Die meisten Jüdischen Museen in Europa und den USA wurden nach der Schoa gegründet. Sie gingen nicht aus umfänglichen, mit privaten oder öffentlichen Geldern finanzierten Sammlungen hervor, sondern basierten auf dem politischen Willen, die Reste der geraubten und weitgehend zerstörten europäisch-jüdischen Kultur zu sammeln, zu bewahren und zu vermitteln. Aufgrund ihrer erinnerungspolitischen Konstitution treffen Jüdischen Museen in den vergangenen Jahren den zunehmend gereizten Nerv unserer Zeit. Denn sie thematisieren nicht nur die Vergangenheit, sondern auch Fragen der jüdischen Gegenwart. Wie etwa: Wie sprechen wir über Flucht und Migration? Welchen Schutz genießen Minderheiten? Welchen Stellenwert haben Identitäts- und Geschichtspolitik in öffentlichen Debatten? Und last but not least: Wie geht die politische Öffentlichkeit mit antisemitischer oder rassistischer Gewalt um?
Die Erneuerung Jüdischer Museen in Deutschland und Europa
In Anbetracht des Streitwerts, den jedes dieser Themen hat, ist nicht nur die Relevanz Jüdischer Museen in Europa und den USA beträchtlich gewachsen. Auch nimmt ihre Zahl beständig zu. In den vergangenen Jahren wurden etwa in São Paulo und New Orleans neue Jüdische Museen eröffnet, im italienischen Ferrara das Museo Nazionale dell’Ebraismo e della Shoah in Betrieb genommen, im litauischen Dorf Šeduva der Grundstein für ein Lost Shtetl Museum gelegt und in Lissabon ein Wettbewerb für den Bau eines Jüdischen Museums durchgeführt. Auch in Deutschland haben sich die meisten Jüdischen Museen in den vergangenen zehn Jahren substanziell verändert: Das Jüdische Museum Berlin wurde um ein Kindermuseum erweitert; die Dauerausstellung wie auch die Präsentationen im Centrum Judaicum in Berlin, im Jüdischen Museum Rendsburg und im Jüdischen Museum Dorsten wurden neu konzipiert. Darüber hinaus wurden die Jüdischen Museen in Erfurt, Worms und Speyer zum Weltkulturerbe erklärt sowie das Jüdische Museum Frankfurt grundlegend erneuert und um einen – mittlerweile preisgekrönten – Neubau erweitert.
Sind diese positiven Entwicklungen ein Spiegelbild der zunehmenden Relevanz Jüdischer Museen? Inwieweit gehen sie in ihren Ausstellungen und ihrer Bildungsarbeit auf die genannten Fragen ein? Und welche Auswirkungen haben der zunehmende Antisemitismus sowie die Kriege in der Ukraine, in Israel, Gaza und Nahost auf ihre Programme? Über diese und weitere Fragen wird in den nächsten Monaten an dieser Stelle zu diskutieren sein. Den Auftakt zur Reihe macht das älteste Jüdische Museum in kommunaler Trägerschaft der Bundesrepublik Deutschland, das sich in Frankfurt am Main befindet – der einzigen deutschen Stadt, in der Jüdinnen und Juden trotz mittelalterlicher Pogrome und der Schoa beinahe kontinuierlich seit dem 12. Jahrhundert leben.
Das Jüdische Museum Frankfurt
Im Jahr 1980 beschloss die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung, ein Jüdisches Museum als Bestandteil des soeben konzipierten Museumsufers zu gründen. Die Eröffnung durch Bundeskanzler Helmut Kohl erfolgte am 50. Jahrestag der Reichspogromnacht, am 9. November 1988, in einem vormaligen Wohnhaus der Familie Rothschild, dem Rothschild-Palais. Die erste Wechselausstellung stellte einen Bezug zur ideellen Vorgängerinstitution, dem 1922 gegründeten Museum Jüdischer Altertümer, her. Unter dem Titel „Was übrig blieb“ thematisierte sie die Sammlung dieses ersten Jüdischen Museums in Frankfurt, die im Novemberpogrom geraubt und zerstört worden war.
Der Bezug auf diese etwa 18.000 Objekte umfassende Sammlung, deren Wert 8,5 Millionen Reichsmark betragen hatte, war Programm: Gründungsdirektor Georg Heuberger verfolgte in den ersten Jahren mit seinen Sammlungs- und Ausstellungsaktivitäten vor allem das Anliegen, die Pracht der jüdischen Religion, die Errungenschaften des jüdischen Bürgertums sowie die vergessenen Werke jüdischer Künstlerinnen und Künstler zu vermitteln und damit nicht zuletzt das Bewusstsein für den Verlust der deutsch-jüdischen Kultur und ihrer Güter zu schärfen. Sein Nachfolger Raphael Gross rückte hingegen die jüdische Zeitgeschichte ins Zentrum der Museumsarbeit und thematisierte insbesondere die Konflikte zwischen Juden und Nicht-Juden in der Bundesrepublik Deutschland. Mit dieser Verschiebung des zeitlichen Fokus war der Ton der Erneuerung gesetzt, die das Museum schließlich in seinen beiden Häusern, dem Museum Judengasse und dem Rothschild-Palais vollzog: „Masel und Broche“ und „Wir sind jetzt“ heißt die Dauerausstellung in zwei Teilen, mit der das Museum 2016 und 2020 eine zeitgemäße Form der Vermittlung und internationalen Kontextualisierung von 850 Jahren jüdischer Geschichte und Kultur in Frankfurt fand. Das Motto insbesondere des zweiten Teils ist zugleich Programm: Bereits im ersten Raum der Ausstellung im Rothschild-Palais ist eine Kufiya, ein Palästinensertuch, zu sehen, das die Zerwürfnisse innerhalb der jüdischen Gemeinschaft wie auch die Spannungen zwischen Jüdinnen, Juden und der Studentenbewegung infolge des israelisch-palästinensischen Konflikts in den 1970er Jahren symbolisiert.
Die Wiederkehr dieses Konflikts geht in der Gegenwart mit einem gestiegenen Antisemitismus einher, dem das Museum insbesondere mit seiner Bildungs- und Vermittlungsarbeit entgegenzuwirken sucht. Es hält sich dabei nicht nur an Theodor W. Adornos Devise, dass „Erziehung nach Auschwitz“ zur kritischen Selbstreflexion führen müsse. Das Museum baut mit seinem zukunftsgerichteten Mission Statement auch darauf, inmitten zunehmender Konflikte weiterhin diverse gesellschaftliche Gruppen mit Ausstellungen, Gesprächen und experimentellen Formaten für eine persönliche Auseinandersetzung mit der jüdischen Erfahrung von Diskriminierung, Flucht und Gewalt sowie dem Ringen um gesellschaftliche Teilhabe gewinnen zu können.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2024.