Demo­kra­ti­scher Dreiklang

Rede von Leo­nie Gebers zur Jah­res­ta­gung der Initia­tive kul­tu­relle Integration

„Grün­dungs­ju­bi­läen fei­ern wir, weil in der Ver­gan­gen­heit etwas grund­ge­legt wurde, was sich als trag­fä­hig und halt­bar erwie­sen hat.“ So hat es erst kürz­lich Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­meier for­mu­liert und mit Blick auf das wich­tigste deut­sche Jubi­läum die­ses Jah­res hin­zu­ge­fügt: „75 Jahre Grund­ge­setz. Da sind zunächst die Freude und der Dank, dass uns die­ses Grund­ge­setz über so viele Jahre dabei gehol­fen hat, ein frei­heit­li­ches, demo­kra­ti­sches und seit fast 35 Jah­ren (…) auch ein ver­ei­nig­tes Land zu wer­den und zu blei­ben.“ Gleich­zei­tig aber, so mahnt uns der Bun­des­prä­si­dent ein­dring­lich, gelte es, auch die Gegen­wart, die aktu­el­len Her­aus­for­de­run­gen an unser Gemein­we­sen, die Gefähr­dun­gen unse­rer Demo­kra­tie und unse­res Zusam­men­le­bens ent­schie­den und genau ins Auge zu fas­sen. Das Jubi­lä­ums­jahr 2024 ist des­halb nicht nur ein Jahr der Rück­schau, son­dern muss zugleich eine Auf­for­de­rung sein, mehr denn je für Demo­kra­tie ein­zu­tre­ten, in Zei­ten, in denen sie von ver­schie­de­nen Sei­ten bedroht wird.

Das Thema der 6. Jah­res­ta­gung der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion greift diese Mah­nung kon­struk­tiv auf: „Demo­kra­tie sichern“, das ist sicher­lich nicht nur für mich Aus­druck einer tief emp­fun­de­nen Sorge, einer Gefahr, die wir sehr real erfah­ren und der wir uns gemein­sam ent­ge­gen­stel­len wol­len: Wir sind besorgt, weil wir welt­weit und auch in Europa beob­ach­ten müs­sen, dass die Ver­äch­ter von Frei­heit und Gleich­heit, die auf die Zer­stö­rung der demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen und die Eta­blie­rung einer auto­ri­tä­ren Herr­schaft zie­len, an Zuspruch gewinnen.

Und wir sind besorgt, weil wir auch in unse­rem Land erle­ben müs­sen, dass Ras­sis­ten mit dump­fen Vor­ur­tei­len und ihrem Hass Ängste schü­ren und die poli­ti­sche Kul­tur ver­gif­ten, dass Natio­na­lis­ten Migran­tin­nen und Migran­ten zu Fein­den erklä­ren, die des Lan­des ver­wie­sen wer­den müss­ten, und dass Extre­mis­ten Aus­gren­zung und Gewalt zum Mit­tel und Ziel ihrer men­schen­ver­ach­ten­den Ideo­lo­gien machen.

Der bru­tale Angriff auf Mat­thias Ecke in Dres­den ist dabei lei­der nur ein wei­te­res ent­setz­li­ches Bei­spiel, das auf­zeigt, dass ver­bale Ver­ro­hung und radi­kale Hetze mit bit­te­rer Kon­se­quenz gewalt­tä­tige Atta­cken nach sich zie­hen. Über­all in unse­rem Land wer­den Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker, Amts­trä­ge­rin­nen und Amts­trä­ger genauso wie Wahl­kampf­hel­fe­rin­nen und Wahl­kampf­hel­fer ange­fein­det, ein­ge­schüch­tert, belei­digt, bedroht und immer wie­der auch tät­lich ange­grif­fen. Jede die­ser Taten trifft unsere Demo­kra­tie ins Herz, jeder Angriff muss uns aber auch auf­ru­fen, vor allem den Brand­stif­tern von rechts ent­schlos­sen und mit kla­rer Kante entgegenzutreten.

„Zusam­men­halt in Viel­falt leben“: Das ist der zweite Teil im Titel der dies­jäh­ri­gen Tagung, der uns den Weg aus die­ser Spi­rale der Dis­kri­mi­nie­rung und Demo­kra­tie­feind­lich­keit weist. Und genau hier sehe ich die Bot­schaft ver­or­tet, die These 14 als einer der 15 Grund­steine der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion so klar for­mu­liert: „Erwerbs­ar­beit ist wich­tig für Teil­habe, Iden­ti­fi­ka­tion und sozia­len Zusammenhalt“.

Diese These ist und bleibt hoch­ak­tu­ell, weil sie immer auch als dring­li­cher Auf­trag ver­stan­den wer­den muss, der Poli­tik und Gesell­schaft glei­cher­ma­ßen her­aus­for­dert und zur Gestal­tung auf­ruft. Viel zu lange wurde dar­über dis­ku­tiert, ob wir über­haupt ein Ein­wan­de­rungs­land sind – oder bes­ser: sein wol­len. So, als sei Migra­tion eine Frage, die man mit „ja“ oder „nein“ beant­wor­ten könne. Oder Huma­ni­tät eine Option, die wir nur dann zie­hen wol­len, wenn sie unse­ren Inter­es­sen dient. Natür­lich sind wir ein Ein­wan­de­rungs­land. Aber wir wol­len auch ein gutes, ein moder­nes, ein erfolg­rei­ches Ein­wan­de­rungs­land sein. Ein Land, das auf Fair­ness, Respekt und Inte­gra­tion setzt. Und ein Land, das Migra­tion auch als Chance sieht.

Arbeit ist ein Inte­gra­ti­ons­mo­tor. Arbeit hat einen Wert für gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt, aber auch – und vor allem – einen Wert für jeden Men­schen, der arbei­tet, um von die­ser Arbeit selbst­be­stimmt leben zu kön­nen. Arbeit heißt nicht nur Ein­kom­men. Arbeit bedeu­tet soziale Aner­ken­nung, Wert­schät­zung und Selbst­wert­ge­fühl. Das ist es, was These 14 für mich in prä­gnan­ter Form zum Aus­druck bringt.

Der Fach­kräf­te­man­gel in Deutsch­land ist heute längst ein Thema, das nicht nur in der Poli­tik oder den Per­so­nal­ab­tei­lun­gen der Unter­neh­men eine zen­trale Rolle spielt. Denn wir spü­ren seine Fol­gen über­all, auch im All­tag: Es feh­len Fach- und Arbeits­kräfte – zum Bei­spiel in der Pflege, im Hand­werk, in Hotels und Restau­rants. Neben der Hebung der inlän­di­schen Poten­ziale, ist Fach­kräf­te­ein­wan­de­rung eine wei­tere Stell­schraube, um die­sem Man­gel zu begeg­nen: Wir brau­chen Arbeits- und Fach­kräfte aus dem Ausland.

Unter­schied­li­che bio­gra­fi­sche Erfah­run­gen und regio­nale Tra­di­tio­nen prä­gen Deutsch­land von jeher. Viel­falt ist daher nicht nur eine Vor­aus­set­zung für wirt­schaft­li­che Stärke, son­dern auch ein kul­tu­rel­les Gut unse­res Lan­des. Im Wett­be­werb um Fach­kräfte wer­den wir aber nur dann gut auf­ge­stellt sein, wenn wir Men­schen, die zu uns kom­men, in einer offe­nen, und das heißt immer auch demo­kra­ti­schen Gesell­schaft will­kom­men hei­ßen. Und wir wol­len, dass sie auf dem deut­schen Arbeits­markt durch­star­ten kön­nen. Des­halb gehört unser neues Fach­kräf­te­ein­wan­de­rungs­ge­setz zu den moderns­ten in Europa.

Wir wol­len Men­schen, die nach Deutsch­land geflüch­tet sind, die einen Schutz­sta­tus und eine Blei­be­per­spek­tive haben, schnell und mit der not­wen­di­gen Unter­stüt­zung auch eine beruf­li­che Per­spek­tive geben. Das ist kein Selbst­läu­fer: Wir brau­chen dafür ver­stärkte Anstren­gun­gen und eine inten­si­vere Beglei­tung durch Job­cen­ter und Agen­tu­ren für Arbeit. Wir brau­chen Unter­neh­men, die bereit sind, Geflüch­tete ver­stärkt auch ohne gute oder sehr gute Deutsch­kennt­nisse zu beschäf­ti­gen und berufs­be­glei­tend weiterzuqualifizieren.

Dafür haben wir den Job-Turbo gestar­tet, mit dem wir der­zeit alle Hebel in Bewe­gung set­zen, um Geflüch­tete ver­stärkt in Arbeit zu brin­gen. Wer nach einer Phase des Ankom­mens und der Ori­en­tie­rung einen Inte­gra­ti­ons­kurs absol­viert und grund­stän­dige Deutsch­kennt­nisse erwor­ben hat, soll so schnell wie mög­lich Arbeits­er­fah­rung sam­meln kön­nen, weil wir auf diese Weise Lang­zeit­ar­beits­lo­sig­keit ver­mei­den kön­nen – und auch, weil viele Geflüch­tete nach mehr als einem Jahr in unse­rem Land end­lich auf eige­nen Bei­nen ste­hen und ihre Fähig­kei­ten bewei­sen wollen.

Auch im Ver­gleich mit unse­ren euro­päi­schen Nach­barn beschrei­ten wir mit dem Job-Turbo einen inno­va­ti­ven Weg, der Balance hält zwi­schen der Idee des „work first“ und dem bewähr­ten Pfad einer nach­hal­ti­gen Inte­gra­tion in Arbeit. Wir sehen diese bei­den Ansätze nicht in einem Wider­spruch, son­dern ver­bin­den sie effek­tiv: Ziel des Job-Tur­bos ist die schnelle und nach­hal­tige Inte­gra­tion. Dazu gehört, dass Job­cen­ter und Arbeits­agen­tu­ren auch nach der Arbeits­auf­nahme durch Ange­bote zu Qua­li­fi­zie­rung und berufs­be­glei­ten­dem Sprach­er­werb wei­ter unter­stüt­zen. Hier­bei hel­fen auch die ver­bes­ser­ten För­der­mög­lich­kei­ten für Beschäf­tigte, die seit die­sem Jahr in Kraft sind. Spe­zi­ell dafür hat das Bun­des­amt für Migra­tion und Flücht­linge einen neuen Berufs­sprach­kurs ent­wi­ckelt. Mit dem Job-BSK ler­nen die Teil­neh­men­den direkt im Betrieb, in klei­nen Grup­pen, aus­ge­rich­tet an den kon­kre­ten sprach­li­chen Anfor­de­run­gen des Arbeits­plat­zes, fle­xi­bel und so indi­vi­du­ell wie mög­lich. Auch das ist ein Novum, ein Ange­bot, das selbst in klas­si­schen Ein­wan­de­rungs­län­dern sel­ten zu fin­den ist.

Breite Unter­stüt­zung erhält der Job-Turbo schon seit sei­nem Start durch Sozi­al­part­ner und Unter­neh­men. Von Beginn an haben wir die Spit­zen­ver­bände der Wirt­schaft, Gewerk­schaf­ten, Unter­neh­men und die kom­mu­na­len Spit­zen­ver­bände mit ins Boot geholt. Wir unter­stüt­zen mit Kam­pa­gnen über Social Media, der Son­der­be­auf­tragte Daniel Ter­zen­bach wirbt bei vie­len Unter­neh­men, und in einem gemein­sa­men Schrei­ben mit dem ukrai­ni­schen Bot­schaf­ter haben wir uns auch direkt an alle Geflüch­te­ten aus der Ukraine gewandt. Das alles zeigt Wir­kung: Geflüch­tete kom­men im Ver­gleich zum Vor­jahr häu­fi­ger aus der Arbeits­lo­sig­keit in Beschäf­ti­gung, und das, obwohl sich die wirt­schaft­li­che Lage ein­ge­trübt hat. Wei­tere Trends sind erkenn­bar: Zuneh­mend öff­nen sich Arbeit­ge­ber für Geflüch­tete auch mit gerin­ge­ren Deutsch­kennt­nis­sen. So hat sich die Zahl der bei der BA gemel­de­ten Stel­len, die für eine Beset­zung durch Zuwan­de­rer geeig­net sind, inner­halb von drei Mona­ten bis Februar 2024 fast ver­dop­pelt. Groß­un­ter­neh­men wie z. B. die Deut­sche Bahn, Rewe, DHL sind öffent­lich sicht­bar aktiv. Aber auch viele klei­nere und mit­tel­stän­dige Unter­neh­men leis­ten ihren Bei­trag – nicht zuletzt, weil sie fest­stel­len, dass es sich aus­zahlt, Geflüch­tete zu beschäf­ti­gen. Unser Blick rich­tet sich dabei immer auch auf die­je­ni­gen, die mit beson­de­ren Her­aus­for­de­run­gen zu tun haben: So brin­gen nach Deutsch­land zuge­wan­derte Frauen zahl­rei­che Fähig­kei­ten, Kom­pe­ten­zen und Poten­ziale mit. Gleich­zei­tig brau­chen sie häu­fig viel­schich­tige Unter­stüt­zung bei der Ver­mitt­lung in geeig­nete Qua­li­fi­zie­run­gen und in Arbeit. Hier setzt unser Pro­gramm MY TURN an und trägt mit sei­nen Pro­jek­ten bun­des­weit dazu bei, for­mal gering­qua­li­fi­zierte Frauen mit Migra­ti­ons­er­fah­rung stär­ker als bis­her auf ihrem Weg in den Arbeits­markt zu unterstützen.

Die Feh­ler der Ver­gan­gen­heit dür­fen und wer­den wir nicht wie­der­ho­len! Gelun­gene Inte­gra­tion ist ein wirt­schaft­li­cher Erfolgs­fak­tor: Im ver­gan­ge­nen Jahr wurde der Zuwachs an sozi­al­ver­si­che­rungs­pflich­ti­ger Beschäf­ti­gung in Deutsch­land zu 100 Pro­zent von Aus­län­de­rin­nen und Aus­län­dern getra­gen. Gelun­gene Inte­gra­tion leis­tet aber noch viel mehr: Sie för­dert die Akzep­tanz von Viel­falt, sie baut Brü­cken des Zusam­men­le­bens und stärkt damit immer auch demo­kra­ti­sche Struk­tu­ren und unsere Gesell­schaft ins­ge­samt. Eine sta­bile Demo­kra­tie lebt von Demo­kra­tin­nen und Demo­kra­ten, das klingt wie eine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Dabei ist aller­dings nicht nur an die­je­ni­gen zu den­ken, die in demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen Ver­ant­wor­tung tra­gen. Getra­gen und sta­bi­li­siert wird eine Demo­kra­tie gerade auch von denen, die durch koope­ra­tive Pro­zesse im All­tag und am Arbeits­platz demo­kra­ti­sche Prak­ti­ken gestal­ten, die auch im Klei­nen die Vor­aus­set­zun­gen für eine funk­tio­nie­rende Demo­kra­tie im Gro­ßen schaf­fen. Arbeit ermög­licht des­halb nicht nur Inte­gra­tion und mate­ri­elle Teil­habe. Sie ist, wenn sie fair und teil­nah­me­ori­en­tiert aus­ge­stal­tet wird, immer auch, so hat es der Sozi­al­phi­lo­soph Axel Hon­neth aus­ge­führt, eine Vor­schule der Demo­kra­tie. Arbeit, Inte­gra­tion und Teil­nahme bil­den so einen demo­kra­ti­schen Drei­klang, der unsere Gesell­schaft prägt und eint.

Es war ein Schrift­stel­ler, der die demo­kra­ti­sche Staats­form durch einen Wesens­zug cha­rak­te­ri­sierte, der die­sen Drei­klang nach mei­ner Über­zeu­gung durch ein grund­le­gen­des Motiv ergänzt: „Demo­kra­tie ist im Grunde die Aner­ken­nung, dass wir alle für­ein­an­der ver­ant­wort­lich sind.“ Hein­rich Mann hat die­sen Satz in einer Zeit nie­der­ge­schrie­ben, in der nur noch Wenige beherzt und mutig Wider­stand leis­te­ten gegen die Zer­stö­rung der ers­ten deut­schen Demo­kra­tie. Ich bin sehr zuver­sicht­lich, dass wir heute den rea­len Bedro­hun­gen unse­rer demo­kra­ti­schen Kul­tur mit mehr Schlag­kraft begeg­nen kön­nen. Dabei setze ich auch auf die Arbeit und das groß­ar­tige Enga­ge­ment der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion und die Wir­kungs­macht ihrer Mit­glie­der. Wenn wir gemein­sam han­deln, sind wir fähig, unsere Grund­rechte, unsere Werte und unser demo­kra­ti­sches Gemein­we­sen effek­tiv zu ver­tei­di­gen – und Ver­ant­wor­tung für­ein­an­der zu übernehmen.

 

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 06/2024.

Von |2024-07-04T10:26:52+02:00Mai 31st, 2024|Grundgesetz|Kommentare deaktiviert für

Demo­kra­ti­scher Dreiklang

Rede von Leo­nie Gebers zur Jah­res­ta­gung der Initia­tive kul­tu­relle Integration

ist Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales.