrung hat es sich bewährt, die Situation vor allem aus einer menschenrechtlichen Perspektive zu behandeln, um den Fokus auf universelle Werte wie Würde, Freiheit und Gleichheit zu lenken. Das hilft, parteiliche Narrative zu vermeiden, und vielmehr die Frage zu stellen: „Welche Rechte müssen gewahrt werden, um Frieden zu ermöglichen?“
Abschließend lässt sich sagen, dass Bildung im jüdisch-muslimischen Verhältnis nicht nur als Mittel der Wissensvermittlung, sondern vor allem als Werkzeug der sozialen Transformation wirken kann. Sie schafft Räume, in denen Differenzen nicht ignoriert, sondern konstruktiv verhandelt werden, und legt den Fokus auf das Gemeinsame statt auf das Trennende. Besonders wichtig ist, dass Bildungsarbeit Brücken baut – zwischen historischen Erfahrungen, gegenwärtigen Herausforderungen und zukünftigen Perspektiven.
In einer von Polarisierung geprägten Welt muss politische Bildung dazu befähigen, Komplexität auszuhalten und universelle Werte wie Würde, Freiheit und Gleichheit als gemeinsame Grundlage zu stärken. Nur so kann sie dazu beitragen, nicht nur den Dialog, sondern auch die Solidarität zwischen Jüdinnen und Juden, Musliminnen und Muslimen zu fördern und eine plurale Gesellschaft aktiv zu gestalten.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2024-1/2025.