Wir brau­chen ein neues Wir-Gefühl

Rede von Reem Ala­bali-Rado­van, MdB, zur Jah­res­ta­gung der Initia­tive kul­tu­relle Integration

An einem Abend im Mai wurde mein Kol­lege Mat­thias Ecke in Dres­den von meh­re­ren Men­schen bru­tal zusam­men­ge­schla­gen. Er wurde so schwer ver­letzt, dass er sofort ope­riert wer­den musste. Die­ser Angriff ist ein trau­ri­ger Höhe­punkt in einer Reihe von Angrif­fen auf Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker. Etwas frü­her waren in Essen zwei Grü­nen-Poli­ti­ker atta­ckiert wor­den. Die Bun­des­tags­prä­si­den­tin Kat­rin Göring-Eckardt wurde nach einem Wahl­kampf­auf­tritt in Bran­den­burg so bedrängt, dass sie das Gelände nicht ver­las­sen konnte. Fran­ziska Gif­fey, die Ber­li­ner Wirt­schafts­se­na­to­rin, wurde kurze Zeit spä­ter mit Farb­beu­teln attackiert.

Es ist eine Reihe von Bedro­hun­gen und kon­kre­ter Gewalt, die uns Sor­gen macht. Die lei­der viele Kom­mu­nal­po­li­ti­ke­rin­nen und -poli­ti­ker und auch viele ehren­amt­lich Enga­gierte ken­nen. Men­schen, die sich in der Flücht­lings­hilfe enga­gie­ren, aber auch Men­schen, die sich im Kul­tur­be­reich engagieren.

Sol­che Angriffe und Anfein­dun­gen gehö­ren beson­ders für Men­schen mit Ein­wan­de­rungs­ge­schichte, für Jüdin­nen und Juden, für Mus­li­min­nen und Mus­lime und die­je­ni­gen, die als sol­che gele­sen wer­den, und für nicht-weiße Men­schen, die sich in der Poli­tik und vor Ort enga­gie­ren, schon lange zum All­tag. Deutsch­land erlebt eine neue Dimen­sion von Gewalt. Von Atta­cken gegen die Demo­kra­tie und die Men­schen, die sie ver­tre­ten. Das kön­nen wir nicht hinnehmen.

Wir müs­sen unsere demo­kra­ti­schen Dis­kurse schüt­zen, wir müs­sen dafür sor­gen, dass Men­schen ihre Mei­nung äußern kön­nen, dass sie im Aus­tausch mit ande­ren Lösun­gen fin­den oder zu Erkennt­nis­sen kom­men, aber natür­lich nie­mals mit Gewalt.

Ich bin gebe­ten wor­den, über Ras­sis­mus und über Anti­se­mi­tis­mus zu spre­chen. Wie wir unsere Demo­kra­tie gegen Hass und Hetze schüt­zen kön­nen. Wie wir unser Land stär­ken kön­nen. Dar­auf habe ich eine Ant­wort, die erst­mal ein­fach klingt, aber die vie­len schwer­fällt: Ja, wir brau­chen unbe­dingt Schutz für Betrof­fene, und ja, wir müs­sen jede Straf­tat ver­fol­gen. Aber wir brau­chen noch etwas dar­über hin­aus: Wir brau­chen mehr Wir. Wir müs­sen unse­ren Zusam­men­halt stär­ken. Wir brau­chen eine Kul­tur der Wert­schät­zung. Und da ist jede und jeder von uns gefor­dert. Alle 85 Mil­lio­nen Men­schen, die in Deutsch­land leben, genauso wie die, die nach Deutsch­land kom­men. Las­sen Sie mich diese Idee ausführen.

Zunächst: Wir brau­chen ein zeit­ge­mä­ßes Ver­ständ­nis von Integration.

Inte­gra­tion wird auch heute oft noch als Bring­schuld betrach­tet. Ein­ge­wan­derte oder Geflüch­tete sol­len sich inte­grie­ren– und zwar in die Kul­tur, in unse­ren Arbeits­markt, unsere Gesell­schaft. Und ich finde – das mag kon­tro­vers klin­gen – das ist ein fal­sches Inte­gra­ti­ons-Ver­ständ­nis. Inte­gra­tion ist aus mei­ner Sicht eine Auf­gabe für uns alle. Für Ein­ge­wan­derte und Ein­hei­mi­sche. Für die Poli­tik genauso wie die Gesell­schaft. Für jeden Ein­zel­nen. Deutsch­land ist ein Ein­wan­de­rungs­land. Zurecht gehört die­ser Satz zu den 15 The­sen der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion. Und damit es mit unse­rem Zusam­men­halt klappt, damit wir gut zusam­men­le­ben, mit­ein­an­der arbei­ten, zusam­men­kom­men, müs­sen wir das alle ver­in­ner­li­chen. Wir alle müs­sen auch danach han­deln. Des­we­gen brau­chen wir ein neues, ein gemein­sa­mes Ver­ständ­nis von dem Begriff. Was heißt das eigent­lich? Inte­gra­tion? Jeder inter­pre­tiert das für sich anders.

Ich denke, Inte­gra­tion bedeu­tet nicht: Wir erwar­ten, dass ein Teil in einem gro­ßen Gan­zen auf­geht. Dass sich etwas Neues etwas Eta­blier­tem anpasst. Das ist eigent­lich Assi­mi­la­tion. Um die­ses fal­sche Ver­ständ­nis von Inte­gra­tion gar nicht erst auf­kom­men zu las­sen, wird in Unter­neh­men heute oft lie­ber von Inklu­sion gespro­chen, oder auch eng­lisch „inclu­sion“. Das bedeu­tet, man schafft ein Umfeld, das Men­schen glei­che Chan­cen gibt. Das sie auf­nimmt. Den Rah­men dafür setzt seit 75 Jah­ren unser Grundgesetz.

Ich finde, die­ses Kon­zept passt viel bes­ser zu dem, was ich mir als Inte­gra­tion wün­sche. Ein Auf­neh­men von Anfang an. Und daher müs­sen wir von Anfang an dafür Sorge tra­gen, dass vor allem in der Bil­dung und der Schnitt­stelle Kul­tur Räume und Zeit dafür geschaf­fen wer­den. Wir dür­fen nicht ver­ges­sen, dass kul­tu­relle Inte­gra­tion nicht funk­tio­nie­ren kann, wenn man öko­no­mi­sche, soziale und poli­ti­sche Inte­gra­tion nicht mitberücksichtigt.

Inte­gra­tion, das bedeu­tet, offen gegen­über Neuem zu sein. Das bedeu­tet, Viel­falt zu schät­zen und zu schüt­zen. Im Kul­tur­be­reich, in der Schule, in der Aus­bil­dung, in der Frei­zeit. Es bedeu­tet, Chan­cen zu schaf­fen. Durch Zugänge zu Bil­dung, zum Arbeits­markt, zu Kul­tur. Und dafür brau­chen wir zum einen die Öff­nung der Ange­bote, aber auch die ent­spre­chende Ausstattung.

Inte­gra­tion bedeu­tet aber auch, dass wir uns Hass und Rechts­extre­mis­mus ent­ge­gen­stel­len. Und das bringt mich zu mei­nem zwei­ten Punkt:

Ras­sis­mus und Anti­se­mi­tis­mus müs­sen här­ter und ent­schie­de­ner bekämpft werden.

Jede Form von grup­pen­be­zo­ge­ner Men­schen­feind­lich­keit und Ideo­lo­gien der Ungleich­wer­tig­keit gefähr­det unsere Demo­kra­tie. Doch Hass und Hetze machen sich wie­der breit auf unse­ren Stra­ßen. Ange­fan­gen bei den Aus­wir­kun­gen des Nah­ost­kon­flikts bis hin zu den Ver­trei­bungs­plä­nen der soge­nann­ten Rechts­front, die Cor­rec­tiv Anfang des Jah­res ent­hüllt hat.

Seit dem 7. Okto­ber, dem Tag des bru­ta­len Angriffs der Hamas auf israe­li­sche Frauen, Kin­der und Män­ner steigt die Zahl der anti­se­mi­ti­schen und der anti­mus­li­mi­schen Über­griffe in Deutsch­land dras­tisch an. Das dür­fen wir nicht hin­neh­men. Anti­se­mi­tis­mus zeigt sich in den ver­schie­dens­ten Milieus. Bei isla­mis­ti­schen Demons­tra­tio­nen und bei Links­extre­men, bei Rechts­extre­men und aber auch – und das ist mir wich­tig immer wie­der zu beto­nen – in der soge­nann­ten Mitte der Gesellschaft.

Die Angriffe, die Gewalt und die Pro­pa­ganda machen klar: Unser „Nie wie­der!“ ist keine his­to­ri­sche Mah­nung. Es ist höchst aktu­ell. Nie wie­der, die­ses Pos­tu­lat resul­tiert aus dem Ver­bre­chen der Shoah und dem NS-Ras­sen­wahn. „Nie wie­der!“ bedeu­tet: die Ver­ant­wor­tung, Ideo­lo­gien der Ungleich­wer­tig­keit zu erken­nen und kon­se­quent zu bekämp­fen, das gilt für Anti­se­mi­tis­mus genauso wie für Ras­sis­mus. „Nie wie­der!“ bedeu­tet, dass wir unsere Demo­kra­tien wach­sam und resi­li­ent hal­ten müs­sen. Es bedeu­tet, wir haben ver­stan­den, dass Men­schen­rechte unver­han­del­bar sind. Dass das Schutz­ver­spre­chen des Staa­tes für alle Men­schen gel­ten muss. Doch die Ereig­nisse der letz­ten Monate las­sen häu­fig daran zwei­feln, ob die­ses Ver­ständ­nis auch alle erreicht.

Machen wir nicht den Feh­ler, Betrof­fene gegen­ein­an­der aus­zu­spie­len. Das Enga­ge­ment gegen Anti­se­mi­tis­mus muss mit einer unbe­ding­ten Äch­tung von Ras­sis­mus ein­her­ge­hen – und umge­kehrt. Wir erle­ben aktu­ell sehr viel über­mensch­li­chen Schmerz und Trauer. Las­sen Sie uns gemein­sam dafür sor­gen, dass diese Grä­ben eines Tages wie­der schma­ler und womög­lich über­wun­den wer­den können.

Die Erfah­rung der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gewalt­herr­schaft und ihrer ras­sis­ti­schen Ideo­lo­gie ver­pflich­tet uns zu einem Schutz aller Men­schen. Da gibt es kein Miss­ver­ständ­nis: Ras­sis­mus und Anti­se­mi­tis­mus sind keine Phä­no­mene, die nur am Rand der Gesell­schaft vor­kom­men. Des­we­gen müs­sen wir ler­nen zu benen­nen, was Men­schen aus­grenzt oder dis­kri­mi­niert. Wel­che Hand­lun­gen es sind, wel­che Aus­sa­gen, wel­che Struk­tu­ren dem zugrunde liegen.

Auch dafür steht mein Amt, auch dafür ste­hen die Pro­jekte, die ich för­dere: dass Betrof­fene von Ras­sis­mus über ihre Rechte und Hand­lungs­mög­lich­kei­ten bera­ten wer­den, dass wir sys­te­ma­tisch doku­men­tie­ren, wie Ras­sis­mus wirkt, dass wir Emp­feh­lun­gen ent­wi­ckeln, wie Ras­sis­mus bekämpft wird. Und auch, dass kom­mu­nale Ent­schei­dungs­trä­ge­rin­nen und Ent­schei­dungs­trä­ger bei ihrer Auf­gabe unter­stützt wer­den, dass sie Alli­an­zen schmie­den und ihre Rechte kennen.

Wir müs­sen auch hier der Wahr­heit ins Gesicht bli­cken: Wir haben einen wei­ten Weg vor uns. Gerade fra­gen sich viele Men­schen mit Ein­wan­de­rungs­ge­schichte, viele Mus­li­min­nen und Mus­lime, viele Jüdin­nen und Juden ob sie hier noch eine Zukunft haben. Das ist auch ein Ergeb­nis jah­re­lan­ger Ver­harm­lo­sung von Rechts­extre­mis­mus. Eines jah­re­lang unwi­der­spro­che­nen Ras­sis­mus, der häu­fig kul­tu­rell begrün­det wird. Der Men­schen als „unin­te­grier­bar“ dar­stellt. Der viel zu lange nicht die not­wen­dige Äch­tung erfuhr. Aber wer behaup­tet, es gäbe ganze Grup­pen von Men­schen, die bes­ser nicht Teil unse­res Lan­des wären, der scha­det uns allen. Das schafft ein Klima, in dem Rechts­extreme sich immer offe­ner trauen, ihre Feind­lich­keit zu ver­brei­ten. Das kön­nen wir nicht zulas­sen. Und dem müs­sen wir uns alle gemein­sam ent­ge­gen­stel­len. Das bringt mich zu mei­ner drit­ten und letz­ten These:

Wir brau­chen ein neues deut­sches Wir-Gefühl.

Wir – das sind alle Men­schen, die in Deutsch­land leben. Das ist unsere viel­fäl­tige Gesell­schaft. Die unter­schied­li­chen Talente, Geschich­ten und Erfah­run­gen, die in unse­rem Land zusam­men­kom­men. Das ist, was uns stark macht.

Wir, das sind die, die seit Gene­ra­tio­nen hier leben, genau so wie die, die dazu kom­men, vor zwan­zig Jah­ren oder ges­tern. Immer schon präg­ten Men­schen mit Ein­wan­de­rungs­ge­schichte unser Land. Sie sind längst ein selbst­ver­ständ­li­cher Teil unse­rer Gesell­schaft, unse­rer Schul­klas­sen, unse­rer Ver­eine, bei der Arbeit aber auch in der Poli­tik. Die anste­hen­den Wah­len in Europa und in Deutsch­land wer­den auch von unse­rer Ein­wan­de­rungs­ge­schichte geprägt. Denn bis zu 17 Pro­zent der Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler in Deutsch­land haben mitt­ler­weile eine Migrationsgeschichte.

Hören wir also auf, in „Die“ und „Wir“ zu unter­tei­len. Wir sind wir. Fül­len wir diese Idee mit Leben. Schaf­fen wir gemein­sam ein neues deut­sches Wir Gefühl. Und natür­lich sind wir alle unter­schied­lich, doch wir haben ein Fun­da­ment, das alle respek­tie­ren und leben müs­sen: Unser Fun­da­ment ist das Grund­ge­setz und unsere frei­heit­li­che demo­kra­ti­sche Grund­ord­nung. Dar­auf sind wir alle verpflichtet.

Ein neues deut­sches WIR weiß, dass der Zufall des Geburts­orts nie­man­den zu bes­se­ren oder schlech­te­ren Deut­schen macht. Dass es keine Deut­schen zwei­ter und ers­ter Klasse gibt. Dass es Deutsch­sein nicht auf Wider­ruf gibt. Unser Deutsch­sein ist inte­gra­tiv, nicht exklu­siv, ein­ge­bür­gert genauso gut wie ein­ge­bo­ren, mit Ver­trauen inein­an­der und Offen­heit für­ein­an­der. Es führt zusam­men. Es eröff­net allen die Chance auf ein selbst­be­stimm­tes Leben mit fai­rer Teil­habe. Deutsch ist, wer sich dazu­ge­hö­rig fühlt, wer sich ein­bringt in unse­rem Land, wer seine Poten­ziale ent­fal­ten will, für andere da ist und unse­ren Zusam­men­halt stärkt. Las­sen Sie uns gemein­sam die­ses neue deut­sche Wir-Gefühl stärken.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 06/2024.

Von |2024-06-06T14:23:55+02:00Mai 31st, 2024|Grundgesetz|Kommentare deaktiviert für

Wir brau­chen ein neues Wir-Gefühl

Rede von Reem Ala­bali-Rado­van, MdB, zur Jah­res­ta­gung der Initia­tive kul­tu­relle Integration

Reem Alabali-Radovan ist Staatsministerin beim Bundeskanzler und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Am 23. Februar 2022 wurde sie zudem vom Bundeskabinett zur Beauftragten der Bundesregierung für Antirassismus berufen.